Pflichtverteidiger: weiterer Pflichtverteidiger
Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Davon kann z.B. ausgegangen werden, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann.
BGH, Beschl. v. 19.3.2024 – StB 17/24
Pflichtverteidiger: Verständigungsschwierigkeiten; Filmen eines Polizeieinsatzes
Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist. Die Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes kann so komplex sein, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.
OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.3.2024 – 7 Ws 45/24
Pflichtverteidiger: Sachverständigengutachten; angeregte Berufungsrücknahme
Nicht jede Hinzuziehung eines Sachverständigen begründet die Schwierigkeit einer Sachlage mit der Folge, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre. Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht nicht entgegen, dass der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen.
LG Braunschweig, Beschl. v. 9.4.2024 – 7 Ns 811 Js 66743/21 (27/23)
Pflichtverteidigerwechsel: Fristbeginn
Der Beginn der Frist für einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt voraus, dass der Beschuldigte auf die Frist bzw. die Möglichkeit der Auswechslung des Verteidigers hingewiesen worden ist.
LG Amberg, Beschl. v. 12.4.2024 – 11 Qs 87/23
Pflichtverteidiger: ggf. fehlerhafte Wahllichtbildvorlage
Für die Frage der Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers in einem Strafverfahren genügt, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht völlig fernliegend ist. Das kann der Fall sein, wenn eine im Rahmen des Zwischenverfahrens eines Verfahrens wegen Unfallflucht durchgeführte Wahllichtbildvorlage ggf. nicht den Anforderungen der Rechtsprechung entspricht.
LG Bochum, Beschl. v. 22.3.2024 – 1 Qs 10/24
EncroChat: Beweisverwertungsverbot
Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 30.4.2024 betreffend EncroChat lässt sich – entgegen den Ausführungen der Verteidigung in der Haftbeschwerde – kein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der EncroChat- bzw. SkyECC-Daten entnehmen.
LG Kiel, Beschl. v. 8.5.2024 – 7 KLs 593 Js 18366/22
Erweitertes Schöffengericht: fehlender Zuziehungsantrag
Zieht das AG einen zweiten Richter hinzu, obwohl zum Zeitpunkt der Eröffnung ein auf Hinzuziehung eines zweiten Richters gerichteter Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 29 Abs. 2 S. 1 GVG nicht vorliegt, führt das zu einer fehlerhaften Besetzung des Gerichts und in der Folge zu einem Verfahrensmangel, weswegen das Verfahren einzustellen ist.
AG Dieburg, Urt. v. 14.3.2024 – 41 Ls 300 Js 12908/23 (81/23)
Schuldfähigkeit: Hinzuziehung eines Sachverständigen
Die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit ist auch dann geboten, wenn der an einer paranoiden Schizophrenie leidende Angeklagte angibt, zur Tatzeit medikamentös eingestellt gewesen zu sein und keine Wahnvorstellungen gehabt zu haben.
OLG Celle, Beschl. v. 11.4.2024 – 3 ORs 10/24
Rechtlicher Hinweis: verändertes Tatbild
Das Gericht, das den Schuldspruch innerhalb des Rahmens der prozessualen Tat i.S.d. § 264 StPO auf ein gegenüber der Anklage wesentlich verändertes Tatbild stützt, muss dem Angeklagten zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen.
OLG Braunschweig, Beschl. v. 8.4.2024 – 1 ORs 6/24
Tragen eines Kopftuchs in der Hauptverhandlung: Schöffin
§ 2 Abs. 1 Justizneutralitätsgesetz untersagt es Schöffinnen, während der Hauptverhandlung ein Kopftuch aus religiösen Gründen zu tragen. Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 JNeutrG NW ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden (Anschluss an VG Arnsberg, Beschl. v. 9.5.2022 – 2 L 102/22). Die Weigerung einer Schöffin, ihr Kopftuch während der Gerichtsverhandlung abzunehmen, stellt keine gröbliche Amtspflichtverletzung i.S.v. § 51 Abs. 1 GVG, sondern eine (sonstige) Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamtes i.S.v. § 52 Nr. 1 GVG dar.
OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24
Anhörungsrüge: Begründung
Dem Vorbringen des Verteidigers zur Begründung der Anhörungsrüge (§ 356a StPO) muss zu entnehmen sein, wann der Verurteilte von der behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs Kenntnis erlangt hat. In Fällen, in denen sich die Einhaltung der Frist des § 356a S. 2 StPO nicht schon aus dem aus den Akten ersichtlichen Verfahrensgang ergibt, gehören die Mitteilung des für den Fristbeginn maßgeblichen Zeitpunkts der Kenntniserlangung von den tatsächlichen Umständen, aus denen sich die Gehörsverletzung ergeben soll, und dessen Glaubhaftmachung (§ 356a S. 3 StPO) zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsbehelfs.
BGH, Beschl. v. 4.4.2024 – 1 StR 450/23
Anhörungsrüge: Wiedereinsetzung
Wird die Frist nach § 356a S. 2 und 3 StPO unverschuldet versäumt, ist eine Wiedereinsetzung grundsätzlich möglich. Dazu hat der Antragsteller einen Sachverhalt vorzutragen, der ein Verschulden des Verurteilten an der Fristversäumnis ausschließen würde. Eine unverschuldete Fristversäumnis liegt nicht vor, wenn der anwaltlich vertretene Antragsteller in der Antragsschrift nach § 356a StPO nicht innerhalb der Wochenfrist mitgeteilt sowie nicht glaubhaft gemacht hat und auch sonst nicht ersichtlich ist, wann der Verurteilte von dem behaupteten Gehörsverstoß erstmals Kenntnis erlangt hat. Der Angeklagte muss sich das Verschulden seines Verteidigers an der Fristversäumung zurechnen lassen.
BayObLG, Beschl. v. 26.2.2024 – 203 StRR 511/23
KCanG: Ermäßigung einer Einheitsjugendstrafe
Ist angesichts lediglich geringer Mengen von Cannabis und des Tatunrechts der Vielzahl an übrigen Taten keine relevante Auswirkung auf das Strafmaß gegeben, ist von einer Ermäßigung einer Einheitsjugendstrafe nach dem Inkrafttreten des KCanG abzusehen.
AG Heinsberg, Beschl. v. 26.4.2024 – 42 VRjs 79/23
Betrugsmasche „falsche Polizeibeamte“: Versuchsbeginn
Bei der Betrugsmasche „falsche Polizeibeamte bzw. Bankmitarbeiter“ liegt ein unmittelbares Ansetzen zum Betrug im Rahmen der telefonischen Kontaktaufnahme nicht erst dann vor, wenn der Täter den angerufenen Geschädigten tatsächlich zur Vornahme der angestrebten Vermögensverfügung auffordert, sondern bereits bei vorangegangenen Täuschungen im Rahmen desselben Telefonats, die ohne weitere wesentliche Zwischenschritte in die angestrebte Vermögensverschiebung münden sollten. Bei der Betrugsmasche „falsche Polizeibeamte bzw. Bankmitarbeiter“ kann der Täter nicht mehr strafbefreiend vom Versuch zurücktreten, wenn im Rahmen der telefonischen Kontaktaufnahme mit dem Geschädigten dieser auf die telefonische Betrugsmasche nicht eingeht und damit der Versuch fehlgeschlagen ist und die Erzielung des angestrebten Taterfolgs nicht ohne eine zeitliche Zäsur im unmittelbaren Handlungsfortgang für möglich zu halten gewesen wäre.
OLG Bremen, Beschl. v. 19.3.2024 – 1 Ws 28/24
Ausländische Fahrerlaubnis: Bestehen einer Fahrerlaubnis
Sowohl die vorläufige als auch die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO bzw. § 69 StGB setzen voraus, dass der hiervon Betroffene eine Fahrerlaubnis hat. Dies gilt auch dann, wenn es um die (vorläufige) Entziehung einer ausländischen Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 3 S. 2, Abs. 6 StPO und § 69b StGB geht. Eine „vorsorgliche“ Entziehung der Fahrerlaubnis beim Vorliegen eines auch nur vagen Verdachts, der Täter könne im Besitz einer ausländischen Fahrerlaubnis sein, ist nicht zulässig.
