1. Nebenkläger und deren bestellte anwaltliche Vertreter rechnen zu den übrigen Beteiligten i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO und haben das Recht, dass ihnen Gelegenheit zur Kenntnisnahme von den in der Selbstleseanordnung genannten Urkunden gewährt wird.
2. Die Teilnahme am Selbstleseverfahren ist für Nebenkläger und deren bestellte anwaltliche Vertreter disponibel. Ein Selbstleseverfahren kann auch ohne deren Beteiligung durchgeführt werden.
3. Waren Nebenkläger und/oder deren anwaltliche Vertreter an einem Selbstleseverfahren nicht beteiligt, müssen diese auch nicht von der Feststellung des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 S. 3 StPO umfasst sein, um den ordnungsgemäßen Abschluss des Selbstleseverfahrens und damit die ordnungsgemäße Einführung der in das Selbstleseverfahren gegebenen Urkunden in die Hauptverhandlung zu bewirken.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Selbstleseverfahren ohne Beteiligung der Nebenklage
Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung u.a. verurteilt. Die Geschädigte wurde als Nebenklägerin zugelassen und ihr antragsgemäß eine Rechtsanwältin beigeordnet. Diese erhielt nach Vernehmung der Nebenklägerin am ersten Hauptverhandlungstag die Verfahrensakten zur Einsicht. Die Nebenklägerin war nur während ihrer Zeugeneinvernahme, ihre anwaltliche Vertreterin durchgehend anwesend. Der Vorsitzende ordnete an, dass in einer Tabelle aufgelistete, näher bezeichnete Unterlagen im Selbstleseverfahren gem. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO in die Hauptverhandlung eingeführt werden sollen. Widerspruch gegen die Anordnung wurde nicht erhoben. Sodann erhielten die Schöffen, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und sein Verteidiger Kopien der in der Anordnung des Vorsitzenden genannten Urkunden ausgehändigt. Auch hiergegen wurde Widerspruch nicht erhoben. An einem weiteren Hauptverhandlungstag traf der Vorsitzende folgende Feststellung: „Der Angeklagte, sein Verteidiger sowie der Vertreter der Staatsanwaltschaft hatten Gelegenheit, vom Wortlaut der vorgenannten Urkunden und Schriftstücke Kenntnis zu nehmen.“ Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos.
II. Entscheidung
Recht der Nebenklage – kein Rechtskreis des Angeklagten
Beteiligt i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO seien nicht nur die Personen, die ein Widerspruchsrecht nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO haben, sondern alle, die sich mit Anträgen und Erklärungen am Verfahren beteiligen können. Dazu rechne auch die Nebenklage. Ihr kämen in der Hauptverhandlung grundsätzlich die gleichen Rechte zu wie der Staatsanwaltschaft, auch wenn sie in den einzelnen Verfahrensvorschriften nicht besonders erwähnt wird (BGHSt 28, 272, 273). Sie habe das Recht, an der Beweisaufnahme teilzunehmen, gehört zu werden und sich mit Anträgen oder Erklärungen an der Verhandlung zu beteiligen (§ 397 StPO). Diese Informations- und Partizipationsrechte zögen eine Leseberechtigung der Nebenklage gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 StPO nach sich, da die Verfahrensrechte der Nebenklage andernfalls nicht sinnvoll ausgeübt werden könnten. Die Nebenklage könne folglich beanspruchen, dass ihr Gelegenheit zur Kenntnisnahme vom Wortlaut der ins Selbstleseverfahren gegebenen Urkunden gewährt wird, und zwar auch dann, wenn sie vor Anordnung der Selbstlesung bereits Einsicht in die Akten genommen oder Gelegenheit dazu hatte. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO fordere, dass der Nebenklage, so sie dies will und nicht hierauf verzichtet, in gleicher Weise und in gleichem Umfang wie den weiteren Verfahrensbeteiligten – namentlich Angeklagtem, Verteidiger und Staatsanwaltschaft – die im Wege des Selbstleseverfahrens einzuführenden Urkunden zur Kenntnis gebracht werden. Die Revision des Angeklagten könne die Rüge der Verletzung des § 261 StPO aber nicht darauf stützen, die Nebenklägerin sei entgegen § 249 Abs. 2 S. 1 StPO nicht am Selbstleseverfahren beteiligt gewesen oder ihr sei keine Gelegenheit zur Kenntnisnahme der ins Selbstleseverfahren gegebenen Unterlagen gegeben worden. Wie ausgeführt sei die Nebenklage deswegen am Selbstleseverfahren „Beteiligte“ i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO, damit sie ihre Rechte wahrnehmen kann. Bleibt dies der Nebenklage verwehrt, sei der Rechtskreis des Angeklagten und seiner Verteidigung insoweit in keiner Weise berührt (zur „Rechtskreistheorie“ schon BGHSt GrS 11, 213, 214 ff.). Es obliege vielmehr allein der Nebenklage, eine Verletzung ihrer Rechte bei der Durchführung des Selbstleseverfahrens geltend zu machen.
