Beitrag

Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme

Die für Verteidiger geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung einer Revision aus § 32d S. 2 StPO erstreckt sich nicht auf deren Zurücknahme.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 4.7.20234 StR 171/23

I. Sachverhalt

Weitere Pflichtverteidigerin nimmt Revision per Fax zurück

Das LG hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nachdem der Pflichtverteidiger der Beschuldigten frist- und formgerecht Revision gegen das Urteil eingelegt hatte, hat die weitere Pflichtverteidigerin der Beschuldigten mit Schreiben vom 27.2.2023, dem LG per Fax zugegangen am selben Tag, erklärt, dass sie „nach mehrfacher und ausführlicher Rücksprache mit der Mandantin und deren Betreuer“ die Revision zurücknehme.

Pflichtverteidiger bestreitet Wirksamkeit der Rücknahme

Mit Schreiben vom 13.3.2023 an das LG hat der Pflichtverteidiger erklärt, die Beschuldigte habe ihm mitgeteilt, eine Ermächtigung zur Rücknahme der Revision nicht erteilt zu haben. Am folgenden Tag hat er dem Landgericht frist- und formgerecht die Revisionsbegründung sowie ein Schreiben der Beschuldigten übermittelt, in welchem diese erklärt, dass sie ihre weitere Verteidigerin nicht ausdrücklich zur Revisionsrücknahme ermächtigt habe und für den Fall, dass sie „eine Erklärung abgegeben haben sollte, die als solcherart Ermächtigung zu werten sein könnte oder ist“, diese zurücknehme; an der Revision solle festgehalten werden. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 21.3.2023 hat die Pflichtverteidigerin sodann erklärt, dass die Beschuldigte sie „in vielen ausführlichen Telefonaten ab dem 9.2.2023 mehrfach darum gebeten [habe], die Revision gegen das Urteil vom 19.12.2022 zurückzunehmen“.

Feststellung der Wirksamkeit der Rücknahme

Mit Beschluss vom 13.4.2023 hat das LG festgestellt, dass die Revision der Beschuldigten wirksam zurückgenommen worden ist. Gegen diese Entscheidung des LG richtet sich der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts. Der BGH hat festgestellt, dass die Revision wirksam zurückgenommen worden ist.

II. Entscheidung

Formgerechte Rücknahme per Fax

Das Schreiben vom 27.2.2023, mit dem die Verteidigerin die Zurücknahme der Revision erklärt habe, sei – so der BGH – dem LG formgerecht übermittelt worden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH bestünden für die Rücknahmeerklärung wie auch für die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung grundsätzlich dieselben Formerfordernisse wie für die Einlegung des Rechtsmittels (vgl. BGHSt 18, 257, 260 m.w.N.; BGH wistra 2011, 314). Den somit zu beachtenden Anforderungen des § 341 Abs. 1 StPO genüge die Rücknahmeerklärung, denn sie sei schriftlich erfolgt (vgl. zur Wahrung der Schriftform durch Telefax GmS-OGB, Beschl. v. 5.4.2000 – GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 164).

Keine Ausdehnung des § 32d S. 2 StPO

Die für Verteidiger geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung einer Revision aus § 32d S. 2 StPO erstrecke sich nicht auf deren Zurücknahme (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2023, 81 = StRR 12/2022, 14; BeckOK-StPO/Cirener, 47. Ed., § 302 Rn 4; Valerius, ebd., § 32d Rn 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 302 Rn 7). Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus historischen und teleologischen Erwägungen. § 32d S. 2 StPO zähle diejenigen Prozesserklärungen auf, für die die Übermittlung als elektronisches Dokument zwingend vorgeschrieben und infolgedessen eine Wirksamkeitsvoraussetzung ist (vgl. BGH, Beschl. v. 20.4.2022 – 3 StR 86/22, StV 2022, 776 [Ls.] m.w.N.). Schriftsätze anderen Inhalts unterliegen demgegenüber nur der Sollvorschrift des § 32d S. 1 StPO. Ausweislich der Begründung des diesen Vorschriften zugrunde liegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (BT-Drucks 18/9416, S. 50 f.) handele es sich hierbei um eine bewusste Differenzierung, mit der der Gesetzgeber nur bestimmte schriftliche Erklärungen von Verteidigern oder Rechtsanwälten – nämlich nur solche, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie in einer besonders eilbedürftigen Situation abzugeben sind – der strengen Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs unterwerfen wollte. Die Erklärungen der Rechtsmittelrücknahme und des Rechtsmittelverzichts fehlen in dem Katalog des § 32d S. 2 StPO, was bei der Anwendung des Gesetzes unbeschadet des Umstandes, dass auch sie regelmäßig nicht eilbedürftig seien, hinzunehmen sei (so auch OLG Karlsruhe a.a.O.). Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 32d S. 2 StPO auf diese Prozesserklärungen sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, der die Rechtsprechung veranlasst hat, für sie grundsätzlich dieselbe Form zu verlangen wie für die Einlegung des Rechtsmittels. Denn dieser bestehe maßgeblich in dem Gedanken des Übereilungsschutzes; der Formzwang soll den zu der Erklärung Berechtigten zu einer gründlichen Prüfung des Für und Wider seines Schrittes veranlassen und ihn vor einer unüberlegten Entscheidung bewahren (vgl. BGHSt 18, 257, 260). Dies gewährleisten aber bereits die Formanforderungen des § 341 Abs. 1 StPO, namentlich das hier gewahrte Schriftformerfordernis. Die für Rechtsanwälte geltenden Pflichten zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs seien hingegen weder geeignet noch bestimmt, diesen Schutz weiter zu erhöhen; sie sollten vielmehr lediglich sicherstellen, dass die vom Gesetzgeber gewollten Vorteile der elektronischen Aktenführung verwirklicht werden können (vgl. KK-StPO/Graf, 9. Aufl., § 32d Rn 1). Sie auf die im Gesetz nicht genannten Prozesserklärungen nach § 302 StPO zu erweitern, sei somit auch teleologisch nicht veranlasst.

Rücknahme durch anderen Pflichtverteidiger

Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung stehe auch nicht entgegen, dass sie nicht von demjenigen Pflichtverteidiger abgegeben worden ist, der auch die Revision eingelegt hatte (vgl. BGH, Beschl. v. 7.7.1995 – 3 StR 205/95). Die Verteidigerin sei zu der Erklärung ermächtigt gewesen (§ 302 Abs. 2 StPO). Für diese Ermächtigung sei eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, sodass sie auch mündlich und telefonisch erteilt werden könne. Für ihren Nachweis genüge die anwaltliche Versicherung des Verteidigers (vgl. BGH, Beschl. v. 8.10.2019 – 1 StR 327/19). Eine solche habe sowohl das Rücknahmeschreiben der Verteidigerin vom 27.2.2023 als auch deren weitere schriftliche Stellungnahme vom 21.3.2023 enthalten. Deren Beweiswirkung werde auch durch das von dem anderen Verteidiger eingereichte Schreiben der Beschuldigten vom 14.3.2023 nicht entkräftet. Denn aus diesem gehe hervor, dass die Beschuldigte sich gerade nicht imstande sehe auszuschließen, dass sie ihrer Verteidigerin gegenüber – wie von dieser vorgetragen – eine Erklärung abgegeben habe, die als Ermächtigung „zu werten“ war.

Kein Widerruf der Ermächtigung

Die Beschuldigte habe die der Verteidigerin erteilte Ermächtigung auch nicht wirksam widerrufen. Ein Widerruf der Ermächtigung zur Revisionsrücknahme sei nur zulässig, solange die Rücknahmeerklärung noch nicht bei Gericht eingegangen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2017, 185, 186). Dies sei aber am 14.3.2023 bereits geschehen gewesen; ein zu einem früheren Zeitpunkt der Verteidigerin gegenüber erklärter Widerruf der Ermächtigung sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ein Widerruf oder eine Anfechtung der Rücknahmeerklärung selbst komme nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschl. v. 18.2.2021 – 4 StR 447/20 Rn 4 m.w.N.).

Prozessuale Handlungsfähigkeit

Schließlich bestanden nach Auffassung des BGH auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte nicht in der Lage gewesen sein könnte, die Bedeutung der von ihr abgegebenen Erklärung zu erfassen (vgl. zur maßgeblichen prozessualen Handlungsfähigkeit u.a. BGH NStZ 2017, 487, 488 m.w.N.). Zwar sei ausweislich der Urteilsgründe bei der Beschuldigten in der Kindheit eine Grenzbegabung (IQ 73) festgestellt worden und sie habe nur bis zu ihrem 14. Lebensjahr die Schule, eine Förderschule, besucht. Überdies bestehe bei ihr eine paranoide Schizophrenie. Allerdings hätte deren Symptomatik durch die der Beschuldigten in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verabreichten antipsychotischen Medikamente erheblich vermindert werden können, sodass im Urteilszeitpunkt Halluzinationen zwar noch vorhanden, aber nicht mehr handlungsleitend waren. Der Beschuldigten habe ihre Erkrankung und die Bedeutung der medikamentösen Therapie jedenfalls oberflächlich vermittelt werden können. Die Beschuldigte sei ausweislich des im Freibeweisverfahren verwertbaren Akteninhalts (vgl. BGH NStZ 2017, 487, 488 m.w.N.) zudem bereits während des laufenden landgerichtlichen Verfahrens in der Lage gewesen, sich mit schriftlichen Eingaben unter Angabe der Aktenzeichen an die Staatsanwaltschaft und „den zuständigen Richter“ zu wenden und auf in sich schlüssige Weise ihre Interessen wahrzunehmen, insbesondere ihre „Entlassung auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug“ unter Äußerung des Bedauerns über die Anlasstaten und dem Versprechen, sich an etwaige Bewährungsauflagen halten zu wollen, anzuregen. Auch ihr Schreiben vom 14.3.2023, mit dem sie nicht geltend mache, die Bedeutung einer von ihr erteilten Ermächtigung zur Zurücknahme der Revision nicht verstanden zu haben, sondern nur die Erteilung in Abrede stelle und eine etwa doch erklärte Ermächtigung widerrufe, spreche für die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten, welche im Übrigen auch das Landgericht – auf der Grundlage seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks – ohne Weiteres angenommen habe.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Im Grunde genommen handelt es sich um einen klassischen Fall der Rücknahme eines Rechtsmittels mit nachträglicher Reue des Beschuldigten, der die Rücknahme dann gerne rückgängig machen möchte. Die vom BGH insoweit aufgestellten Hürden sind, wie der Fall, zeigt, hoch und konnten hier nicht überwunden werden.

2. Neu sind allerdings die Ausführungen des BGH zur Anwendbarkeit des § 32d S. 2 StPO auf die Rücknahmeerklärung, die der BGH ablehnt. Er schließt sich damit einer zu der Frage bereits vorliegenden Entscheidung des OLG Karlsruhe (a.a.O.) an. Diese Auffassung ist zutreffend (vgl. dazu bereits die Anmerkung in StRR 12/2022, 14, auf die, um Wiederholungen zu vermeiden, verwiesen wird.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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