Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ sind mangels Überprüfbarkeit nicht verwertbar.
(Leitsatz des Verfassers)
I. Sachverhalt
Freispruch mangels Beweises
Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten mit ihrer Anklage mehrere Verstöße gegen das BtMG vorgeworfen. Als Beweismittel haben (nur noch) Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ zur Verfügung gestanden. Das LG hat deren Verwertbarkeit verneint und den Angeklagten freigesprochen.
II. Entscheidung
Das LG ist hinsichtlich der Erkenntnisse aus der Auswertung der beiden vorliegenden ANOM-Chatverläufe vom Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots ausgegangen.
Ablauf der Datenerhebung mit dem Krypto-Messengerdienst „ANOM“
Der Krypto-Messengerdienst „ANOM“ stelle ein verschlüsseltes Kommunikationssystem dar, welches durch das amerikanische FBI entwickelt und inkognito unter kriminellen Organisationen vermarktet wurde. Den Nutzern sei Anonymität garantiert worden, denn die Mobiltelefone sollten abhörsicher und verschlüsselt, von Strafverfolgungsbehörden also nicht zu verfolgen sein. Tatsächlich habe das FBI aber die Möglichkeit gehabt, sämtliche über „ANOM“ verschickte Nachrichten zu entschlüsseln und mitzulesen, was den Nutzern der Krypto-Handys nicht bekannt gewesen sei.
Die überwiegenden Nutzer der „ANOM“-Krypto-Handys seien nicht Staatsbürger der USA und nicht ansässig in den USA gewesen. Das FBI habe im Sommer 2019 im Zuge der Entwicklung von „ANOM“ nach einem Drittland außerhalb der USA gesucht, um dort einen Server zur Erhebung der „ANOM“-Daten einzurichten. Dem Drittland wurde auf dessen Bitte hin zugesichert, dass dessen Identität geheim gehalten werde. Das Drittland erhob ab Oktober 2019 aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses die Daten des „ANOM“-Servers und leitete sie an das FBI im Wege der Rechtshilfe weiter. Im Rahmen des daraufhin vom FBI eingeleiteten Verfahrens namens „Trojan Shield“ seien u.a. Taten mit Deutschlandbezug bekannt geworden. Der nationale gerichtliche Beschluss des Drittlands sei zum 7.6.2021 ausgelaufen, sodass ab diesem Zeitpunkt keine Daten mehr erhoben worden seien.
Rechtshilfeersuchen der GStA Frankfurt am Main
Die GStA Frankfurt am Main habe am 21.4.2021 und am 28.9.2021 Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Justizbehörden gestellt, woraufhin die „ANOM“-Daten über das Bundeskriminalamt übermittelt worden seien. Mit Schreiben vom 3.6.2021 habe das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren erteilt. In diesem Zusammenhang habe das FBI jedoch im Schreiben vom 3.6.2021 wie auch in einem weiteren Schreiben vom 22.12.2021 ausdrücklich klargestellt, dass es keine Zusicherungen hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung, wie etwa in Bezug auf Zeugenaussagen oder Dokumentenauthentifizierung im Rahmen von Gerichtsverfahren, mache. In seinem Schreiben vom 22.12.2021 habe das FBI ausgeführt: „Das FBI ist weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des vorgenannten Drittlandes freizugeben.“
Standort des Servers in unbekanntem Drittland der EU
Seitens des FBI sei in einem weiteren Schreiben an die GenStA Frankfurt am Main vom 27.4.2022 lediglich die Information erteilt worden, dass es sich bei dem Drittland um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handle und dass die Daten in dem Drittland nach dem dortigen nationalen Recht auf der Grundlage einer gerichtlichen Anordnung erhoben worden seien. Ferner sei mitgeteilt worden, dass die überwiegende Mehrheit der die „ANOM“-Handys nutzenden Personen nicht Staatsbürger der USA und auch nicht in den USA ansässig seien.
Da die Identität des Drittlands unbekannt sei, liegen – so das LG – auch keine entsprechenden Gerichtsbeschlüsse aus dem Drittland vor. Dem BKA sei der Drittstaat ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI (vgl. BT-Drucks 20/1249, S. 6). Dies habe auch ein Zeuge vom BKA Wiesbaden bestätigt, wonach dem BKA nie mitgeteilt worden sei, wo der Server stand und wie die Datenerhebung durch das FBI abgelaufen ist. Auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. seien weder das Drittland noch die dort nach den Behauptungen des FBI ergangenen Gerichtsbeschlüsse bekannt, wie sich aus mehreren in der Hauptverhandlung verlesenen dienstlichen Stellungnahmen von Staatsanwälten ergebe.
Kein weiterer Erkenntnisgewinn möglich
Die Strafkammer konnte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln keine weitergehenden Informationen gewinnen. Eine Einsichtnahme und Überprüfung der Gerichtsbeschlüsse zur Erhebung der „ANOM“-Daten sei den Verfahrensbeteiligten und der Kammer daher nicht nur derzeit, sondern aufgrund der auch für die Zukunft verweigerten Preisgabe weiterer Informationen durch das FBI auch künftig nicht möglich.