LG Mönchengladbach, Beschl. v. 28.3.2024 – 24 Qs 34/24
Schwerer Raub: Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs
Die Qualifikation nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter bei der Tat eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug verwendet. Wird die Waffe oder das andere gefährliche Werkzeug erst nach Vollendung der Erpressung, aber vor deren Beendigung verwendet, ist es wenigstens erforderlich, dass das Tatwerkzeug als Mittel zur Sicherung der Tatbeute eingesetzt wird.
BGH, Beschl. v. 28.2.2024 – 5 StR 23/24
Meinungsfreiheit: Kampf ums Recht
Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb dessen Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist. Dies gilt insbesondere auch für die Kritik an richterlichen Entscheidungen. Im Rahmen einer Gesamtabwägung muss berücksichtigt werden, dass ein Richter schon von Berufs wegen in der Lage und auch gehalten ist, überpointierte Kritik an seiner Arbeit beim „Kampf um das Recht“ auszuhalten.
AG Brühl, Beschl. v. 27.2.2024 – 51 Ds-74 Js 273/23-280/23
Fahrverbot: Absehen wegen notstandsähnlicher Situation
Bei der Frage, ob ein grober Verstoß gegeben ist, sind die Umstände des Einzelfalles – auch unter Berücksichtigung von Irrtumsaspekten – gegeneinander abzuwägen. Bei notstandsähnlichen Situationen (z.B. tatrichterlich festgestelltes dringendes Bedürfnis zur Verrichtung einer Notdurft) kann – je nach den Umständen des Einzelfalls – das Handlungsunrecht für die Anordnung eines Fahrverbots fehlen.
OLG Hamm, Beschl. v. 28.3.2024 – 5 ORbs 35/24
Längenzuschlag: Berücksichtigung von Pausen
Voraussetzung für die Nichtberücksichtigung einer Pause bei der Berechnung der für den sog. Längenzuschlag maßgeblichen Hauptverhandlungsdauer ist gemäß Vorb. 4.1. Abs. 3 S. 2, dass die Unterbrechung der Hauptverhandlung mindestens eine Stunde andauerte und vom Vorsitzenden unter Angabe eines konkreten Zeitpunkts der Fortsetzung angeordnet wurde. Wird dann die Hauptverhandlung aus von dem Rechtsanwalt nicht zu vertretenden Gründen erst nach dem genannten Zeitraum fortgesetzt, ist nur der vom Vorsitzenden angeordnete Zeitraum zu berücksichtigen, nicht die Dauer der tatsächlichen Unterbrechung.
OLG Jena, Beschl. v. 12.4.2024 – 3 St 2 BJs 4/21 und
OLG Jena, Beschl. v. 12.8.2024 – 3 St 2 BJs 4/21
Dokumentenpauschale: Einscannen von Dokumenten
Allein für das Einscannen von Dokumenten fällt seit der Neufassung der Nr. 7000 VV RVG durch das 2. KostRMoG zum 1.8.2013 keine Vergütung mehr an.
OLG Bamberg, Beschl. 2.4.2024 – 1 W 12/24 e
Terminsvertreter des (Pflicht-)Verteidigers: Abrechnung der Tätigkeit
Aus der im Bestellungsbeschluss betreffend die Pflichtverteidigerbestellung vorgenommenen Beschränkung der Bestellung „für den heutigen Hauptverhandlungstag“ ergibt sich nicht, dass dem als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt für seine Tätigkeit lediglich die für den Hauptverhandlungstag angefallene Terminsgebühr zustünde.
LG Neuruppin, Beschl. v. 25.3.2024 – 11 Qs 76/23
Verfahrensgebühr: Ausstellung der Vollmacht
Der Rat des Rechtsanwalts im vorbereitenden Verfahren, keine Angaben zur Sache machen und nicht bei der Polizei auszusagen, lässt die Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren entstehen, auch wenn die schriftliche Vollmacht danach ausgestellt wird.
LG Mühlhausen, Beschl. v. 16.4.2024 – 3 Qs 32/24