1. Entscheidend für die Annahme des Mordmerkmals der „Heimtücke“ ist, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren.
2. Das Vorliegen eines vertypten Milderungsgrundes indiziert regelmäßig eine geringere Schuld. Eine Versagung der Strafmilderung setzt deshalb erschwerende Umstände voraus, die in den Urteilsgründen im Einzelnen festgestellt und dargelegt werden müssen.
(Leitsätze des Verfassers)
I. Sachverhalt
U.a. Verurteilung wegen versuchten Mordes
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerem gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision u.a. gegen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke und gegen die Strafzumessung. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt und macht Erörterungsmängel im Rahmen der Strafzumessung und Maßregelanordnung geltend. Beide Rechtsmittel hatten beim BGH keinen Erfolg.
Tatgeschehen
Das LG hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen: Am Nachmittag des Tattages waren der Angeklagte und der spätere Geschädigte im Zusammenhang mit einem Drogenankauf des Geschädigten in Streit geraten. In dem Bewusstsein, aus dem von Passanten beobachteten „Kräftemessen“ mit dem Angeklagten als Sieger hervorgegangen zu sein, erklärte der Geschädigte, der Angeklagte sei schon immer ein räudiger Hund gewesen und werde dies auch bleiben; dabei trat er abschließend demonstrativ die geöffnete Fahrertür des Pkws des Angeklagten, in dem dieser saß, mit dem Fuß zu, wandte sich um und entfernte sich. Der Angeklagte wollte diese Demütigung nicht auf sich beruhen lassen und beschloss, sich unter Einsatz des von ihm geführten Kraftfahrzeugs „Genugtuung“ zu verschaffen und den Geschädigten anzufahren. Der Angeklagte folgte dem Geschädigten. Dieser sah das. Er hielt es für möglich, dass der Angeklagte ihm mit dem Fahrzeug folgen könnte, um ihn zur Rede zu stellen oder ihm Angst einzujagen. Da er sich nicht einschüchtern lassen und sich keine Blöße geben wollte, setzte er seinen Weg fort; mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder gar dem Einsatz des Kraftfahrzeugs als Waffe rechnete er aber nicht.
Der Angeklagte gab dann Vollgas und beschleunigte sein Fahrzeug massiv mit dem Ziel, den Geschädigten auf dem Gehweg mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Dabei rechnete er damit, den Geschädigten durch die Wucht des Aufpralls tödlich zu verletzen; er fand sich jedoch angesichts der vorangegangenen Kränkung mit einem tödlichen Ausgang ab. In diesem Zusammenhang nahm er auch wahr, dass der Geschädigte den Gehweg in seiner Fahrtrichtung beschritt, ihm den Rücken zuwandte und keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Diese Situation nutzte der Angeklagte bewusst aus, um den Geschädigten von hinten zu überfahren. Er lenkte sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h gezielt nach rechts auf den Gehweg. Tatplangemäß erfasste der Angeklagte den Geschädigten dort mit der vorderen rechten Motorhaube im Bereich der rechten Körperpartie rückseitig. Der Geschädigte wurde durch den Aufprall erheblich verletzt. Der Angeklagte nahm an, ihn getötet zu haben, lenkte sein Fahrzeug auf die Straße zurück und floh.
II. Entscheidung
Mordmerkmal der Heimtücke
Der BGH hat – ebenso wie das LG – das Mordmerkmal der Heimtücke i.S.d. § 211 Abs. 2 StGB bejaht. Heimtückisch handele, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos sei das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung sei dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Beschl. v. 15.2.2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365 m.w.N.). Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgehe, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechne (vgl. BGHSt 48, 207, 210; BGH NStZ 2005, 691; siehe auch BGH NStZ 2013, 337, 338 m.w.N.). Entscheidend sei auch hier, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrasche und dadurch daran hindere, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren (st. Rspr., zuletzt NStZ 2023, 232, 234; NStZ-RR 2023, 245, 246, jeweils m.w.N.). Das Opfer könne auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urt. v. 15.11.2023 – 1 StR 104/23). Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise sei schließlich, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ 2022, 364, 365; Urt. v. 23.7.2020 ‒ 3 StR 77/20 Rn 9).