Keine Verwendungsbeschränkung für ausländische Daten
Zwar sehe das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten vor. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschl. v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21) lasse aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichte die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
Beweisverwertungsverbot
Beweisverwertungsverbote würden nur in Ausnahmefällen eingreifen, etwa wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es müsse also ein so schwerer Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das könne ein deutsches Gericht prüfen und feststellen. Diese Ansicht haben in Bezug auf „ANOM“-Verfahren verschiedene Oberlandesgerichte im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen geteilt und sich so positioniert, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar angesehen werden.
Rechtsprechung zu EncroChat nicht anwendbar …
Zwar habe der BGH in Bezug auf den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ entschieden, dass die durch die französischen Ermittlungsbehörden gewonnenen Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung mittels „EncroChat“ im Ergebnis verwertbar seien (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 639/21). Die in der Rechtsprechung zu den „EncroChat“-Fällen vertretene Ansicht, dass kein „Befugnis-Shopping“ im Sinne einer planmäßigen Umgehung eigener nationaler Vorschriften durch den Bezug von Beweisen aus dem Ausland vorliege, könne aber nicht für den vorliegenden Fall übernommen werden. Denn bei den „EncroChat“-Fällen stehe fest, dass sich der die Daten liefernde Server in Frankreich befand und dass durch das örtlich und sachlich zuständige französische (Ermittlungs-)Gericht die erforderlichen Beschlüsse zur Datenerhebung erlassen worden waren. So hätten die nationalen Gerichte die ihnen bereitgestellten französischen Beschlüsse auf eine eventuelle Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder auf einen eventuellen Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ hin überprüfen können.
… da Serverstandort nicht bekannt
Hingegen scheitere in den „ANOM“-Verfahren eine solche Überprüfung daran, dass durch das FBI oder das amerikanische Justizministerium nicht einmal das den Server beherbergende Drittland genannt wird, geschweige denn die dort ergangenen gerichtlichen Beschlüsse zur Datenerhebung zur Verfügung gestellt werden. Die gerichtlichen Beschlüsse des Drittlands seien damit bislang nur vom Hörensagen bekannt. Mit diesem Umstand hätten sich die vorliegenden Entscheidungen der OLG ersichtlich nicht befasst. Angesichts der zeitlich frühen Befassung der OLG mit dem „ANOM“-Komplex könne diesen auch kaum der im hiesigen Verfahren erlangte Kenntnisstand vorgelegen haben, zumal zeitlich später erfolgte Rechtshilfemaßnahmen der GStA Frankfurt am Main und wesentliche erst Anfang 2023 erlangte Erkenntnisse von der GStA Frankfurt am Main zurückgehalten und erst im Laufe der Hauptverhandlung in einem anderen beim LG Memmingen parallel verhandelten Verfahren zur Verfügung gestellt worden sind.
Mangelnde Überprüfbarkeit
Für einen Beschuldigten bestehe bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss gerichtlich zur Wehr zu setzen. Der zwischen den Mitgliedstaaten der EU etablierte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Sinne eines gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und in der Grundrechtscharta anerkannten Grundrechte zu bieten, darf sich für den Beschuldigten nicht dergestalt negativ auswirken, dass er keine Möglichkeit hat, die Ursprungsmaßnahme (hier in Bezug auf die Datenerhebung in dem Drittstaat) gerichtlich überprüfen zu lassen. Es bestehe für den Beschuldigten demnach eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu vereinbarende Rechtsschutzlücke. Unabhängig davon bestehe auch für die nationalen Gerichte wie vorliegend für die Kammer im Rahmen eines Strafverfahrens keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob bei Erlass des Beschlusses bzw. der Beschlüsse die rechtsstaatlichen Mindestgrundsätze eingehalten worden sind.
Beweislastumkehr
Wenn keinerlei Beschlüsse vorliegen, um die Einhaltung der rechtsstaatlichen Mindestanforderungen zu prüfen, unter welchen Umständen die Daten erlangt wurden und ob die Daten manipuliert wurden, müsse von einer Beweislastumkehr ausgegangen werden, sodass die Staatsanwaltschaft nachweisen müsse, dass rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt wurden und kein Beweisverwertungsverbot vorliege. So habe auch der EGMR in seinem Urteil vom 23.10.2014 (54648/09 [Furcht/Deutschland], MW 2015, 3631) ausgeführt, dass es der Strafverfolgungsbehörde obliegt, zu beweisen, dass keine zu einem Beweisverwertungsverbot führende Situation vorgelegen habe. Ferner habe der EGMR festgestellt, dass dieser Beweislast nur schwerlich genügt werden könne, wenn die Ermittlungsmaßnahme nicht förmlich genehmigt war, und auf die Notwendigkeit eines verständlichen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen und deren ordnungsgemäße Überwachung hingewiesen.
