1. Entscheidend für die Berechnung des Gegenstandswerts für die Nr. 4142 VV RVG ist nicht, in welcher Höhe die Staatsanwaltschaft am Ende der Beweisaufnahme eine Einziehung für gerechtfertigt hält, sondern vielmehr, welcher Betrag durch die Anklageerhebung zum Verfahrensgegenstand gemacht wird.
2. Zur Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO in erstinstanzlichen Verfahren.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
In der Anklage 39.292 EUR „Einziehungsbetrag“
Gegen den Angeklagten war ein Verfahren wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit neuen psychoaktiven Stoffen anhängig. Deswegen hat die Staatsanwaltschaft beim AG Anklage erhoben. Sie hat dem Angeklagten vorgeworfen, in der Zeit von September 2018 bis April 2019 für einen gesondert Verfolgten … als sog. Umverpacker für synthetische Cannabinoide tätig gewesen zu sein. Der Angeklagte soll anfangs täglich 10 bis 20 und später bis zu 80 Bestellungen bearbeitet und an nicht mehr zu ermittelnde Abnehmer versandt haben. Der Angeklagte habe für seine Tätigkeit 0,25 EUR pro verpackte Bestellung sowie anfangs eine Grundentlohnung in Höhe von 1.000 EUR monatlich, später 1.900 EUR monatlich erhalten. Insgesamt habe der Angeklagte 39.282 EUR erhalten.
Eingezogen werden 3.950 EUR
In der Anklageschrift vom 22.11.2022 wird hinsichtlich einer etwaigen Einziehung ausgeführt: „… wobei die sichergestellten, die Tat betreffenden Gegenstände und das sichergestellte Dealgeld der Einziehung unterliegen und hinsichtlich des durch die Tat erlangten Geldbetrags die Einziehung des Wertersatzes anzuordnen ist“. In der Anklageschrift sind 350 Gegenstände als Überführungs- und Einziehungsgegenstände bezeichnet, darunter insbesondere 3.950 EUR Bargeld, zwei Laptops, drei Tablets der Firmen Samsung und Apple sowie fünf iPhones.
Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung vor dem AG auf die Rückgabe der vorgenannten Gegenstände verzichtet. Der Verzicht wurde durch den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft angenommen. Ferner beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung lediglich noch die Einziehung eines Betrags in Höhe von 3.950 EUR.
Kosten und Auslagen vollständig beim Angeklagten
Das AG hat den Angeklagten wegen der ihm zur Last gelegten Tat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Daneben hat es die Einziehung der Bargeldsumme in Höhe von 3.950 EUR angeordnet und dem Angeklagten sowohl die Kosten des Verfahrens als auch dessen notwendige Auslagen vollständig auferlegt. In der schriftlichen Urteilsbegründung hat das AG ausgeführt, dass die Kostenentscheidung auf § 465 Abs. 1 StPO beruhe und sich daraus ergebe, dass der Angeklagte verurteilt worden sei. Zur Einziehung wird ausgeführt, dass die Einziehung des Bargelds gem. § 73 Abs. 1 StGB anzuordnen gewesen sei, es komme nicht darauf an, ob der Angeklagte die Summe als Entlohnung, zum Ausgleich oder aber als Vorschuss für Spesen erhalten habe.
LG ändert auf 1/10 Angeklagter, 9/10 Staatskasse ab
Der Angeklagte hat gegen die Kostenentscheidung sofortige Beschwerde eingelegt. Nach seiner Auffassung sind die auf die Nichteinziehung entfallenden Kosten sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Hinblick auf die erreichte Nichteinziehung gemäß § 465 Abs. 2 StPO analog der Staatskasse aufzuerlegen. Die Verteidigergebühr sei anhand eines Verfahrenswerts von 39.282 EUR zu bestimmen, da mit der Anklageschrift die Einziehung dieses Betrags beantragt worden sei. Im Hinblick auf den deutlich geringeren Einziehungsbetrag sei die Verteidigung in diesem Punkt zu 9/10 erfolgreich gewesen. Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Das LG hat die Kostenentscheidung des AG dahin abgeändert, dass die Staatskasse 9/10 der im erstinstanzlichen Verfahren hinsichtlich der Einziehung entstandenen Auslagen und insoweit auch der notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen hat.
II. Entscheidung
Berücksichtigung des Teilerfolgs der Verteidigung
Die Beschwerde war nach Ansicht des LG begründet, da bei der Kostentscheidung entgegen § 465 Abs. 2 StPO analog der Teilerfolg der Verteidigung hinsichtlich des ursprünglich verfahrensgegenständlichen Einziehungsbetrags durch das AG nicht berücksichtigt worden ist.