Heimtückisches Handeln tragfähig festgestellt
Gemessen hieran sei heimtückisches Handeln des Angeklagten festgestellt und tragfähig belegt. Zwar sei dem Tatgeschehen eine verbal und körperlich geführte Auseinandersetzung vorausgegangen; im Rahmen dieser Auseinandersetzung habe sich der Angeklagte aber zurückhaltend, passiv und ängstlich verhalten. Der Geschädigte habe nach der aus seiner Sicht beendeten Auseinandersetzung keinen erheblichen Angriff gegen seine körperliche Integrität erwartet, sondern allenfalls damit gerechnet, dass der ihm körperlich unterlegene Angeklagte ihn angesichts seines vorangegangenen Verhaltens zur Rede stellen oder ihm „Angst einjagen“ könne. Den Urteilsfeststellungen sei daher mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass das Tatopfer nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnete. Dass es sich unmittelbar vor der Kollision umgewandt und den Angriff daher in letzter Minute wahrgenommen habe, stelle ‒ worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen habe ‒ seine Arglosigkeit nicht in Frage, weil die verbleibende Zeitspanne zu kurz gewesen sei, um der nunmehr erkannten Gefahr zu begegnen.
Strafzumessung/Strafrahmenwahl
Zur auf Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft führt der BGH aus: Die Strafrahmenwahl begegne keinen rechtlichen Bedenken. Die Erwägungen, mit denen das LG den Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB gem. §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB zugunsten des Angeklagten gemildert hat, halten einer rechtlichen Nachprüfung stand. Nach § 23 Abs. 2 StGB könne der Versuch milder bestraft werden als die vollendete Tat. Ob eine Strafrahmenverschiebung wegen Versuchs gemäß § 23 Abs. 2 StGB i.V.m. mit § 49 Abs. 1 StGB in Betracht komme, sei vom Tatgericht auf der Grundlage einer Gesamtschau aller Tatumstände und der Persönlichkeit des Täters zu entscheiden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 2.8.2023 ‒ 4 StR 98/23 Rn 5; Urt. v. 25.1.2023 ‒ 1 StR 284/22 Rn 16). Dabei sei zu beachten, dass das Vorliegen des vertypten Milderungsgrundes regelmäßig eine geringere Schuld indiziere (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn 922). Eine Versagung der Strafmilderung setze deshalb erschwerende Umstände voraus, die in den Urteilsgründen im Einzelnen festgestellt und dargelegt werden müssen. Den wesentlichen versuchsbezogenen Umständen (Nähe der Tatvollendung, Gefährlichkeit des Versuchs und aufgewandte kriminelle Energie) komme im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau aller tat- und täterbezogenen Umstände besonderes Gewicht zu (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 35, 347, 355). Eine sorgfältige Abwägung und umfassende Begründung sei insbesondere in Fällen geboten, in denen die Versagung der Strafmilderung wegen Versuchs die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Folge habe (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 21.11.2023 ‒ 4 StR 286/23; Urt. v. 25.1.2023 ‒ 1 StR 284/22).
III. Bedeutung für die Praxis
Zutreffend
1. Die Entscheidung ist m.E. sowohl hinsichtlich der Ausführungen des BGH zur Heimtücke als auch zur Strafrahmenwahl zutreffend. Sie entspricht der dazu vorliegenden Rechtsprechung des BGH.
Lebenslange Sperre
Die Staatsanwaltschaft hat zudem noch beanstandet, dass das LG nur eine isolierte Fahrerlaubnissperre von fünf Jahren (§ 69a Abs. 1 S. 1 StGB) verhängt hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte gemeint, dass die Frage, ob eine lebenslange Sperre zu verhängen wäre, hätte erörtert werden müssen. Der BGH hat das aber verneint. Die Verhängung einer lebenslangen Sperre komme angesichts ihres Ausnahmecharakters regelmäßig nur in Fällen schwerster Verkehrskriminalität und nur dann in Betracht, wenn die auf fünf Jahre begrenzte zeitige Sperre nicht ausreiche, um die vom Täter drohende Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs abzuwenden (vgl. BGH, Beschl. v. 15.8.2023 ‒ 4 StR 514/22; Beschl. v. 18.7.2023 ‒ 4 StR 42/23). Anhaltspunkte dafür, dass die charakterliche Ungeeignetheit des Angeklagten über die Höchstfrist der zeitigen Sperre hinaus bestehen könnte, seien ungeachtet der Schwere der Anlasstat, die für die Maßregelanordnung aber nur insoweit von Bedeutung sei, als sie Hinweise auf die charakterliche Unzuverlässigkeit des Täters und den Grad seiner Ungeeignetheit geben könne (vgl. BGH a.a.O.), weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.