Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist im Regelfall nach Ablauf von sechs Monaten unverhältnismäßig.
(Leitsatz des Verfassers)
Das AG hat den Angeklagten, einen Heranwachsenden, wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt, ihm die Fahrerlaubnis entzogen und seinen Führerschein eingezogen. Der Angeklagte hat gegen seine Verurteilung Rechtsmittel eingelegt. Daraufhin hörte das AG ihn mit Schreiben zur beabsichtigen vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis an. Die Staatsanwaltschaft hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das AG hat dann dem Angeklagten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass die Anordnung nach § 111a StPO bis zur Rechtskraft des Urteils zulässig sei. Es handle sich um eine Ermessensentscheidung. Im Vorfeld der Hauptverhandlung habe das Gericht hiervon keinen Gebrauch gemacht, da absehbar gewesen sei, dass zeitnah verhandelt werden würde und einer Entscheidung im Hauptverfahren Vorrang eingeräumt worden sei. Nachdem nunmehr für das Gericht die Verwirklichung des Tatbestandes, der die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen indiziere, zweifelsfrei feststehe, sei nach Eingang des Rechtsmittels eine Anordnung nach § 111a StPO unerlässlich.
Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte in der Sache Erfolg.
Das LG hat die Verhältnismäßigkeit der Entziehung verneint. Bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis handele es sich um eine eilige vorbeugende Maßnahme, die die Allgemeinheit bereits vor Urteilserlass vor den Gefahren schützen sollen, die von einem ungeeigneten Kraftfahrer ausgehen. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis gingen daher erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits sowie dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits einher (vgl. Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, StPO § 111a Rn 3).
Nach ständiger Rechtsprechung des LG sei eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dabei nach Ablauf von sechs Monaten im Regelfall unverhältnismäßig. Die Kammer trete dieser Auffassung bei, da sie nicht nur klare und seit Jahren im Bezirk etablierte Orientierung sei, sondern auch noch hinreichend Raum dafür lasse, die Sicherheitsbelange der Allgemeinheit und die weiteren Umstände des Einzelfalls, namentlich die Gründe des eingetretenen Zeitablaufs, in den Blick zu nehmen. Die vom AG durch das erstinstanzliche Urteil festgestellte Anlasstat sei bereits am 12.6.2022 erfolgt, sodass bis zur vorläufigen Entziehung durch Beschluss vom 31.1.2023 über sieben Monate verstrichen seien. Es lägen keinerlei Erkenntnisse dafür vor, dass der Angeklagte seither nochmals im Straßenverkehr aufgefallen ist. Vielmehr sei sein zeitweise sichergestelltes Fahrzeug am 5.7.2022 durch die Staatsanwaltschaft freigegeben worden, die auch hiernach über Monate keinen Antrag nach § 111a StPO gestellt habe. Der Angeklagte habe seither und bis zur Zustellung des angefochtenen Beschlusses die Möglichkeit der Teilnahme am Straßenverkehr gehabt, ohne dass zwischenzeitlich erneute verkehrsrechtliche Verstöße bekannt geworden seien. Wenn ein Beschuldigter indes nicht zeitnah nach Bekanntwerden der Tat daran gehindert werde, mit einem von ihm geführten Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilzunehmen, so sei eine Entscheidung über die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis abzuwarten, zumal diese vorliegend auch in Gestalt des erstinstanzlichen – wenn auch nicht rechtskräftigen – Urteils ergangen sei, ohne dass zugleich mit dem Urteil die vorläufige Entziehung angeordnet worden sei. Es sei ohne neuerliche Verkehrsauffälligkeiten aufgrund des Zeitablaufs insoweit kein Raum mehr für eilige vorbeugende Maßnahmen zum Schutze der Allgemeinheit nach § 111a StPO. Ein zur Schwere des Eingriffs in Verhältnis stehendes Eilbedürfnis könne nunmehr nicht mehr erkannt werden, zumal in Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende eine besonders sorgfältige und einzelfallorientierte Prüfung für erforderlich erachtet werde.
Die anderweitige Argumentation des AG könne jedenfalls im hiesigen Fall nicht überzeugen. Zwar sei es im Grundsatz zutreffend, dass eine vorläufige Entziehung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens möglich sei. Wenn hiermit indes bei einem zur Tatzeit noch Heranwachsenden über sieben Monate und bis zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen das erstinstanzliche Urteil zugewartet werde, dann lasse sich mit Blick hierauf und durch die seither bestehende Unauffälligkeit des Betroffenen kein hinreichendes Eil- und Sicherungsbedürfnis mehr begründen, das die vorläufige Entziehung noch verhältnismäßig erscheinen lasse. Eine andere Beurteilung rechtfertige vorliegend auch die Schwere der erstinstanzlich festgestellten Tat oder ein vermeintliches Vorrangverhältnis einer Klärung im Hauptverfahren nicht. Es seien vorliegend auch keine Gründe aus der Sphäre des Angeklagten ersichtlich, die hier den Zeitablauf bedingt haben könnten und eine andere Beurteilung rechtfertigen.
1. Das LG begründet m.E. recht vornehm, warum die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht – mehr – zulässig war. Denn man hätte auch etwas dazu sagen können, dass die amtsgerichtliche Entscheidung schon den Beigeschmack einer Retourkutsche = Antwort auf die Berufungseinlegung hatte. Denn wenn nicht bis zum Urteil und dann im Urteil entzogen wurde, fragt man sich schon, warum dann nach der Berufungseinlegung die vorläufige Entziehung erfolgt. Das gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass mit Vorlegung der Akten an das Berufungsgericht dieses zuständig geworden wäre (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 111a Rn 8).
2. Zur Verhältnismäßigkeit der „späten“ vorläufigen Entziehung Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 5252 ff. m.w.N.
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