Selbstleseverfahren ohne Nebenklage zulässig
Soweit die Rüge der Verletzung des § 261 StPO darauf gestützt wird, die Feststellung des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 S. 3 StPO genüge in formeller Hinsicht nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil sie die Nebenklage nicht umfasse, dringe sie in der Sache nicht durch. Es stehe der Einführung einer Urkunde im Wege des Selbstleseverfahrens nicht grundsätzlich entgegen, dass die Nebenklage am Selbstleseverfahren nicht beteiligt wird. Dass sie „übrige Beteiligte“ i.S.d. § 249 Abs. 2 S. 1 StPO ist und in der Hauptverhandlung ganz oder teilweise anwesend war, bedeute nicht, dass ein Selbstleseverfahren ohne ihre Beteiligung nicht durchgeführt werden könnte. Die Nebenklage rechne schon nicht zu den Verfahrensbeteiligten, denen ein Widerspruchsrecht gegen die Selbstleseanordnung nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO zuerkannt ist. Dies ergebe sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 249 Abs. 2 S. 2 StPO wie auch aus § 397 Abs. 1 StPO. Hieraus folge, dass ihr fehlendes Einverständnis der Durchführung eines Selbstleseverfahrens nicht entgegenstehen kann, damit – erst recht – nicht ihre Abwesenheit oder ihr fehlendes Interesse an der Beweiserhebung im Wege des Selbstleseverfahrens. Selbst wenn die Nebenklage in der Hauptverhandlung anwesend ist, sich gegen das Selbstleseverfahren ausspricht oder sich hieran nicht beteiligen will, stehe dies der Beweiserhebung in dieser Form grundsätzlich nicht entgegen. Vor allem aber sei für die Nebenklage die Teilnahme am Selbstleseverfahren disponibel. Sie sei zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt, trotz Zulassung (§ 396 Abs. 2 StPO) hierzu aber nicht verpflichtet. Die Nebenklage könne nicht nur darauf verzichten, dass ihr Gelegenheit zur Kenntnisnahme vom Wortlaut der Urkunden gegeben wird (BGH NStZ 2011, 300 = StRR 2011, 100 [Arnoldi]; NStZ 2012, 346, 347). Sie könne auch insgesamt und ohne ausdrückliche Erklärung von einer Teilnahme am Selbstleseverfahren absehen. Gesonderter Protokollierung bedürfe dies nicht. Auch die Regelung des § 398 StPO bestätige die Rolle der Nebenklage als einer wegen ihrer Schutzbedürftigkeit zwar möglichen, für das Verfahren aber nicht notwendigen Verfahrensbeteiligten. Die Nebenklage nehme nur ihr persönliches Interesse wahr; soweit sie es unterlässt, ihre Rechte auf Teilnahme am Verfahren auszuüben, nehme dieses ohne Rücksicht auf sie seinen Fortgang, § 398 Abs. 1 StPO (BGHSt 28, 272, 273). Wollte man die Durchführung des Selbstleseverfahrens von der Beteiligung der Nebenklage abhängig machen, setzte man sich überdies in Widerspruch dazu, dass die Abwesenheit der Nebenklage – auch die ungewollte Abwesenheit wegen Verhinderung – bei Verlesung der Urkunden und Schriftstücke (§ 249 Abs. 1 StPO) in der Hauptverhandlung unschädlich wäre. Der Gesetzgeber habe das Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO aber nicht als Ausnahme vom Grundsatz des Verlesens nach § 249 Abs. 1 StPO konzipiert, sondern als sachlich gleichwertige Alternative (BGHSt 65, 155 = StRR 7/2021, 14 [Deutscher]).