Paradoxes Ergebnis
Die Kammer weist noch darauf hin, dass es – anders als bei den „EncroChat“-Fällen, in denen bekannt sei, dass der Server in Frankreich gestanden habe und überprüfbare Beschlüsse eines französischen Ermittlungsgerichts existieren – bei den „ANOM“-Verfahren nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich bei dem vom FBI unter Verschluss gehaltenen Drittland sogar um Deutschland handelt. Das würde zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass ein sich mit einem „ANOM“-Verfahren befassendes deutsches Gericht daran gehindert wäre, einen nach den nationalen Vorschriften der StPO zur Telekommunikationsüberwachung und von einem deutschen Ermittlungsrichter erlassenen Beschluss zur Erhebung von Kommunikationsdaten zu überprüfen, obwohl die Ermittlungsmaßnahme in Deutschland erfolgt sei. Damit läge eine bewusste und vorsätzliche Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung vor, die die Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise zur Folge haben müsse.
„Befugnis-Shopping“
In Ermangelung hinreichender Informationen zur Auswahl des Drittstaats durch das FBI, zu den zwischenstaatlichen Absprachen und zu den im Drittstaat ergangenen gerichtlichen Beschlüssen könne außerdem ein sog. Befugnis-Shopping im Sinne einer planmäßigen Umgehung der eigenen nationalen Vorschriften nicht ausgeschlossen werden. Es bestehe die Möglichkeit, dass die deutschen Behörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung an der vorn FBI betriebenen Datengewinnung in einem anderen Land der Europäischen Union mitgewirkt haben, oder aber auch, dass das FBI zur Umgehung der in den USA geltenden maßgeblichen Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung einen Drittstaat ausgewählt habe, in dem niedrigere Hürden für die Anordnung einer Kommunikationsüberwachung als in den USA gelten, um dort gezielt Daten zu erheben. Für die zweitgenannte Möglichkeit spreche insbesondere der Umstand, dass die erhobenen „ANOM“-Daten Staatsbürger der USA oder in den USA ansässige bzw. aufhältige Personen nicht betreffen. Die US-Behörden legten insbesondere Wert darauf, dass amerikanisches Hoheitsgebiet nicht tangiert wird.
Anfangsverdacht
Letztlich war die Kammer auch nicht davon überzeugt, dass gegen jeden Erwerber bzw. Nutzer eines „ANOM“-Kryptohandys ein Anfangsverdacht der Begehung von Straftaten bestehe. Vielmehr handele es sich bei der von den Ermittlungsbehörden aufgestellten These, dass jeder Erwerber bzw. Nutzer dem kriminellen Milieu zuzuordnen sei und ausschließlich strafbare Inhalte auf den Kryptohandys generiert werden, um einen pauschalisierten Generalverdacht. Im Ergebnis laufe diese auf einem Generalverdacht beruhende, vollumfassende Überwachung aller Aktivitäten der „ANOM“-Nutzer auf eine anlasslose Massenüberwachung und damit eine im Kern geheimdienstliche Maßnahme hinaus. So erlangte Informationen können nicht zur Verwertung im Strafverfahren umgewidmet werden, da eine solche Maßnahme nach der StPO nicht zulässig ist und auch mit grundgesetzlichen Wertungen nicht in Einklang zu bringen sei (vgl. BVerfG NJW 2002, 2235, 2256).
III. Bedeutung für die Praxis
Rechtsprechung der OLG
1. Auch die vom LG Memmingen angeführten OLG sind in ihrer Rechtsprechung bisher im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen davon ausgegangen, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar anzusehen sind (OLG Jena, Beschl. v. 17.1.2022 – 3 Ws 476/21; OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 22.11.2021 – 1 HEs 427/21, StraFo 2022, 203; Beschl. v. 22.11.2021 – 1 HEs 427/21; Beschl. v. 14.2.2022 – 1 HEs 509/21 u.a.; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.11.2021 – HE 1 Ws 313-315/21; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 30.12.2022 – 4 HE 35/22; OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.12.2021 – H 6 Ws 176–177/21). Das LG Memmingen hat sie nun also als unverwertbar angesehen und sich mit der Begründung des von ihm angenommenen Beweisverwertungsverbots viel Mühe gemacht. Ebenso hat inzwischen das OLG München entschieden (Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23).
2. Aber: Der Krieg ist für den Angeklagten und seinen Verteidiger noch nicht gewonnen, sondern nur eine erste Schlacht. Denn die Staatsanwaltschaft hat die landgerichtliche Entscheidung natürlich nicht hingenommen und Revision eingelegt. Wir werden zu der Frage also demnächst etwas vom 1. Strafsenat des BGH hören. Das ist dann aber ggf. auch nur das nächste Wort. Kommt der BGH zu einem anderen Ergebnis, wird der Angeklagte im Zweifel gegen ein dann ihn verurteilendes Urteil Verfassungsbeschwerde einlegen. Ob das Wort aus Karlsruhe dann das letzte ist, wird man sehen. Vielleicht äußert sich ja auch der EGMR noch zu diesen Fragen.