1. Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist.
2. Zur Komplexität der Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte durch ausländischen Beschuldigten
Die Angeklagte ist vom AG wegen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte und in Tateinheit mit Körperverletzung mit einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen und 60 EUR verurteilt worden. Für die erstinstanzlich anwaltlich nicht vertretene Angeklagte hat Rechtsanwalt A dann angezeigt, die Angeklagte nunmehr zu vertreten, zugleich Berufung gegen das Urteil des AG eingelegt und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Den Antrag auf Beiordnung hat er unter Hinweis auf § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO damit begründet, dass die Angeklagte ein Flüchtling aus der Ukraine und der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Außerdem sei aufgrund des Verfahrens der ersten Instanz offensichtlich, dass sie sich nicht selbst verteidigen könne.
Beiordnungsantrag abgelehnt
Der Vorsitzende der Berufungskammer hat den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt A zurückgewiesen. Dagegen hat die Angeklagte sofortige Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg.
II. Entscheidung
Pflichtgemäßes Ermessen des Vorsitzenden, aber hier ein zu enger Maßstab
Nach Auffassung des OLG liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO vor. Die Notwendigkeit einer Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO beurteile der Vorsitzende zwar nach pflichtgemäßem Ermessen. Diesem Ermessen seien jedoch durch die überprüfbaren Rechtsbegriffe der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage Grenzen gesetzt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 140 Rn 22) und es unterliege insoweit der vollständigen Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (vgl. BeckOK-StPO/Krawczyk, 50. Edition, Stand: 1.1.2024, § 140 Rn 22).
Nicht ausreichende Sprachkenntnisse reichen nicht immer …
Für die hier relevante Frage, ob eine schwierige Sach- bzw. Rechtslage vorliege, habe der Vorsitzende einen zu engen Maßstab angelegt. Zwar gehe er zutreffend davon aus, dass das Fehlen ausreichender Sprachkenntnisse kein Fall der Sprachbehinderung i.S.v. § 140 Abs. S. 1 Nr. 11 StPO darstelle. Gleichwohl sei die Herkunft der Angeklagten sowie der ihr (noch) fehlende Einblick in das deutsche Rechtssystem (vgl. hierzu BeckOK-StPO/Krawczyk, 50. Edition, Stand: 1.1.2024, § 140 Rn 47) sowie die Sprachbarriere im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen. Die sprachbedingten Verständnisschwierigkeiten könnten nämlich dazu führen, dass die Voraussetzungen, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers notwendig werde, eher als erfüllt angesehen werden müssten, als dies sonst der Fall sei (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 17.5.1983 – 2 BvR 731/80, NJW 1983, 2762, 2764).
… hier aber wegen der komplexen Materie
Jedenfalls die bei der Angeklagten bestehende Sprachbarriere führe hier dazu, dass die rechtlich komplexe Fragestellung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertige. Einer Auseinandersetzung mit den vorliegend aufgeworfenen schwierigen rechtlichen Fragestellungen sei die Angeklagte nämlich zumindest aufgrund der Sprachbarriere nicht gewachsen. Es stehe zu befürchten, dass der Einsatz eines Dolmetschers allein nicht Abhilfe schaffen könne (hierzu BeckOK-StPO/Krawczyk, a.a.O., § 140 Rn 46). Soweit es die Komplexität des vorliegenden Sachverhalts betreffe, habe der Vorsitzende allein auf die Sach- und Beweislage abgestellt. Für die Beurteilung der Strafbarkeit der Angeklagten werde gemäß § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB aber auch die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung entscheidend sein. Unter Berücksichtigung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs i.S.v. § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 3 S. 1 StGB komme es zwar nur auf die formelle Rechtmäßigkeit und nicht auf die materielle Richtigkeit der Diensthandlung an. Aber auch diese formelle Rechtmäßigkeit sei nur gegeben, wenn für die Vollstreckungshandlung eine gesetzliche Eingriffsgrundlage gegeben sei, die Polizeibeamten also berechtigt gewesen seien, der Angeklagten – unter Einsatz körperlicher Gewalt – das von dieser zum Filmen eingesetzte Smartphone wegzunehmen. Eine Eingriffsgrundlage für polizeiliche Handlungen komme aus strafprozessualen Gründen oder aus Gründen der Gefahrenabwehr in Betracht, weshalb letztlich entscheidend sein werde, ob die Angeklagte zum Filmen des Polizeieinsatzes berechtigt war. Ob bzw. in welchen Situationen das Filmen eines Polizeieinsatzes erlaubt oder dies gemäß § 33 i.V.m. §§ 22, 23 KUG und nach § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar sei, sei in Rechtsprechung und Literatur umstritten (siehe hierzu auch LG Hanau, Beschl. v. 20.4. 2023 – 1 Qs 23/22, StRR 11/2023, 32 m.w.N.; Ullenboom, NJW 2019, 3108 ff. [bezogen insbesondere auf die Situation einer Demonstration]). Eine weitere rechtlich anspruchsvolle und vom AG nicht vorgenommene Prüfung beziehe sich auf das Vorliegen eines Verbotsirrtums i.S.v. § 114 Abs. 3 i.V.m. § 113 Abs. 4 StGB. Diese Prüfung liege nahe, habe doch bereits die Angeklagte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls beim AG eingewandt, entsprechend den Gegebenheiten in ihrem Heimatland davon ausgegangen zu sein, zum Filmen des Polizeieinsatzes berechtigt gewesen zu sein, was nunmehr auch vom Verteidiger im Beschwerdeverfahren vorgebracht und näher ausgeführt werde.
III. Bedeutung für die Praxis
Zutreffende Entscheidung
Die mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem Ausländer zusammenhängenden Fragen beschäftigen die Rechtsprechung immer wieder. Dazu gibt es wenig obergerichtliche Entscheidungen, sodass es zu begrüßen ist, dass sich mit dem OLG Frankfurt am Main nun auch mal ein Obergericht zu der Problematik äußert. Und die Sicht des OLG ist zutreffend. Dabei soll dahinstehen, ob nicht ggf. einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer nicht allein wegen seiner Sprachschwierigkeiten ein Pflichtverteidiger wegen „Unfähigkeit der Selbstverteidigung“ beizuordnen ist. Jedenfalls hat das aber dann zu geschehen, wenn der Verfahrensgegenstand rechtlich komplex ist, wovon das OLG hier zutreffend ausgeht. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten im Übrigen nicht bereits entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage eben fraglich sein kann (LG Stuttgart, Beschl. v. 27 4.2023 – 9 Qs 23/23, NStZ 2024, 63; zu neuerer Rechtsprechung zur Pflichtverteidigung Burhoff, StRR 2/2024, 6 ff.).