1. Der Vergleichsmaßstab für die Prüfung eines besonderen Verfahrensumfangs gemäß § 51 RVG ist ausnahmsweise ein durchschnittliches Verfahren aus dem gesamten Spektrum aller erstinstanzlichen Verfahren, wenn ein Staatsschutzverfahren bereits im ersten Hauptverhandlungstermin eingestellt worden ist.
2. Zur Erforderlichkeit einer (ausreichenden) Begründung des Pauschgebührantrags.
(Leitsätze des Gerichts/des Verfassers)
I. Sachverhalt
Pauschgebühr bewilligt
Das OLG hat dem Pflichtverteidiger auf seinen – unbezifferten – Antrag gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 RVG eine Pauschgebühr bewilligt, weil nach seiner Auffassung die gesetzlichen Gebühren nach dem VV RVG wegen des besonderen Umfangs der vorliegenden Strafsache unzumutbar waren.
II. Entscheidung
Besonderer Umfang
1. Nach der Rechtsprechung des OLG sei eine Strafsache besonders umfangreich i.S.d. § 51 Abs. 1 S. 1 RVG, wenn der vom Verteidiger hierfür erbrachte zeitliche Aufwand erheblich über dem Zeitaufwand liege, den er in einer „normalen“ Sache zu erbringen habe (OLG Celle, Beschl. v. 2.3.2011 – 1 ARs 84/10 P). Allerdings stelle die Bewilligung einer Pauschgebühr die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung müsse sich deshalb bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls von sonstigen – auch überdurchschnittlichen – Sachen in exorbitanter Weise abheben (BGH, Beschl. v. 1.6.2015 – 4 StR 267/11, NJW 2015, 2437). Entscheidendes Kriterium sei dabei das Gesamtgepräge des Verfahrens (OLG Celle, Beschl. v. 2.3.2011 – 1 ARs 84/10 P).
Konkreter Fall
Hieran gemessen lagen nach Auffassung des OLG die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 S. 1 RVG vor. Das Verfahren sei wesentlich dadurch geprägt, dass es bereits im ersten und einzigen Hauptverhandlungstermin vorläufig eingestellt worden sei. Der Schwerpunkt des vom Antragsteller erbrachten Arbeitsaufwands habe deshalb in der Einarbeitung und in der Verfahrensbearbeitung außerhalb der Hauptverhandlung gelegen. Dies habe zur Folge, dass zur Prüfung eines besonderen Umfangs der Sache und eines besonderen Arbeitsaufwands des Verteidigers ausnahmsweise nicht auf einen Vergleich mit anderen Staatsschutzverfahren abgestellt werden könne. Denn diese seien üblicherweise durch eine große Anzahl an Sitzungstagen geprägt. In solchen Verfahren schlage sich regelmäßig ein besonderer Einarbeitungsaufwand, die Komplexität des Verfahrens sowie der Umfang der Akten gerade in der Anzahl und Dauer der Hauptverhandlungstage nieder und führe dadurch zumindest mittelbar zu einer höheren Vergütung des Verteidigers (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 7.3.2024 – 2 ARs 10/22, AGS 2024, 262). Dies wirke sich umso mehr aus, als die Terminsgebühr für den Pflichtverteidiger in Staatsschutzverfahren (Nr. 4120 VV RVG) deutlich höher sei als in gewöhnlichen Verfahren vor der Strafkammer (Nr. 4114 VV RVG).
I.d.R. größerer Umfang von Staatsschutzverfahren hier nicht maßgeblich …
Im vorliegenden Ausnahmefall finde der typischerweise größere Umfang von Staatsschutzverfahren demgegenüber in den gesetzlichen Gebühren kaum Berücksichtigung, weil nur eine einzige Terminsgebühr entstanden sei und die Tätigkeit des Antragstellers ganz überwiegend im Anwendungsbereich der Grundgebühr und der Verfahrensgebühren erfolgt sei. Die Höhe der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und der Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren Nr. 4104 VV RVG unterscheide sich in Staatsschutzverfahren indes nicht von anderen Strafverfahren, selbst wenn diese letztlich vor dem Strafrichter verhandelt werden. Die Verfahrensgebühr für das gerichtliche Verfahren sei in Staatsschutzsachen Nr. 4118 VV RVG zwar mehr als doppelt so hoch wie in Verfahren vor dem AG Nr. 4106 VV RVG und in gewöhnlichen Strafkammerverfahren nach Nr. 4112 VV RVG. Der absolute Unterschied liegt aber bei lediglich bei rund 200 EUR. Er bilde deshalb ersichtlich nicht den für Staatsschutzverfahren typischen Aufwand für das Studium umfangreicher Akten ab (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 201).
… sondern Vergleich mit durchschnittlichen Verfahren
Daraus folgt, dass im vorliegenden Verfahren – das durch die Tätigkeit vor der Hauptverhandlung geprägt sei – für die Prüfung gemäß § 51 Abs. 1 RVG als Vergleichsmaßstab ausnahmsweise nicht der Umfang eines typischen Staatsschutzverfahrens herangezogen werden könne, sondern dieses Verfahren mit einem durchschnittlichen Verfahren aus dem gesamten Spektrum aller erstinstanzlichen Verfahren einschließlich solcher vor dem AG verglichen werden müsse. Angesichts der mehr als 70-seitigen Anklageschrift, der beträchtlichen Anzahl an Aktenbänden und der Einschätzung des Vorsitzenden der Staatsschutzkammer zum Verfahrensumfang stehe dabei außer Frage, dass sich das vorliegende Verfahren nach diesem Maßstab exorbitant von durchschnittlichen Verfahren abhebe und besonders umfangreich gewesen sei. Die gesetzlichen Gebühren würden sich in Anbetracht des Verfahrensumfangs als unzumutbar niedrig erweisen.