Gegenstandswert
Zunächst stellt das LG fest, dass entgegen der von der Staatsanwaltschaft in der Beschwerdeerwiderung vertretenen Auffassung ein potenzieller Einziehungsbetrag von 39.282 EUR verfahrensgegenständlich geworden sei. Entscheidend für die Berechnung sei nicht, in welcher Höhe die Staatsanwaltschaft am Ende der Beweisaufnahme eine Einziehung für gerechtfertigt halte, sondern vielmehr, welcher Betrag durch die Anklageerhebung zum Verfahrensgegenstand gemacht werde. Der Gegenstandswert bestimme sich dabei nach dem objektiven Gegenstandswert, maßgeblich folglich nach dem Nominalwert einer titulierten Einziehungsforderung (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 26. Aufl. 2023, VV 4142 Rn 19). Aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ergebe sich hier unzweifelhaft, dass die Anordnung der Einziehung des „durch die Tat erlangten Geldbetrags“ sowie der die Tat betreffenden Gegenstände als auch des „Dealgelds“ beabsichtigt werde. Schon aus der Formulierung („Dealgeld“ einerseits, erlangter Geldbetrag andererseits) ergebe sich jedenfalls im Zusammenhang mit dem konkreten Anklagevorwurf, dass neben dem „Dealgeld“ (3.950 EUR) auch der „Verdienst“ eingezogen werden solle und der Einziehungsbetrag durch die Staatsanwaltschaft mit 39.282 EUR beziffert worden ist. Daneben sollten auch noch zahlreiche weitere Gegenstände eingezogen werden.
Quotelung
Da mit dem Urteil des AG also nur ein Teilbetrag dessen einzogen worden sei, was ursprünglich Verfahrensgegenstand gewesen sei, liege jedenfalls ein Teilerfolg der Verteidigung vor. Zutreffend führe die Staatsanwaltschaft insoweit zwar aus, dass es sich dabei um keinen unmittelbaren Anwendungsfall des § 465 Abs. 2 StPO handele. Es sei jedoch der Grundgedanke des § 465 Abs. 2 StPO zur Anwendung zu bringen. Denn dem gesamten Kostenrecht sei das Veranlassungsprinzip immanent. Gleichwohl würden die Kostenregelungen eine unbeabsichtigte Regelungslücke aufweisen. Denn das Kostenrecht sehe insgesamt abtrennbare Gebühren insbesondere für die Einziehungsentscheidung vor, eine gesetzliche Grundlage, um einem Teilerfolg der Verteidigung hinsichtlich der „Nebenentscheidung Einziehung“ bei gleichzeitiger (vollumfänglicher) Verurteilung wegen der Tat Geltung zu verschaffen, fehle indes. Diese sachlich nicht zu rechtfertigende Regelungslücke lasse sich durch die Anwendung des Rechtsgedankens des § 465 Abs. 2 StPO schließen, indem eine Quotelung hinsichtlich der wegen der Einziehungsentscheidung anfallenden Gebühr vorgenommen werde (BGH, Beschl. 6.10.2021 – 1 StR 311/20, AGS 2022, 369).
Die vom BGH im Beschluss vom 6.10.2021 dargelegten Grundsätze lassen sich nach Auffassung des LG entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft auch auf erstinstanzliche Verfahren übertragen. Zwar betreffe die Entscheidung ein Revisionsverfahren. Gleichwohl prüfe der BGH selbst auch die Abänderung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung. Die Abänderung werde offenbar auch für zulässig gehalten, denn abgelehnt werde eine Abänderung mit der Begründung, dass die angefochtene Quotelung aus Billigkeitsgründen nicht notwendig sei, da der Erfolg unterhalb von 10 % liege (BGH, a.a.O.).
Nach diesen Grundsätzen sei die beantrage Quotelung vorzunehmen. Denn der Beschwerdeführer habe im Hinblick auf den Einziehungsbetrag lediglich in Höhe von 1/10 des gegenständlichen Betrages zum Verfahren Anlass gegeben. Dies ergebe sich aus den Feststellungen des AG in seinem Urteil. Denn das AG habe festgestellt, dass der Angeklagte aufgrund seiner Tat eine Entlohnung und Spesen erhalten habe, die Höhe sich jedoch nicht mehr feststellen lasse. Das AG konnte allein feststellen, dass das eingezogene Bargeld „unzweifelhaft“ aus der angeklagten Tätigkeit stamme. Die Veranlassung hinsichtlich des weitergehend durch die Staatsanwaltschaft zum Verfahrensgegenstand gemachten Einziehungsbetrages erfolgte folglich nicht durch den Angeklagten, sodass diese Kosten der Staatskasse zur Last fallen.
