1. Verdunkelungsgefahr i.S.d. weit auszulegenden § 119 Abs. 1 S. 1 StPO besteht in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einem Tatbeteiligten oder zwischen ihm und einer Beweisperson besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. In diesen Fällen liegt nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand.
2. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung Feststellungen nur unter erneuter Heranziehung der Beweismittel getroffen werden können, besteht Verdunkelungsgefahr bei unkontrolliertem Informationsaustausch regelmäßig fort. Daran ändert die Möglichkeit, Inhalte von Zeugenaussagen durch mittelbare Zeugen einzuführen, nichts.
3. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung angeordneter Beschränkungen ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang zukommt.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Urteil in Abwesenheit der Betroffenen
Die Angeklagte, die am 11.12.2023 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt wurde und über deren Revision noch nicht entschieden ist, befindet sich seit März 2023 in Untersuchungshaft. Sie bestreitet die Tatbegehung. Der Haftrichter hatte ausgehend vom Haftgrund der Fluchtgefahr Haftbefehl wegen Totschlags erlassen und für den Vollzug der Untersuchungshaft Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO, u.a. die Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen, angeordnet. Der Vorsitzende des Schwurgerichts hat den Antrag der Angeklagten auf Aufhebung dieser Beschränkungen abgelehnt. Ihre hiergegen gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg.
II. Entscheidung
Ausgangspunkt
Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO seien zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, 8.2.2022 – 1 Ws 21/22). Für diese Beurteilung seien nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden könnten auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart a.a.O.). Insbesondere seien Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG StV 2010, 370; OLG Celle NStZ-RR 2010, 159). Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genüge die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedürfe es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG a.a.O.; KG NStZ-RR 2014). Solche Anhaltspunkte erforderten aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 25.1.2024 – 7 Ws 242/23) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen. Vielmehr könnten zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur Last gelegten Tat(en) herangezogen werden. Ebenso dürfe auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden. So sei etwa anerkannt, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind. Umso mehr gelte dies, wenn Berührungspunkte zu Angehörigen und Freunden bestehen, sodass nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt a.M., Beschl. vom 16.11.2023 – 7 Ws 207/23).
Schwere Kriminalität, kein Geständnis
Danach bestehe Verdunkelungsgefahr i.S.d. § 119 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis entweder zwischen einem Untersuchungsgefangenen und einem bzw. weiteren Tatbeteiligten oder zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einer oder mehreren Beweispersonen besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind und/oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine zentrale oder jedenfalls nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. Dies gelte nicht nur bei terroristischen Straftaten, Bandendelikten, Clan-Kriminalität und Formen der organisierten Kriminalität, sondern allgemein für gewichtige Vorwürfe, namentlich von Verbrechenstatbeständen. In diesen Fallgruppen liege bei fehlendem Geständnis und einem Näheverhältnis im oben dargelegten Sinne nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand, die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne Weiteres rechtfertigt. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um ein Näheverhältnis unter Tatbeteiligten oder zu im Hauptverfahren zu vernehmenden Zeugen, deren Aussagen nach den Ermittlungsergebnissen eine nicht nur unwesentliche Bedeutung zukommt, handelt. Denn in Fällen schwerer Kriminalität bestehe eine Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung nicht nur bei unkontrolliertem Informationsaustausch zwischen nicht geständigen Tatbeteiligten untereinander, sondern ebenso, wenn der Untersuchungsgefangene unüberwacht mit Dritten oder über Dritte kommunizieren könnte. Die Praxis zeige, dass Untersuchungsgefangene immer wieder versuchen, ihnen nahestehende Zeugen – auch unter Einsatz von Drohungen – dahin zu beeinflussen, sich allein im Interesse des Inhaftierten auf die Rechte aus §§ 52, 55 StPO zu berufen, von diesen Rechten in einer bestimmten Weise Gebrauch zu machen oder sich bei Dritten für ein bestimmtes Aussageverhalten einzusetzen. Auch der Zweck der Untersuchungshaft und der sie flankierenden Anordnungen gebiete es, die Verdunkelungsgefahr i.S.d. § 119 Abs. 1 S. 1 StPO weit auszulegen und der Vorschrift einen breiten Anwendungsbereich zu verschaffen, zumal der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 119 StPO keine inhaltliche Einschränkung der Überwachungsmöglichkeiten beabsichtigte. Neben der Gewährleistung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten im Strafverfahren zielten die Haftanordnung und die Beschränkungen darauf ab, eine – im Falle unkontrollierten Informationsaustauschs mit nahestehenden Dritten naheliegende – Störung der Tatsachenermittlungen durch Beweiserschwerung oder -vereitelung zu verhindern (KG NStZ-RR 2014, 377). All dies spreche ferner dafür, die Anforderungen an die Begründung für angeordnete Beschränkungsmaßnahmen nicht zu überspannen.
