Vollziehung eines Vermögensarrests: Sicherungshypothek
Das in § 111h Abs. 2 S. 1 StPO angeordnete Vollstreckungsverbot findet auf die Vollziehung eines Vermögensarrests i.S.d. § 111f StPO generell keine Anwendung. Infolgedessen wird die Eintragung einer weiteren Sicherungshypothek aufgrund desselben – noch nicht ausgeschöpften – oder eines anderen Vermögensarrests nicht ausgeschlossen, wenn das Grundstück eines Beschuldigten mit einer Sicherungshypothek belastet ist, die in Vollziehung eines Vermögensarrests in das Grundbuch eingetragen worden ist.
BGH, Beschl. v. 6.7.2023 – V ZB 68/22
Pflichtverteidiger: Betreuung
Es macht nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten, ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen.
LG Wuppertal, Beschl. v. 23.8.2023 – 26 Qs 232/23
Pflichtverteidiger: Störung des Vertrauensverhältnisses
Eine Störung des Vertrauensverhältnisses ist aus Sicht eines verständigen Angeklagten zu beurteilen und von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen. Insoweit kann von Bedeutung sein, wenn ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt. Dass der Pflichtverteidiger den Angeklagten aber nicht so oft besucht hat, wie es sich dieser gewünscht hätte, ist kein Grund nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO und kann eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses nicht begründen.
OLG Naumburg, Beschl. v. 4.9.2023 – 1 Ws 326/23
LG Magdeburg, Beschl. v. 10.8.2023 – 2 Ks 2/23
Urteilsunterschrift: Anforderungen
Ob eine Unterschrift des Richters den Anforderungen des § 275 Abs. 2 S. 1 StPO genügt, hängt maßgeblich davon ab, ob der Unterschrift die Urheberschaft zu entnehmen ist. Auch wenn die Unterschrift, die aus dem Familiennamen des Unterzeichnenden zu bestehen hat, nicht lesbar sein muss, so muss sie ihren Urheber erkennen lassen. Steht die Urheberschaft außer Frage, ist für die Akzeptanz einer unleserlichen Unterschrift ein großzügiger Maßstab anzuwenden, und zwar auch wegen der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen.
KG, Beschl. v. 1.9.2023 – 3 ORs 52/23 — 161 Ss 130/22
Änderung des Geschäftsverteilungsplans: unterjährige Änderung
Eine unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans, mit der bereits anhängige Verfahren übertragen werden, ist allein dann zulässig, wenn nur so dem Beschleunigungsgebot angemessen Rechnung getragen werden kann.
OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.8.2023 – 2 OLG 53 Ss 80/22
Urteilsanfechtung: Beschwer
Ein Angeklagter kann ein gegen ihn ergangenes Urteil nicht allein deswegen anfechten, weil gegen ihn neben der Strafe keine Maßregel nach § 64 StGB angeordnet worden ist. Dies gilt auch, wenn nach Aufhebung und Zurückverweisung allein noch über die Frage zu entscheiden war, ob die Maßregel anzuordnen sei.
BGH, Beschl. v. 1.8.2023 – 5 StR 279/23
beA: Weitergabe von beA-Karte und Zugangsdaten
Der Rechtsanwalt darf seine beA-Karte und die Zugangsdaten nicht weitergeben. Nach § 26 Abs. 1 Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung (RAVPV) darf der Inhaber eines für ihn erzeugten Zertifikats dieses keiner anderen Person überlassen und muss auch die PIN geheim halten.
BGH, Beschl. v. 20.6.2023 – 2 StR 39/23
Ersatzzustellung: Wirksamkeit
Die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung durch Einlegen des zuzustellenden Schriftstücks in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten wird nicht durch einen offensichtlichen Schreibfehler in der Zustelladresse berührt. Eine offensichtliche Unrichtigkeit, die der Berichtigung zugänglich wäre, beeinträchtigt den Beweiswert der über den Zustellvorgang erstellten Urkunde auch dann nicht, wenn eine Berichtigung unterblieben ist.
