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Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit

Der Antrag auf Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ist begründet, wenn der abgelehnte Richter allein den streitigen Sachvortrag der Beklagten, der streitgegenständliche Verkehrsunfall sei absichtlich herbeigeführt, zum Anlass nimmt, über das gerichtsinterne Verfahrensregister nach vergleichbaren Verfahren zu suchen, an denen der Kläger ebenfalls beteiligt ist, und anschließend die Akten der auf diese Weise gefundenen Rechtsstreitigkeiten beizieht.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.11.2020 – 11 W 35/20

I. Sachverhalt

Der Kläger macht Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls, den der Beklagte schuldhaft verursacht haben soll, geltend. Der Beklagte behauptet im Verfahren, der Kläger habe den Unfall absichtlich herbeigeführt. Dazu hat er zahlreiche Indizien, wie z.B. Spurwechselunfall, Geschwindigkeitserhöhung durch den Kläger, älteres Fahrzeugmodell des Klägers mit zahlreicher Sonderausstattung, Abrechnung auf Gutachtenbasis, mehrfache und erhebliche Vorschäden am klägerischen Fahrzeug, vorgetragen, die seiner Meinung nach für einen fingierten Unfall sprechen. Der später als befangen abgelehnte Richter recherchierte daraufhin im gerichtsinternen Verfahrensregister den Nachnamen des Klägers. Nach Erhalt mehrerer Treffer zu vergleichbaren Verfahren forderte er die Akten an. Er wies dann die Parteien darauf hin, dass er beabsichtige, das Verfahren gemäß § 149 Abs. 1 ZPO auszusetzen und die Akte der Staatsanwaltschaft mit der Bitte um Einleitung von Ermittlungen gegen den Kläger zuzuleiten. Grundlage für die von ihm in dem Beschluss für einen provozierten Verkehrsunfall angeführten Indizien waren u.a. Erkenntnisse aus den beiden beigezogenen Verfahrensakten.

Der Kläger lehnte daraufhin den Richter als befangen ab. Dieser führte in seiner dienstlichen Stellungnahme aus, dass er aufgrund des vom Beklagten erhobenen massiven Vorwurfs frühzeitig habe klären wollen, ob dieser berechtigt oder aus der Luft gegriffen sei. Er habe den Parteien frühzeitig einen entsprechenden Hinweis geben wollen, um den Rechtsstreit bestmöglich auf der sachlichen Ebene zu halten. Das LG hat das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Klägers hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Nach Auffassung des OLG haben aus Sicht des Klägers bei vernünftiger Betrachtung genügend objektive Gründe vorgelegen, die die Befürchtung wecken können, der Richter am Landgericht stehe der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Diese objektiven Gründe seien darin zu sehen, dass der abgelehnte Richter unzulässigerweise von Amts wegen ermittelt hat, um dadurch belastende Indizien zum Nachteil des Klägers zu finden.

Abweichend vom im Zivilprozess herrschenden Beibringungsgrundsatz dürften Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, auch ohne Behauptung durch die Parteien zum Gegenstand des Rechtsstreits gemacht werden (vgl. BGH VersR 2007, 1087; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13.12.2013 – 3 W 147/13; Prütting in MüKo, Kommentar zur ZPO, 6. Auflage, § 291 Rn 13; Dötsch MDR 2011, 1017). Hier sei es so, dass keine der Parteien sich auf die beigezogenen Akten berufen hatte. Es habe sich bei dem Inhalt der beigezogenen Akten auch nicht um sogenannte offenkundige Tatsachen (§ 291 ZPO) gehandelt. Der Akteninhalt sei weder allgemeinkundig noch gerichtskundig gewesen. Die Akten konnten daher nicht ohne Verletzung des Beibringungsgrundsatzes in das Verfahren eingebracht werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Die Entscheidung des OLG ist m.E. zutreffend.

Offenkundige Tatsachen sind einerseits solche, die einer größeren Anzahl von Personen bekannt oder für diese ohne Weiteres (z.B. aus allgemein zugänglichen Nachschlagewerken, Zeitschriften etc.) zuverlässig wahrnehmbar sind. Bei den beigezogenen Gerichtsakten handelt es sich nicht um allgemein zugängliche Quellen und bei ihrem Inhalt nicht um allgemeinkundige Tatsachen. Offenkundig sind andererseits zwar auch solche Tatsachen, die das erkennende Gericht, etwa in einem früheren Verfahren oder aufgrund dienstlicher Mitteilungen, amtlich wahrgenommen hat, sog. gerichtskundige Tatsachen (BAG NZA-RR 2011, 378). Nicht gerichtskundig in diesem Sinne sind jedoch Tatsachen, die dem erkennenden Gericht erst durch neu erworbenes Wissen (etwa durch gezieltes Studium) bekannt werden. So ist es nicht ausreichend, wenn die betreffende Tatsache lediglich ohne Weiteres aus Akten desselben Gerichts ersichtlich, dem erkennenden Gericht aber nicht positiv bekannt ist, sog. aktenkundige Tatsache (Prütting in MüKo, ZPO, 2020, § 291 Rn 9). Ebenfalls genügt es nicht, wenn der Richter die Tatsache selbst positiv nicht gekannt hat, sondern nur weiß, dass es dazu gerichtliche Akten in seiner Behörde gibt, durch deren Einsicht er sich die Kenntnis verschaffen kann. Damit wäre die Grenze zum Urkundenbeweis überschritten, die einen entsprechenden Beweisantritt voraussetzt (BAG, a.a.O.). Hier war die Beteiligung des Klägers an anderen Verkehrsunfällen dem prozessleitenden Richter aus seiner bisherigen amtlichen Tätigkeit nicht bekannt. Vielmehr hat er sich zur Abklärung des von dem Beklagten erhobenen Vorwurfs eigenständig auf die Suche nach weiteren, den Kläger belastenden Indizien gemacht, die er dann auch in seinem Hinweisbeschluss zum Nachteil des Klägers verwertet hat. Die amtswegige Ermittlung durch die Nachforschung im gerichtsinternen Register und das Sammeln von Indizien zum Nachteil des Klägers stellen ausreichende objektive Gründe dar, die auch nach Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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