1. Wird dem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Angeklagten eine Übersetzung der Anklageschrift erst in der Hauptverhandlung überlassen, besteht keine strikte Pflicht zur Aussetzung der Hauptverhandlung.
2. Vielmehr hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls über Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu entscheiden.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
Schriftliche Übersetzung der Anklageschrift erst in der Hauptverhandlung
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Übergriffs verurteilt. Der inhaftierte rumänische Angeklagte versteht kein Deutsch. Er erhielt die Anklageschrift nur in deutscher Sprache übersandt. Zu Beginn der Hauptverhandlung wurde sie verlesen und für den Angeklagten durch einen Dolmetscher übersetzt. Unter Hinweis darauf, er habe bisher keine schriftliche Übersetzung der Anklage erhalten, beantragte der Angeklagte die Aussetzung des Verfahrens. Die bei den Akten befindliche, ins Rumänische übersetzte Anklage wurde dem Angeklagten sodann übergeben. Das LG unterbrach die Hauptverhandlung und bestimmte einen Termin zur Fortsetzung in neun Tagen. Zur Begründung führte es aus, dass eine Aussetzung zur Wahrung eines fairen Verfahrens nicht notwendig sei, da der in der Anklage dargelegte Sachverhalt nur eine Tat umfasste und dem Angeklagten bereits bekannt war. Denn er hatte sich jeweils in Anwesenheit eines Dolmetschers schon in einem Haftprüfungstermin zum Tatvorwurf eingelassen und die Anklageschrift mit seinem Verteidiger erörtert. Seine Revision blieb erfolglos.
II. Entscheidung
Ausgangspunkt
Das LG habe weder § 265 Abs. 4 StPO noch das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK verletzt. In der gegebenen Situation sei das Ermessen der Strafkammer nicht auf null dahin reduziert gewesen, dass das Verfahren zwingend auszusetzen war. Der Angeklagte moniere zwar im Ausgangspunkt zutreffend einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK i.V.m. § 201 Abs. 1 S. 1 StPO, § 187 Abs. 2 S. 1 und 3 GVG dadurch, dass er die übersetzte Anklageschrift nicht bereits vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens erhielt (BGH NStZ 2014, 725 = StRR 2014, 386 [Deutscher]). Der Verfahrensverstoß wirke sich jedoch infolge der Aushändigung der übersetzten Anklage am ersten Tag der Hauptverhandlung in Verbindung mit deren längerer Unterbrechung im Ergebnis nicht aus. Nach § 265 Abs. 4 StPO habe das Gericht die Hauptverhandlung auszusetzen, wenn dies infolge einer Veränderung der Sach- oder Verfahrenslage zur Vorbereitung der Verteidigung angemessen erscheint. Grundsätzlich könne jede vom Angeklagten nicht verschuldete Verschlechterung seiner Verteidigungsmöglichkeit Anlass zur Aussetzung geben (BGH NStZ 2019, 481 Rn 23 = StRR 12/2018, 12 [Burhoff]). Ob die Verhandlung auszusetzen ist, entscheide das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen, dessen Ausübung es in seinem Beschluss darzustellen hat. Maßgebend hierfür ist, ob die prozessuale Fürsorgepflicht und die Gewährleistung eines fairen Verfahrens die Aussetzung gebieten (BGH NStZ 2013, 122, 123 m.w.N. = StRR 2013, 65 [Arnoldi]).