BayObLG, Beschl. v. 31.7.2023 – 102 AR 128/23 e
Verwerfungsurteil: erforderliches Rügevorbringen bei Vorlage eines ärztlichen Attests
Im Revisionsverfahren befreit die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung den Angeklagten nicht von dem Erfordernis, zu seinem Krankheitszustand im Zeitpunkt der Hauptverhandlung vorzutragen. Ein gesonderter Revisionsvortrag zu dem am Verhandlungstag bestehenden Krankheitszustand des Angeklagten ist nur dann entbehrlich, wenn und soweit die ärztliche Bescheinigung Angaben enthält, die hinreichend konkret und belastbar den Rückschluss zulassen, dass der diagnostizierte Krankheitszustand und dessen Symptome auch noch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vorlagen.
KG, Urt. v. 24.7.2023 – 3 ORs 38/23 – 121 Ss 84/23
Haftentschädigung: grobe Fahrlässigkeit
Liegt einer Erklärung des Beschuldigten ein Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht gemäß §§ 136 Abs. 1, 163a StPO zugrunde, rechtfertigt eine Selbstbelastung nicht ohne Weiteres den Vorwurf einer grob fahrlässigen Verursachung einer Strafverfolgungsmaßnahme.
OLG Köln, Beschl. v. 1.8.2023 – 2 Ws 654/22
Haftbefehl: Wiederholungsgefahr
§ 30a BtMG ist keine Katalogtat i.S.d. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO. Als Anlasstat reichen aufgefundene Betäubungsmittel – 7,56 Gramm netto Kokain-Hydrochlorid – nicht aus.
LG Kiel, Beschl. v. 8.9.2023 – 7 KLs 593 Js 43392723
Einziehung: Einziehungsobjekte
Nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB beiseite geschaffte oder verheimlichte Gegenstände oder wirtschaftliche Vorteile sind Taterträge i.S.d. § 73 Abs. 1 Alt. 1 StGB. Gegenstände, die der Täter oder ein Einziehungsbeteiligter als Wertersatz hinterlegt hat, um die Freigabe eines beschlagnahmten Rechts zu bewirken, unterliegen ungeachtet dessen, dass insoweit § 111d Abs. 2 S. 2 StPO keine (analoge) Anwendung findet, der Einziehung, sofern das später erkennende Gericht die Voraussetzungen der Einziehung des beschlagnahmten Rechts feststellt.
BGH, Beschl. v. 14.6.2023 – 1 StR 327/22
Fahrverbot: isolierte Sperrfrist
Die Anordnung eines Fahrverbots und die Festsetzung einer isolierten Sperrfrist schließen einander regelmäßig aus. Ein Fahrverbot kommt neben der Festsetzung einer isolierten Sperrfrist nur in Betracht, wenn das Gericht dem Täter auch das Fahren mit fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen verbieten oder bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen von der Sperre ausnehmen will (§ 69a Abs. 2 StGB).
OLG Hamm, Beschl. v. 8.8.2023 – 5 ORs 46/23
Entziehung der Fahrerlaubnis: bedeutender Schaden
Ein bedeutender Schaden an fremden Sachen i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist entstanden, wenn die Reparatur eines Kfz die Wertgrenze von 1.800 EUR überschreitet. Bei der Beurteilung eines Schadens als bedeutend i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB sind auch die fortschreitende Entwicklung der Reparaturkosten und die Einkommensentwicklung zu berücksichtigen.
LG Hamburg, Beschl. v. 9.8.2023 – 612 Qs 75/23
Beleidigung: Begriffe „Wichser“ und „Schwuchtel“
Sofern weder eine Schmähung oder Schmähkritik noch eine Formalbeleidigung noch ein Angriff auf die Menschenwürde vorliegen, die eng umgrenzte Ausnahmekonstellationen darstellen, ist eine Einzelfallabwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der Meinungsfreiheit des Angeklagten erforderlich. Wenn der Angeklagte einen Obergerichtsvollzieher während dessen rechtmäßiger Dienstausübung bei Anwesenheit Dritter über einen längeren Zeitraum als „Wichser“ und „Schwuchtel“ beschimpft, liegt eine nicht gerechtfertigte Beleidigung vor.