Auch die Berücksichtigung des Verzichts auf die zahlreichen weiteren Gegenstände könne schließlich eine Abweichung von der beantragten Quotelung nicht rechtfertigen. Im Strafprozess sei gewöhnlich keine exakte Quotelung vorzunehmen (BGH a.a.O.). Die Gegenstände seien jedenfalls gebührenrechtlich überwiegend ohne Wert anzusetzen, der Wert der elektronischen Geräte könne allenfalls geschätzt werden und könne eine Abweichung von der Quotierung der Nominalbeträge nicht begründen.
III. Bedeutung für die Praxis
Eine schöne und m.E. für Verteidiger wichtige Entscheidung. Beide „Streitpunkte“ hat das LG zutreffend zugunsten des Angeklagten und seines Verteidigers entschieden.
Wer die Musik bestellt, muss sie bezahlen
1. Hinsichtlich des Gegenstandswerts gilt der allgemeine Satz: Wer die Musik bestellt, muss sie bezahlen, bzw.: Es kommt für den Gegenstandswert, der der Berechnung der Nr. 4142 VV RVG zugrunde zu legen ist, nicht darauf an, welchen Antrag die Staatsanwaltschaft letztlich gestellt hat oder welcher Betrag vom Gericht ggf. eingezogen worden ist. Entscheidend ist vielmehr die Höhe des Einziehungsanspruchs, dessen sich die Staatsanwaltschaft zugunsten der Staatskasse berühmt hat. Ist der zu hoch bzw. lässt er sich nicht nachweisen, geht das (finanzielle) Risiko zu Lasten der Staatskasse mit der Folge, dass von dem Einziehungsbetrag auszugehen ist, den die Staatsanwaltschaft ins Spiel gebracht hat, auch wenn er sich nachträglich als zu hoch erwiesen hat. Das ist auch nur angemessen, denn der Angeklagte musste sich gegen diesen (zu) hohen Betrag verteidigen und muss insoweit seinen Verteidiger über die Nr. 4142 VV RVG entlohnen (so auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4142 VV Rn 29 ff., 32 m.w.N. aus der Rechtsprechung).
Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO
2. Zutreffend sind auch die Überlegungen, die das LG hinsichtlich einer (teilweisen) Kostenübernahme durch die Staatskasse betreffend die Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG anstellt. Hinsichtlich der Einziehung hat der Angeklagte zu 9/10 obsiegt, wenn man dem LG auch wegen Wertbemessung der weiteren Gegenstände, die eingezogen worden sind, folgt, was nicht unbedingt zwingend ist. Hat der Angeklagte aber in diesem Umfang obsiegt, dann ist in der Tat nicht einzusehen, warum er dann nicht auch seine insoweit entstandenen Kosten gegenüber der Staatkasse geltend machen können soll. Und da ist der Rechtsgedanke des § 465 Abs. 2 StPO der richtige Ansatzpunkt. Den insoweit überzeugenden Ausführungen des LG ist im Hinblick auf den angeführten BGH-Beschluss vom 6.10.2021 nichts hinzuzufügen. Es gibt keinen Grund, die vom BGH für das Revisionsverfahren entwickelten Grundsätze nicht auch auf das erstinstanzliche Verfahren anzuwenden (vgl. noch BGH, Beschl. v. 25.2.2021 – 1 StR 423/20, NJW 2021, 1829 = AGS 2021, 287 und auch BayObLG, Beschl. v. 27.10.2023 – 204 StRR 394/23, AGS 2024, 38).
Muss man als Verteidiger im Blick haben
3. Verteidiger müssen in Verfahren, in denen Einziehungsfragen eine Rolle spielen und letztlich geringere Summen eingezogen werden als ggf. zunächst von der Staatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsprechung des BGH, des BayObLG und auch des LG Braunschweig im Blick haben und die ergehenden Kostenentscheidungen sorgfältig daraufhin prüfen, ob sie einen Erfolg bei der Einziehung angemessen berücksichtigen und der Staatskasse einen Teil der insoweit entstandenen Kosten auferlegen. Das ist insofern von Bedeutung, weil der Angeklagte und sein Verteidiger, wenn sie hinsichtlich der Einziehung Kostenerstattungsansprüche geltend machen, ggf. nicht an die sich bei der Wertgebühr der Nr. 4142 VV RVG für einen Pflichtverteidiger aus § 49 RVG ergebenden Begrenzung gebunden sind. Vielmehr gilt dann die Tabelle zu § 13 RVG (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 4142 Rn 40).