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Bestimmtheit der Anordnung des Selbstleseverfahrens

Die Anordnung des Selbstleseverfahrens muss die hiervon betroffenen Urkunden so genau bezeichnen, dass den Mitgliedern des Spruchkörpers und den Verfahrensbeteiligten keine eigene Subsumtion unter unbestimmte Begriffe sowie unter rechtlich im Einzelnen umstrittene Verlesungsvorschriften der StPO überantwortet wird.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 14.11.20243 StR 289/23

I. Sachverhalt

Selbstleseverfahren

Der Strafkammervorsitzende ordnete 13 Selbstleseverfahren an. Die Anordnungen beinhalteten jeweils eine Liste von Blattzahlen aus den Sachaktenbänden. Diese Aufstellungen betrafen eine Vielzahl von Einzelurkunden und Urkundenkonvoluten im Umfang von insgesamt deutlich über 9.000 Seiten, bei denen es sich ganz überwiegend um verschriftete und in die deutsche Sprache übersetzte Gesprächsprotokolle der Telekommunikationsüberwachung sowie Textnachrichten handelte. Darüber hinaus bezogen sich die Verzeichnisse unter anderem auf von Polizeibeamten erstellte Auswertevermerke, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokolle der niederländischen Strafverfolgungsbehörden, Identifizierungsvermerke zu den Abnehmern, Gesprächsprotokolle in fremder Sprache, Observationsberichte und behördliche Gutachten mit Lichtbildern sowie Urteilsabschriften. Die Anordnungen lauteten auszugsweise wie folgt: „Folgende Urkunden sowie Erklärungen von Behörden und Sachverständigen sollen gemäß § 249 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO Gegenstand des Selbstleseverfahrens werden. Soweit Vernehmungsinhalte in den Urkunden wiedergegeben werden, sind diese Inhalte vom Selbstleseverfahren ausgenommen …“. Lichtbilder und Texte in niederländischer Sprache ohne Übersetzung wurden ausgenommen. Im einem weiteren Hauptverhandlungstermin stellte der Vorsitzende fest, dass alle in das Selbstleseverfahren einbezogenen Ordner und Fallakten in der Zeit zwischen den beiden Terminen für die Kammermitglieder und alle übrigen Verfahrensbeteiligten zur Einsichtnahme bereitlagen, die Richter und Schöffen vom Wortlaut der entsprechenden Urkunden Kenntnis genommen sowie die Angeklagten, ihre Verteidiger und die StA Gelegenheit hierzu hatten. Die Verfahrensrügen hierzu blieben erfolglos.

II. Entscheidung

Grundlagen zur hinreichenden Bestimmtheit

Ordnet der Vorsitzende die Selbstlesung von Urkunden nach § 249 Abs. 2 StPO an, müsse deren – aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ersichtliche (§ 273 Abs. 1 StPO) – Bezeichnung so genau sein, dass sie identifizierbar sind. Bei umfangreichen Konvoluten könne eine zusammenfassende und pauschale Benennung der Dokumente genügen. Durch das Bestimmtheitserfordernis solle sichergestellt werden, dass über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung kein Zweifel entstehen kann. Die Urkunden seien daher dergestalt zu bezeichnen, dass sie ohne Weiteres individualisiert werden können und keine Missverständnisse auftreten. Die Verfahrensbeteiligten sollten so darauf hingewiesen werden, dass der außerhalb der Hauptverhandlung in der Sonderform des § 249 Abs. 2 StPO gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung i.S.d. § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Können sie nach dem Wortlaut der Anordnung die Urkunden leicht identifizieren, die zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden, sei die Anordnung hinreichend bestimmt (BGH NJW 2010, 3382; NStZ 2019, 422). Wird der Umfang des Selbstleseverfahrens anhand rechtlicher und tatsächlicher Kriterien in abstrakter Form eingeschränkt, könne dies zur Folge haben, dass die eingeführten Urkunden(teile) nicht eindeutig identifiziert und individualisiert werden können. Dies könne etwa der Fall sein, wenn – über eine zulässige zusammenfassende und pauschale Benennung der zu verlesenden Schriftstücke hinaus – den Mitgliedern des Spruchkörpers und den anderen Verfahrensbeteiligten für die Ermittlung des Umfangs der Selbstlesung eine eigene Subsumtion unter unbestimmte Begriffe sowie unter rechtlich im Einzelnen umstrittene Verlesungsvorschriften der StPO überantwortet wird, sodass das Ergebnis der Subsumtion nicht feststellbar ist und damit unklar bleibt.

Hier teilweise fehlerhaft …

An diesem Maßstab gemessen begegneten die Anordnungen über die Durchführung der Selbstleseverfahren teilweise rechtlichen Bedenken. Hinreichend bestimmt sei die vom Vorsitzenden getroffenen Herausnahme von Lichtbildern und von nicht übersetzten Texten in niederländischer Sprache. Auf rechtliche Bedenken stoße allerdings die Benennung von Urkunden mit dem Ausschluss von Vernehmungsinhalten. Möge die Qualifizierung eines Vernehmungsinhalts für die Berufsrichter, die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger noch vorzunehmen sein, sei dies für die – in der Regel nicht juristisch geschulten – Angeklagten, denen die Urkunden überdies durch Dolmetscher übersetzt wurden, und die Schöffen nicht ohne Weiteres möglich. Den Mitgliedern des Spruchkörpers einschließlich der Schöffen sowie den anderen Verfahrensbeteiligten sei eine eigene Subsumtion unter den Begriff des Vernehmungsinhalts überantwortet worden. Ein solches Vorgehen sei im Rahmen der durch das Selbstleseverfahren aus der Hauptverhandlung verlagerten Beweisaufnahme verfahrensfehlerhaft, weil das Ergebnis der Subsumtion nicht feststellbar war und damit unklar blieb. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Mitglieder des Spruchkörpers – bezogen auf Vernehmungsinhalte – Urkunden(teile) in unterschiedlichem Umfang zum Gegenstand der Selbstlesung und damit zur Urteilsgrundlage machten. Insbesondere aber könnten bei den Verfahrensbeteiligten Zweifel über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung entstehen, sodass die Selbstleseanordnung hinsichtlich der Ausnahme der Vernehmungsinhalte ihre dargestellte Hinweiswirkung verfehlte.

… aber das Urteil beruht nicht darauf

Auf diesem Rechtsfehler beruhe das Urteil jedoch nicht (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Unbestimmtheit einer Selbstleseanordnung führe nicht zwangsläufig zu deren Unwirksamkeit im Ganzen. Vielmehr sei das Selbstleseverfahren nur insoweit von diesem Verfahrensfehler betroffen, als die Auslegungszweifel reichen können. Es komme darauf an, ob und inwieweit die Anordnung weiterhin ihre Funktion, die für die Verfahrensbeteiligten erkennbare Bestimmung von Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung von Urkunden, zu erfüllen vermag. In dem Ausmaß, in dem solche Zweifel nicht bestehen, wirke sich der Verfahrensfehler – als bloßer Formalverstoß – nicht aus. Angesichts des erheblichen Umfangs der in Rede stehenden Selbstleseverfahren und des Umstands, dass die Strafkammer ihre Überzeugung maßgeblich auf die verschrifteten und übersetzten Inhalte der Telekommunikation zwischen den Angeklagten und den gesondert Verfolgten gestützt hat, lasse sich ausschließen, dass sie ohne den Verfahrensfehler zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Es habe für alle Verfahrensbeteiligten unzweideutig festgestanden, dass diese Inhalte keinen Bezug zu Vernehmungen einschließlich formloser Befragungen (BGH NJW 2010, 3383) aufwiesen und somit von den Selbstleseanordnungen erfasst waren. Blieben die Urkundenteile außer Betracht, bei denen die Qualifizierung eines Vernehmungsinhalts fraglich ist, wäre trotzdem nicht zweifelhaft, dass sich die Strafkammer von den tatsächlichen Umständen überzeugt hätte, die den Schuld- und Rechtsfolgenaussprüchen zugrunde liegen. Der Beschluss des 5. Strafsenats (NStZ 2022, 504) widerspreche der hier vorgenommenen einzelfallbezogenen Differenzierung nicht. Denn die dort beurteilte Selbstleseanordnung habe in weitaus größerem Umfang auf unbestimmte Begriffe und insbesondere mehrere Rechtsvorschriften verwiesen („schriftliche Erklärungen i.S.d. § 250 StPO“, „insoweit Gegenstand …, als dies durch § 256 Abs. 1 Nr. 1, 5 StPO gestattet wird“). Dementsprechend werde sie in dem Beschluss als insgesamt rechtlich defizitär bewertet.

III. Bedeutung für die Praxis

Nachvollziehbar, aber Divergenz bleibt

Urkunden können auf drei Wegen förmlich in die Hauptverhandlung eingeführt werden: durch Verlesung (§ 249 Abs. 1 StPO), im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) sowie durch den im engen Rahmen von der Rechtsprechung anerkannten Bericht des Vorsitzenden über den Urkundeninhalt (hierzu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 249 Rn 25 ff.). Das Selbstleseverfahren dient der Beschleunigung der Hauptverhandlung, ist aber fehleranfällig (aktuell zur Beteiligung der Nebenklage BGH NJW 2024, 2475 = StRR 10/2024, 17 [Deutscher]; weiter Schmitt, a.a.O., § 249 Rn 32 m.w.N.). Auch besteht die Gefahr, dass nicht mehr randscharf festzustellen ist, was dabei zum Gegenstand der Hauptverhandlung geworden ist. Dies wird gesichert durch das Erfordernis der Bestimmtheit der Anordnung zum Umfang. Hierauf weist der 3. Senat in dem vorliegenden Beschluss hin, wobei die Beurteilung zum unbestimmten Ausschluss von Vernehmungsurkunden überzeugt. Die Erwägungen zur Frage des Beruhens des Urteils auf dem Fehler sind angesichts des geringen Anteils der fehlerhaften Verlesung am Gesamtvolumen vertretbar. Ohnehin ist der BGH beim Selbstleseverfahren recht großzügig bei der Beruhensfrage (BGHSt 65, 155 = NJW 20221, 479 = StRR 7/2021, 14 [Deutscher]; Unterlassen der Bescheidung eines Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren). Ist der Anteil der Unbestimmtheit quantitativ höher als hier, kann dies zum Erfolg der Revision führen (BGH NStZ 2022, 504).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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