BayObLG, Beschl. v. 15.8.2023 – 204 StRR 292/23
Trunkenheitsfahrt: Nachtrunkbehauptung
Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht – vor der Rückrechnung – zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann. Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen.
BayObLG, Beschl. v. 15.8.2023 – 203 StRR 317/23
Bestechung: Strafklageverbrauch wegen OWi
Liegt der motivische Anlass für eine Bestechung u.a. in der Eröffnung des Verdachts der Begehung einer punktbewehrten Verkehrsordnungswidrigkeit begründet, ist also die Bestechungshandlung die direkte und spontane Reaktion auf die befürchteten Folgen der Ordnungswidrigkeit, so bildet sie mit der Ordnungswidrigkeit einen einheitlichen Lebensvorgang, der zur Annahme einer einheitlichen Tat führt.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.3.2023 – 1 ORs 28 Ss 120/23
Strafzumessung: Regelbeispiel
Eine vollständig unterbliebene Erörterung des denkbaren Abweichens von der Regelwirkung nach § 177 Abs. 6 S. 2 StGB lässt besorgen, dass das Tatgericht die Ausgestaltung der Norm als Regelbeispiel verkannt hat.
KG, Beschl. v. 1.9.2023 – 3 ORs 52/23 — 161 Ss 130/22
Messunterlagen: Einsichtsrecht des Betroffenen
Die Verwaltungsbehörde hat dem Verteidiger der Betroffenen oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen auf seinen Antrag sämtliche auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, die erforderlich sind, um der Betroffenen zu ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen selbstständig zu überprüfen.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.8.2023 – 1 ORbs 34 Ss 468/23
Bestimmung der Rahmengebühr: Bindungswirkung
Bei der Bestimmung der angemessenen Gebühr gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG handelt es sich um eine Leistungsbestimmung i.S.v. § 315 BGB. Diese ist als einseitige Willenserklärung grundsätzlich unwiderruflich und für den bestimmungsberechtigten Rechtsanwalt bindend.
OLG Schleswig, Beschl. v. 26.7.2023 – 7 U 42/23
Verbindung von Verfahren: Terminsgebühren
Voraussetzung für die sich durch eine Verbindung ergebende Folge, nämlich ein einheitliches Verfahren, ist, dass der Verbindungsbeschluss nicht nur „aktenmäßig“ erlassen ist. Er muss auch schon „ergangen“ sein. Das ist aber erst der Fall, wenn er für das Gericht unabänderlich ist. Das ist ggf. erst mit der Verkündung in der HV der Fall, sodass bis dahin selbstständige Verfahren vorliegen, in denen ggf. Gebühren entstehen können, wie z.B. die Terminsgebühr.
LG Kiel, Beschl. v. 21.6.2023 – 2 Qs 41/23
Zusätzliche Verfahrensgebühr: fehlende Verfahrenshandlung des Verteidigers
Der Verteidiger ist nicht verpflichtet, auf eine Fortsetzung des Bußgeldverfahrens gegen seinen Mandanten in unverjährter Zeit hinzuwirken. Unterlässt er daher für die Fortsetzung des Verfahrens erforderliche Verfahrenshandlungen, kann ihm das nicht im Rahmen der Geltendmachung einer zusätzlichen Verfahrensgebühr entgegengehalten werden.
LG Freiburg, Beschl. v. 21.8.2023 – 16 Qs 30/23
Zusätzliche Verfahrensgebühr: fehlende Verfahrenshandlung des Verteidigers
Wartet der Verteidiger mit einer Tätigkeit, auf die der Verfahrensfortgang zwingend angewiesen ist, bis die Verfolgungsverjährung eingetreten ist, führt er somit absichtlich die Verfolgungsverjährung herbei und kann deshalb nicht die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV RVG geltend machen.
AG Freiburg, Beschl. v. 10.5.2023 – 76 OWi 48/23