Nicht rechtskräftiges Urteil ändert nichts
An alldem vermöge ein bereits ergangenes nicht rechtskräftiges Urteil nichts zu ändern. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung erneut die verfügbaren Beweismittel herangezogen werden müssen, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, bestehe bei unkontrolliertem Informationsaustausch die Verdunkelungsgefahr regelmäßig fort, sodass Beschränkungsanordnungen unverändert erforderlich sind. Denn dass ein nicht geständiger Angeklagter aufgrund von Beweismitteln verurteilt wurde, spreche nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr (OLG Frankfurt a.M., Beschl. vom 16.11.2023 – 7 Ws 207/23). Anders verhalte es sich nur dann, wenn der Sachverhalt in vollem Umfang und durch gesicherte Beweise in einer Weise aufgeklärt ist, dass der Angeklagte die Wahrheitsermittlung nicht mehr erfolgreich wird behindern können. Die Erwägung, eine Verdunkelungsgefahr könnte nach einem ergangenen Urteil schon deshalb entfallen, weil Inhalte bisheriger Zeugenaussagen durch Bekundungen der am Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte eingeführt werden können (offengelassen von KG, BeckRS 2022, 38740), überzeuge nicht und ließe den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr leerlaufen. Verfahrensbeteiligte vorangegangener Instanzen böten als Zeugen vom Hörensagen schon keinen vollwertigen Ersatz für die Vernehmung unmittelbarer Zeugen. Der Senat habe bei alledem weder die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht gelassen noch verkannt, dass bis zur Rechtskraft des Urteils für Untersuchungsgefangene die Unschuldsvermutung gilt und die Beschränkungen deren Grundrechte tangieren. Allerdings sei zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang zukommt (BVerfGE 133, 168 = NJW 2013, 1058, 1060) und Beschränkungen in Form von Überwachungen der Außenkontakte nur einen vergleichsweise geringfügigen Eingriff darstellen, da Kontakt und Kommunikation des Untersuchungsgefangenen gerade nicht unterbunden werden.
III. Bedeutung für die Praxis
Ansatz widersprüchlich, Ergebnis vertretbar
Der vom OLG Stuttgart dargelegte Faktenbefund entspricht der Praxis. Die Krux in Fällen wie diesem ist aber, dass für Angeklagte bis zur rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung streitet und sie das Recht des Schweigens und des Bestreitens haben, zugleich aber auch eine effektive Strafverfolgung durch ungestörte Tatsachenfeststellung gewährleistet sein muss. Dies spiegelt sich in folgendem Widerspruch wider: Einerseits reicht die bloße Möglichkeit der Gefährdung eines Haftzwecks nicht aus, es sind konkrete Anhaltspunkte erforderlich. Andererseits soll abstrakt bereits die „allgemeine kriminalistische Erfahrung“ ausreichend zur Begründung von Beschränkungen ohne konkrete Verdachtsmerkmale sein (s.a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 119 Rn 6). Das sind kaum brauchbare Kriterien für einschlägige Entscheidungen. Letztlich lässt sich der Beschluss des OLG Stuttgart ohne konkrete Anhaltspunkte für Verdunkelungs- oder Vertuschungshandlung nur damit rechtfertigen, dass hier nur ein geringfügiger Grundrechtseingriff vorlag. Hier wurde durch die Anordnung der Überwachung des Schriftverkehrs und der Besuche nur eine ungestörte Kontakthaltung mit der Außenwelt ausgeschlossen, nicht der Kontakt als solcher. Das wäre sicherlich unverhältnismäßig gewesen.