Keine strikte Pflicht zur Aussetzung
Nach teilweise vertretener Auffassung sei das in Fällen einer verspäteten Überlassung der (übersetzten) Anklage immer der Fall. Es bestehe eine Aussetzungspflicht (OLG Celle StV 1998, 531; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 201 Rn 10). Der BGH habe diese Frage bislang ausdrücklich offengelassen (BGH NStZ 2017, 63 = StRR 5/2016, 10 [Arnoldi]). Gegen eine Aussetzungspflicht spreche bereits, dass der Gesetzgeber sie für andere Verfahrenskonstellationen zur Gewährleistung einer hinreichenden Verteidigung ausdrücklich vorgeschrieben hat. Zu nennen seien insoweit die Nichteinhaltung der Ladungsfrist (§§ 217 Abs. 2, 228 Abs. 3 StPO) oder das neue Hervortreten taterschwerender Umstände (§ 265 Abs. 3 StPO). Für den Fall der verspäteten Überlassung der (übersetzten) Anklageschrift existiere eine entsprechende Vorschrift nicht. Wollte man § 265 Abs. 4 StPO eine strikte Aussetzungspflicht im Fall der verspäteten Anklageüberlassung entnehmen, ginge dies über die europarechtlichen Vorgaben hinaus. Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK gebe lediglich vor, dass generell ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bestehen muss, und besagt nichts darüber, in welcher Form das Gericht diese zu gewähren hat. Werde der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe nicht i.S.d. Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet, sei dies nach europäischem Recht grundsätzlich heilbar. Denn ein Verstoß gegen eine einzelne Regel der Menschenrechtskonvention mache das Strafverfahren nicht ohne Weiteres zu einem unfairen (std. Rspr. des EGMR; etwa NJW 2019, 1999 Rn 120 ff. m.w.N.). Verstöße könnten dadurch kompensiert werden, dass dem Angeklagten genommene Einflussmöglichkeiten in einem späteren Verfahrensstadium eingeräumt oder fehlerhafte Verfahrensteile wiederholt werden, wenn dadurch insgesamt seine Rechtsstellung gewahrt wird und der Fehler sich damit im Ergebnis nicht auswirkt (BVerfGE 130, 1, 25 = NJW 2012, 907 = StRR 2012, 98 [Artkämper]. Auch die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, die Beschuldigten das Recht auf schriftliche Übersetzung wesentlicher Unterlagen innerhalb einer angemessenen Frist auf Staatskosten gewährt, diene lediglich der Schaffung von Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union. Gegen einen strikten Aussetzungsanspruch des Angeklagten spreche außerdem die Vielfalt der möglichen Verfahrens- und Fallkonstellationen bei einer verspäteten Überlassung der Anklage. Große Unterschiede könnten schon hinsichtlich Umfangs und Komplexität der Sachverhalte und damit des Zeitraums bestehen, der für eine angemessene Vorbereitung der Verteidigung i.S.d. Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK zu veranschlagen ist. Für die Möglichkeit der ordnungsgemäßen Verteidigung sei außerdem von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt der Angeklagte die Kenntnis von der (übersetzten) Anklage erhält. Wird der Angeklagte der Tatvorwürfe erst zu einem späten Stadium der Hauptverhandlung gewahr, in dem bereits ein wesentlicher Teil von ihr durchgeführt ist, könne es zur angemessenen Wahrung seiner Verteidigungsrechte geboten sein, mit der Hauptverhandlung von vorn zu beginnen. Das gelte insbesondere bei einer in Unkenntnis der Anklageschrift abgegebenen Einlassung (BGH NStZ 2017, 63 = StRR 5/2016, 10 [Arnoldi]). Generell gelte: Je größer der Umfang der vor der Unterrichtung stattgefundenen Hauptverhandlung und je komplexer Tatvorwurf und Beweislage, desto näher liege die Aussetzung. Je einfacher der Verfahrensstoff und je früher die Unterrichtung, desto eher genügt eine Unterbrechung des Verfahrens. Gegen eine Aussetzungspflicht in jedem Einzelfall spreche schließlich, dass das Gericht im Rahmen seiner Justizgewährungspflicht bei der Entscheidung nach § 265 Abs. 4 StPO auch die Interessen anderer Verfahrensbeteiligter und den Beschleunigungsgrundsatz zu wahren hat (BGH NStZ 2018, 673, 675 = StRR 10/2018, 8 [Burhoff]). Nach allem habe das LG hier die Unterbrechung der Hauptverhandlung einer Aussetzung vorziehen dürfen (wird ausgeführt).
III. Bedeutung für die Praxis
Quintessenz
Die vorliegende Entscheidung ist im Kontext mit dem kurz darauf ergangenen Beschl. v. 5.3.2024 – 1 StR 366/23 zu sehen. Dort war dem nicht hinreichend der deutschen Sprache mächtigen Angeklagten zu keinem Zeitpunkt eine Übersetzung der Anklageschrift ausgehändigt worden, es erfolgte lediglich eine mündliche Übersetzung. Quintessenz aus beiden Beschlüssen ist:
1. Der nicht hinreichend sprachkundige Angeklagte hat grundsätzlich einen Anspruch auf Überlassung einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift.
2. Das kann auch zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgen, wobei dann in aller Regel eine Unterbrechung nach pflichtgemäßem Ermessen mit einer je nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmenden Frist anzuordnen ist. Eine Pflicht zur Aussetzung der Hauptverhandlung besteht nicht, kann sich aber im Einzelfall zur Wahrung der Verteidigungsrechte ergeben. Die Überlassung muss auf jeden Fall vor einer eventuellen Einlassung des Angeklagten erfolgt sein.
3. Eine bloß mündliche Übersetzung der Anklageschrift reicht nur in Ausnahmefällen aus, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist.