Durch die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Verteidiger für die Wahrnehmung eines Termins wird ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Daraus folgt, dass der Rechtsanwalt alle Gebühren eines Verteidigers nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG geltend machen kann.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Pflichtverteidiger „nur“ für den Vorführtermin
Das AG hat gegen den Beschuldigten Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges erlassen. Der Beschuldigte wurde am 21.12.2022 vorläufig festgenommen und noch am selben Tag dem Ermittlungs- und Haftrichter beim AG vorgeführt. Rechtsanwalt R 1, den der Beschuldigte bei seiner vorläufigen Festnahme gegenüber der Polizei als Verteidiger benannt hatte, von welchem er gerne vertreten werden möchte, wurde über die Verhaftung informiert. Er sagte daraufhin telefonisch zu, die Verteidigung zu übernehmen, konnte aber an dem Vorführtermin am 21.12.2022 aufgrund von Terminkollisionen nicht teilnehmen. Aus diesem Grund ordnete das AG in dem Vorführtermin am 21.12.2022 dem Beschuldigten – mit dessen Einverständnis – Rechtsanwalt R 2 „für den heutigen Termin“ als Pflichtverteidiger bei. Im Rahmen des Vorführtermins hielt das AG den Haftbefehl aufrecht und setzte diesen in Vollzug. Im weiteren Verlauf des Strafverfahrens nahm Rechtsanwalt R 2 keine weiteren Verfahrenshandlungen mehr für den Beschuldigten vor.
AG: Einzeltätigkeit, LG: alle Gebühren
Rechtsanwalt R 2 hat die Festsetzung seiner Pflichtverteidigergebühren beantragt, und zwar die Gebühren Nrn. 4101, 4105, 4103 und 4142 VV RVG sowie Auslagen und USt. Das AG hat nur eine Gebühr für eine Einzeltätigkeit nach der Nr. 4301 Ziffer 4 VV RVG nebst Auslagenpauschale und USt festgesetzt. Dagegen hat Rechtsanwalt R 2 Rechtsmittel eingelegt, das beim LG weitgehend Erfolg hatte. Das hat nämlich – bis auf die Auslagenpauschale – alle angemeldeten Gebühren festgesetzt (LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 21.5.2024 – 2 Qs 14/24, AGS 2024, 271). Die dagegen gerichtete – zugelassene – weitere Beschwerde der Staatskasse hatte beim OLG keinen Erfolg.
II. Entscheidung
Nach Auffassung des OLG ist die die angefochtene Entscheidung des LG nicht zu beanstanden.
Bindender Beiordnungsbeschluss
Im Ansatz zutreffend gehe die Bezirksrevisorin in ihrem Beschwerdevorbringen davon aus, dass maßgebend für das Kostenfestsetzungsverfahren der insofern bindende Beiordnungsbeschluss sei (BGH, Beschl. v. 11.4.2018 – XII ZB 487/17, NJW 2018, 2047; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.5.2018 – III – 1 Ws 274/17, AGS 20219, 508; OLG Koblenz, Beschl. v. 26.1.2015 – 13 WF 67/15, AGS 2015, 141). Für die Abgrenzung zwischen einem „Vollverteidiger“ und einem mit einer Einzeltätigkeit beauftragten Rechtsanwalt sei gemäß § 48 Abs. 1 RVG der Wortlaut der Verfügung des Vorsitzenden oder des Gerichtsbeschlusses maßgebend, durch den die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt sei (OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.1.2023 – 4 Ws 13/23, AGS 2023, 162). Dem Wortlaut des hier vorliegenden Beiordnungsbeschlusses vom 21.12.2022 sei eine Beiordnung „für den heutigen Termin“, mithin die Vorführung vor den Haftrichter gemäß § 115 StPO, zu entnehmen. Damit enthalte der Beschluss eine zeitliche Beschränkung auf den Termin der Vorführung. Ob eine solche Beschränkung im Hinblick auf § 143 StPO zulässig sei, könne aufgrund der Bindungswirkung des Beiordnungsbeschlusses für das Kostenfestsetzungsverfahren dahinstehen. Eine inhaltliche Beschränkung auf die Haftfrage sei dem Beschluss dagegen nicht zu entnehmen (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164; a.A. für den – hier nicht vorliegenden – Fall eines schon beauftragten Wahlverteidigers: OLG Stuttgart a.a.O.).
Angefallene anwaltliche Tätigkeiten
Demzufolge sei bei der Festsetzung der Gebühren von der für den Termin der Vorführung erforderlichen, tatsächlich angefallenen anwaltlichen Tätigkeit auszugehen, soweit sie sich im Rahmen dieses Beiordnungsbeschlusses halte. Dies sei jedenfalls dann, wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt habe, beim Vorführungstermin jedoch verhindert sei, nicht allein die Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 VV RVG. Nach Vorbem. 4.3 VV RVG entstehen die Gebühren für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist. Der Verteidiger sei hier jedoch nicht nur „für den Termin“ mit einer einzelnen Tätigkeit im Sinne der Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV RVG beauftragt, sondern ihm sei vielmehr eine Vollverteidigung übertragen worden. Die Tätigkeit im Rahmen des Vorführtermins erschöpfe sich nämlich nicht allein in der insofern in Betracht zu ziehenden Betätigung nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG (Beistandsleistung für den Beschuldigten im Rahmen einer richterlichen Vernehmung). Die richterliche Vernehmung sei zwar gemäß § 115 Abs. 2 StPO Teil einer Eröffnung eines Haftbefehls, diese gehe jedoch darüber hinaus. Vorliegend sei eine Erstberatung noch nicht erfolgt gewesen. Daher sei – unabhängig von der später erfolgten Beiordnung eines anderen Verteidigers – eine umfassende Beratung zur Verteidigungsstrategie im Termin zur Vorführung nach § 115 StPO zwingend geboten. So sei z.B. bereits zu diesem Zeitpunkt zu entscheiden gewesen, ob sich durch eine Einlassung ein dringender Tatverdacht ausräumen lasse oder sich eine (geständige) Einlassung auf die Frage einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls auswirken könne. Die gewählte Vorgehensweise könne sich ggf. bestimmend für das Verteidigungsverhalten im weiteren Verfahrensverlauf auswirken. Dies gelte ebenso für die Frage der Beratung zu einer drohenden Einziehung.
Diesen Gegebenheiten werde bei bislang noch nicht erfolgter Erstberatung trotz zeitlicher Beschränkung der Aufgabenwahrnehmung nur durch eine volle Pflichtverteidigung Rechnung getragen (vgl. auch K. Sommerfeldt/T. Sommerfeldt, in: BeckOK-RVG, 64. Ed., § 48 Rn 121). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins werde daher ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen habe.
Alle Gebühren
Daraus folge, wie das LG zutreffend ausgeführt habe: Die Grundgebühr nebst Haftzuschlag (Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG) gem. Nr. 4101 VV RVG decke die erforderliche Einarbeitung in den Fall ab, daneben falle die Verfahrensgebühr Nr. 4105 VV RVG an. Der Vorführungstermin zur Verkündung des Haftbefehls gem.§ 115 StPO erfüllt ohne Weiteres die Voraussetzungen von Nrn. 4102 Ziff. 3 3, 4103 VV RVG, wonach die Terminsgebühr mit Zuschlag für die Teilnahme an Terminen außerhalb der Hauptverhandlung anfalle, in denen über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft verhandelt wird. Gleiches gelte – im Hinblick auf die drohende Einziehung – gemäß Nr. 4142 VV RVG. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus dem Gebührentatbestand der Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG herleiten. Dieser regele die Vergütung für die Beistandsleistung für den Beschuldigten bei einer richterlichen Vernehmung im Rahmen einer Einzeltätigkeit. Die Einzeltätigkeit setze voraus, dass dem Rechtsanwalt nicht die Verteidigung übertragen worden sei. Dies ist hier aber gerade nicht der Fall. Hiergegen könne auch nicht angeführt werden, dass der Gebührentatbestand Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG ins Leere laufe, da als Anwendungsfall zumindest die Tätigkeit im Rahmen des § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO verbleibt.
III. Bedeutung für die Praxis
Inzwischen herrschende Meinung?
Eine weitere (obergerichtliche) Entscheidung in der Frage, welche Gebühren für den nur für einen Vorführtermin bestellten Pflichtverteidiger anfallen. Allmählich kann man die Auffassung, die in diesen Fällen nicht nur von einer Einzeltätigkeit ausgeht, sondern den Pflichtverteidiger als „vollen Verteidiger“ ansieht, der nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG alle (Verteidiger-)Gebühren abrechnen kann, als herrschende Meinung ansehen (so auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.2.2024 – 1 Ws 13/24 (S), AGS 2024, 171; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164; OLG Köln, Beschl. v. 24.1.2024 – 3 Ws 50/23, AGS 2024, 226; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.6.2023 – 1 Ws 105/23, AGS 2023, 310 = StraFo 2023, 335; LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20; LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 21.5.2024, – 2 Qs 14/24, AGS 2024, 271; LG Frankenthal (Pfalz), Beschl. v. 27.4.2023 – 1 Qs 76/23, AGS 2023, 219; LG Magdeburg StraFo 2018, 314 = AGS 2018, 341; Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53 u. 54/21, AGS 2021, 427); LG Tübingen, Beschl. v. 6.2.2023 – 9 Qs 25/23, AGS 2023, 238; AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22), AGS 2022, 311; AG Ludwigshafen, Beschl. v. 3.3.2023 – 4a Ls 5227 Js 9474/22 (nur Grundgebühr), AGS 2023, 217; AG Tiergarten, Beschl. v. 14.10.2022 – (278 Ds) 265 Js 277/22 (110/22), AGS 2022, 513; a.A. OLG Celle RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534; OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.1.2023 – 4 Ws 13/23, AGS 2023, 162; LG Leipzig RVGreport 2019, 338 = StraFo 2019, 439). Das ist zutreffend, sodass das Ergebnis der Entscheidung des OLG Koblenz nicht zu beanstanden ist.
Unschöne, weil einschränkende Begründung des OLG
Mit der Begründung des OLG kann ich mich allerdings nicht anfreunden, da das OLG das gefundene Ergebnis offenbar sogleich wieder einschränken will. Denn das OLG will – so ist es m.E. zu verstehen – von Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG und damit vom Anfall aller Gebühren wohl nur dann ausgehen, „wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt hat.“ Diese Sicht der Dinge ist m.E. falsch. Denn auch dann, wenn bereits ein Verteidiger bestellt ist oder sich bestellt hat, muss der Verteidiger im/für den Vorführtermin die vom OLG beschriebenen Verteidigertätigkeiten erbringen. Das ist aber originäre volle Verteidigertätigkeit und geht weit über das hinaus, was über eine Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG abzurechnen wäre. Von daher ist die Entscheidung unschön und mutet ein wenig wie die Echternacher Springprozession an: Zwei Schritte vor, einer zurück.