Keine Feststellung im Protokoll erforderlich
Kann das Selbstleseverfahren auch ohne Beteiligung der Nebenklage durchgeführt werden, könne folglich in einem solchen Fall auch § 249 Abs. 2 S. 3 StPO für den ordnungsgemäßen Abschluss des Selbstleseverfahrens nicht gebieten, Feststellungen zu deren Gelegenheit zur Kenntnisnahme zu treffen. Denn andernfalls könnte eine dem Verfahrensgang entsprechende Feststellung den Abschluss des Selbstleseverfahrens niemals bewirken. Nach dem Wortlaut des § 249 Abs. 2 S. 3 StPO ist „die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu“ festzustellen. Gefordert sei demnach, die tatsächlich gewährte „Gelegenheit“ im vorbeschriebenen Sinn des § 249 Abs. 2 S. 1 StPO festzustellen. Der Wortlaut des § 249 Abs. 2 S. 3 StPO („die Gelegenheit“) fordere vom Vorsitzenden nicht, Feststellungen zu treffen, die dem tatsächlichen Verfahrensgang widersprechen. Anderes wäre unvereinbar damit, dass das Protokoll eine zuverlässige Grundlage für die Feststellung schaffen soll, ob der Ablauf der Hauptverhandlung den gesetzlichen Vorschriften entsprochen hat und die wesentlichen Förmlichkeiten beachtet wurden (§ 273 Abs. 1 StPO). Ebenso wenig sei nach dem Wortlaut des § 249 Abs. 2 StPO gefordert, dass die zu treffende Feststellung ausnahmslos die Formulierung „übrige Beteiligte“ enthält (wird ausgeführt). Anderes ergebe sich auch nicht aus dem Sinn und Zweck des § 249 Abs. 2 S. 3 StPO. Der Protokollvermerk diene der Kenntlichmachung und dem Hinweis an die Verfahrensbeteiligten, dass der in der Selbstleseanordnung aufgeführte Beweisstoff Inbegriff der Hauptverhandlung i.S.d. § 261 StPO geworden ist und der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dieser Kenntlichmachung und des Hinweises an die Verfahrensbeteiligten bedürfe es, weil der Urkundsbeweis beim Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wird und bei Anordnung des Selbstleseverfahrens der Zeitpunkt regelhaft noch ungewiss ist, zu welchem die Berufsrichter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen haben und für die übrigen Beteiligten Gelegenheit hierzu bestand (BGH NStZ 2017, 722, 723; NStZ 2023, 118, 119). Die von § 249 Abs. 2 S. 3 StPO geforderte „Signalwirkung“ werde auch dann erreicht, wenn hinsichtlich derjenigen Verfahrensbeteiligten, ohne deren Beteiligung ein Selbstleseverfahren durchgeführt werden kann und die tatsächlich nicht beteiligt waren, eine Gelegenheit zur Kenntnisnahme nicht festgestellt ist.
III. Bedeutung für die Praxis
Offensichtlich
Man kann es ja mal versuchen. Das war wohl die Überlegung des Verteidigers bei Erhebung dieser Verfahrensrüge, wohl wissend, dass ein Verfahrensverstoß bei der Beweiserhebung nicht mit Erfolg gerügt werden kann, wenn die zugrunde liegende Verfahrensvorschrift ausschließlich den Rechtskreis eines anderen Verfahrensbeteiligten schützt. Klassiker ist hier die unterlassene Belehrung des auskunftsverweigerungsberechtigten Zeugen nach § 55 StPO (BGHSt GrS 11, 213). Die Nebenklage wird ausschließlich in ihrem eigenen Interesse tätig und muss nicht einmal in der Hauptverhandlung anwesend sein. Der 6. Senat führt in dem für BGHSt vorgesehen Urteil eingehend aus, dass aus dieser Rechtsstellung folgt, dass die Nebenklage nicht zwingend am Selbstleseverfahren zu beteiligen ist und deren Verzicht auf diese Beteiligung folgerichtig und offensichtlich nicht protokolliert werden muss. Dem ist nichts hinzuzufügen.