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Ende des Überholvorgangs

1. Ein Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens wird nicht von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erfasst.

2. Ob ein bewusst scharfes Abbremsen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, das in einem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang mit dem Wiedereinscheren in die Fahrspur des Überholten erfolgt, vom Begriff des falschen Überholens i.S.v. § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB noch oder nicht mehr erfasst ist, beurteilt sich danach, ob der Überholer vor dem zu betrachtenden Bremsmanöver zunächst auf die Fahrspur des Überholten mit so ausreichendem Abstand zum überholten Fahrzeug eingeschert ist, dass er den Überholten unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten nicht behinderte.

(Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 22.7.2024203 StRR 287/24

I. Sachverhalt

Mit 16 Metern Abstand wiedereingeschert

Das LG hat den Angeklagten im Berufungsverfahren u.a. wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt. Der Angeklagte fuhr als Führer eines Pkws auf einer Bundesstraße. Vor dem Angeklagten war der Geschädigte mit einem etwa 16,5 m langen Lkw mit Auflieger in gleicher Fahrtrichtung mit einer Geschwindigkeit von etwa 68 km/h unterwegs. Die zulässige Geschwindigkeit betrug für den Geschädigten 60 km/h. Der Angeklagte überholte den Geschädigten im Bereich einer langgezogenen Rechtskurve, scherte mit einem Abstand von etwa 16 Metern vor dem Geschädigten ein und bremste anschließend sein Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Grund von zunächst 100 km/h bis fast zum Stillstand ab, um den Geschädigten ebenfalls zu einem abrupten Abbremsen zu zwingen und ihn dadurch zu maßregeln. Infolge des Bremsvorgangs aktivierte sich im Lkw des Geschädigten noch vor dessen Reaktion das Notbremssystem und brachte den Lkw zum Stillstand. Die Revision des Angeklagten war zu diesem Punkt erfolgreich.

II. Entscheidung

Begriff des Überholens

Die Feststellungen trügen nicht eine Verurteilung wegen einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB. In Betracht komme allein die Alternative des falschen Überholens. Nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB wird bestraft, wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Überholen i.S.d. Strafvorschrift des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB meine das Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen auf derselben Fahrbahn oder unter Benutzung von Flächen, die mit der Fahrbahn nach den örtlichen Gegebenheiten einen einheitlichen Straßenraum bilden (BGH NStZ 2019, 215 = VRR 6/2018, 11 = StRR 8/2018, 19 [jew. Deutscher]). Ein falsches Fahren beim Überholen sei gegeben, wenn der Täter eine der in § 5 StVO normierten Regeln verletzt oder einen anderweitigen Verkehrsverstoß begeht, der das Überholen als solches gefährlicher macht, sodass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß und der spezifischen Gefahrenlage des Überholens besteht (BGH a.a.O.; NZV 2017, 135 = VRR 2/2017, 13 = StRR 3/2017, 17 [jew. Burhoff]).

Beginn und Ende

Der Überholvorgang beginne in der Regel mit dem Ausscheren. Der Überholvorgang sei beendet, wenn das überholende Fahrzeug wieder mit ausreichendem Abstand in den Verkehrsfluss eingegliedert ist (KG NZV 2007, 305; ähnlich, wenn der Überholte seine Fahrt ungehindert und ungefährdet fortsetzen kann, OLG Hamm DAR 2015, 399). Das Gebot zur Einhaltung eines ausreichenden Abstandes beim Wiedereinordnen zum überholten Fahrzeug ergebe sich aus § 5 Abs. 4 S. 6 StVO. Der Überholte dürfe beim Einscheren in seine Spur nicht behindert und nicht gefährdet werden. Daher fielen Pflichtverstöße beim Einordnen etwa durch Schneiden, Kreuzen oder Abbremsen beim Einscheren unter § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, da der innere Zusammenhang mit der besonderen Gefährlichkeit des Überholvorgangs in diesen Fällen bejaht werden kann (OLG Hamm a.a.O.). Demgegenüber werde Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens nicht von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erfasst (OLG Hamm a.a.O.). Dies folge bereits aus dem Wortlaut der Norm, da sie nur falsches Überholen, nicht aber sonstiges Behindern erfasst. Nutzt der Überholende nicht die spezifische Überholsituation aus, sondern nimmt den verkehrsfeindlichen Eingriff lediglich bei Gelegenheit des Überholvorgangs vor, indem er sein Fahrzeug nach dem Einscheren zur Disziplinierung oder zu „Strafzwecken“ scharf abbremst, fehle es an der besonderen Gefährlichkeit des Überholens; ein solcher Vorgang ist an § 315b StGB und an § 240 StGB zu messen (BGH NJW 1995, 3131). Ob ein bewusst scharfes Abbremsen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, das wie hier in einem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang mit dem Wiedereinscheren in die Fahrspur des Überholten erfolgt, vom Begriff des falschen Überholens i.S.v. § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB noch oder nicht mehr erfasst ist, beurteile sich danach, ob der Überholer vor dem zu betrachtenden Bremsmanöver zunächst auf die Fahrspur des Überholten mit so ausreichendem Abstand zum überholten Fahrzeug eingeschert ist, dass er den Überholten unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten nicht behinderte (OLG Hamm a.a.O.)

Der konkrete Fall

Nach diesen Vorgaben sei der Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB hier nicht erfüllt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Überholvorgang sei nach dem Einscheren des Angeklagten deshalb noch nicht abgeschlossen gewesen, weil der Überholte aufgrund des Bremsmanövers seine Fahrt nicht ungehindert und ungefährdet fortsetzen konnte, lasse einen Zirkelschluss besorgen. Nach den gutachterlich gestützten Feststellungen des LG sei der Angeklagte mit einer im Vergleich zum Geschädigten deutlich höheren Geschwindigkeit von ca. 100 km/h in einem zunächst ausreichenden Abstand von etwa einer LKW-Länge vor dem mit einer Geschwindigkeit von 68 km/h fahrenden Lkw des Geschädigten eingeschert, bevor er sein Bremsmanöver einleitete. Der Überholvorgang sei somit vor dem Ausbremsen abgeschlossen gewesen. Es komme daher nicht mehr darauf an, dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung Bedenken bestehen, eine Straßenverkehrsgefährdung zu bejahen, wenn die bestimmungsgemäße Funktion eines Fahrassistenzsystems dazu führt, dass sich eine in einem Kausalverlauf angelegte Gefahr gerade nicht in einem entsprechenden Schadenseintritt realisiert (OLG Koblenz DAR 2023, 517).

III. Bedeutung für die Praxis

Zutreffend

Das BayObLG führt die Überlegungen des BGH und des OLG Hamm (DAR 2015, 399) zum Ende eines Überholvorgangs und der Auswirkung auf die Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB konsequent fort. Im konkreten Fall ist das eingedenk der getroffenen Feststellungen eindeutig. Für die Praxis besteht aber in weniger klaren Fällen die Schwierigkeit, die Abgrenzung von noch laufendem und bereits abgeschlossenem Überholvorgang zu treffen. Allerdings verbleibt eine mögliche Strafbarkeit wegen Nötigung nach § 240 StGB (vom BayObLG hier bejaht) und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gem. § 315b StGB (hier abgelehnt mangels bedingten Schädigungsvorsatzes).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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