636 EUR bewilligt
Das OLG hat dann eine Pauschgebühr von 636 EUR bewilligt. Damit werde der gesetzliche Gebührenanspruch im Ergebnis um den Betrag erhöht, mit dem nach dem gesetzlichen VV RVG ein zusätzlicher Arbeitstag des Verteidigers im Rahmen einer Hauptverhandlung vergütet würde (Nr. 4120, 4122 VV RVG a.F.). Damit sei zumindest das Durcharbeiten der umfangreichen Anklageschrift sowie die grobe Sichtung der Akten angemessen abgegolten.
Fehlende Antragsbegründung
Die Bewilligung eines höheren Pauschbetrags, namentlich zur Abgeltung eines intensiven Studiums der Verfahrensakten, kam hingegen nach Auffassung des OLG nicht in Betracht. Denn dies hätte nähere Darlegungen des Antragstellers dazu erfordert, welche Teile der Nebenakten nach Sichtprüfung zur Vorbereitung einer ordnungsgemäßen Verteidigung genauer studiert werden mussten (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.5.2016 – III-3 AR 118/16; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, § 51 Rn 70 m.w.N.). Der Antragsteller habe jedoch trotz des diesbezüglichen Hinweises in der Stellungnahme der Bezirksrevisorin keine substantiierten Angaben hierzu gemacht, sondern ausdrücklich von einer ausführlichen sachlichen Auseinandersetzung mit der Stellungnahme abgesehen. Seine vorgelegte Zeitübersicht könne solche Darlegungen nicht ersetzen. Denn sie betreffe nur rund 1.370 Minuten und damit lediglich einen Bruchteil des vom Antragsteller angegebenen Gesamtaufwands von rund 70 Stunden, insbesondere die wiederholte „Postbearbeitung“. Die Übersicht passe zudem nicht zum Antragsvorbringen, wonach diese 1.370 Minuten „den eher organisatorischen Teil“ betreffen sollen und daneben weitere zehn Stunden für Kommunikation u.a. mit dem Mandanten angefallen sein sollen, denn in der Übersicht finde sich auch der Aufwand für ein langes Mandantengespräch. Die Übersicht stelle deshalb keine taugliche Grundlage für eine tragfähige Einschätzung des zum Aktenstudium erforderlichen Aufwands dar. Bei der Bemessung der Pauschgebühr habe deshalb nur der Aufwand berücksichtigt werden können, der sich ohne Weiteres bereits aus der Verfahrensakte erschließe; dem Gericht obliege es nicht, nach tatsächlichen Anhaltspunkten für den Arbeitsaufwand des Anwalts in den Sachakten zu suchen oder hierüber zu mutmaßen (OLG Koblenz, Beschl. v. 12.3.2012 – 1 AR 43/11).
III. Bedeutung für die Praxis
Argumentation des OLG passt nicht …
1. Der Beschluss lässt mich – zumindest teilweise – ein wenig ratlos zurück. Denn ich kann nicht so richtig nachvollziehen, warum das OLG hier als Vergleichsmaßstab auf alle erstinstanzlichen Verfahren abstellt. Maßgeblich sind für eine Pauschgebühr doch die Umstände dieses Verfahrens. Die sind maßgeblich und nicht irgendwelche anderen Staatsschutzverfahren. Damit hat hier zwar nur ein Hauptverhandlungstermin stattgefunden. Aber das reduziert doch die grundsätzliche Einarbeitungszeit des Pflichtverteidigers nicht. Daher passt die Argumentation, worauf in anderen „Staatsschutzverfahren“ abgestellt wird, nicht. Entscheidend ist der Umfang dieses Verfahrens und angesichts einer mehr als 70-seitigen Anklageschrift und „der beträchtlichen Anzahl an Aktenbänden“ und der offenbar vorliegenden Einschätzung des Vorsitzenden der Staatsschutzkammer zum Verfahrensumfang erscheint mir die bewilligte Pauschgebühr doch recht mager.
Hinweis auf fehlende weitere Begründung zutreffend
2. Aber daran trägt der Pflichtverteidiger zum Teil selbst die Schuld. Denn zutreffend ist es, wenn das OLG darauf hinweist, dass der Pflichtverteidiger seinen Pauschgebührantrag begründen muss. Das ist hier – trotz eines Hinweises der Vertreterin der Staatskasse – nicht geschehen. Dazu bestand aber umso mehr Anlass, als die vorliegende Antragsbegründung offenbar widersprüchlich und unvollständig war. Da hätte also nachgearbeitet werden müssen. Wenn man das als Pflichtverteidiger nicht tut, muss man sich nicht wundern, wenn dann die Pauschgebühr nur mager ausfällt. Allerdings: Ich folge dem OLG nicht, wenn es unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Koblenz (OLG Koblenz, Beschl. v. 12.3.2012 – 1 AR 43/11) meint, das Gericht müsse nicht nach tatsächlichen Anhaltspunkten für den Arbeitsaufwand des Pflichtverteidigers in den Sachakten suchen oder hierüber mutmaßen. „Mutmaßen“ muss es nicht, das ist richtig, aber die Akten lesen und dabei auf tatsächliche Anhaltspunkte für den Arbeitsaufwand achten, das muss es m.E. schon.