1. Den gesetzlichen Regelungen des RVG ist nicht zu entnehmen, dass in den Fällen straßenverkehrsrechtlicher Bußgeldverfahren grundsätzlich von einer unterdurchschnittlichen Bedeutung der Sache i.S.d. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG auszugehen ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Rahmen des Zwischenverfahrens die technischen Voraussetzungen der Messung, die der in einem Bußgeldbescheid vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde liegt, durch ein privates Sachverständigengutachten überprüft werden sollen.
2. Die Kosten für die Einholung eines privaten Sachverständigengutachtens im Rahmen eines Bußgeldverfahrens sind dann als notwendige Kosten i.S.d. § 46 Abs. 1 OWiG, §§ 467 Abs. 1, 464a Abs. 1 S. 2 StPO anzusehen, wenn ohne die Anbringung durch sachverständige Feststellungen unterlegte, konkrete Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung damit zu rechnen gewesen wäre, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 S. 2 StPO ablehnen würde.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
AG holt nach Vorlage eines privaten SV-Gutachtens gerichtliches SV-Gutachten ein
Dem Betroffenen ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer BAB zur Last gelegt worden. Es wurde deshalb eine Geldbuße i.H.v. 100 EUR gegen ihn festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Betroffene mit anwaltlichem Schriftsatz Einspruch ein. Der Betroffene beauftragte einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens hinsichtlich der Ordnungsgemäßheit der durchgeführten Messung. In dem sodann erstellten und dem Amtsgericht vorgelegten Gutachten kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Messserie im Hinblick auf die Fotopositionen Auffälligkeiten aufweise. Das AG hob daraufhin einen zuvor bereits bestimmten Hauptverhandlungstermin auf und beauftragte seinerseits einen Sachverständigen mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens. Der gerichtliche Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die einwandfreie elektronische Funktion der Messanlage für den Messzeitraum nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden könne. Der Betroffene wurde daraufhin im Beschlusswege (§ 72 OWiG) freigesprochen und die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse auferlegt.
Betroffener macht Mittelgebühr und Kosten des SV-Gutachtens geltend
Der Betroffene hat nun beantragt, seine notwendigen Auslagen gegen die Landeskasse festzusetzen. Dabei ist er bei den anwaltlichen Gebühren jeweils von der Mittelgebühr ausgegangen. Die Bezirksrevisorin hat das teilweise, u.a. bei der Verfahrensgebühr Nr. 5103 VV RVG, beanstandet. Zudem hat sie der Festsetzung der Kosten für den privat durch den Betroffenen beauftragten Sachverständigen widersprochen. Eine Verwendung des privaten Sachverständigengutachtens sei im Verfahren nicht erfolgt. Zudem sei es Aufgabe der Verteidigung, anhand von Rechtsprechung und Literatur selbst zu prüfen, ob es Anhaltspunkte für Messfehler und sonstige Ungenauigkeiten gegeben habe.
AG setzt nur teilweise fest
Das AG hat die Auslagen unter Berücksichtigung der Ausführungen der Bezirksrevisorin festgesetzt. Eine Festsetzung der Umsatzsteuer erfolgte ebenfalls nicht, da der Betroffene vorsteuerabzugsberechtigt sei. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hatte Erfolg.
II. Entscheidung
Höhe der Rahmengebühren
Nach Auffassung des LG entsprechen die von dem Verteidiger geltend gemachten Gebühren billigem Ermessen und seien daher verbindlich (§ 14 Abs. 1 S. 1, 4 RVG).
Allgemeine Grundsätze
Die Bemessung von Rahmengebühren habe der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen vorzunehmen. Unbillig und damit nach § 14 Abs. 1 S. 4 RVG unverbindlich sei der Gebührenansatz dann, wenn die beantragte Gebühr um mehr als 20 % über der angemessenen Gebühr liege, da einem Rechtsanwalt insoweit eine Toleranzgrenze eingeräumt wird (BGH, Urt. v. 31.10.2006 – VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420, 421 m.w.N.). Maßgebliche Kriterien für die Bemessung von Rahmengebühren seien u.a. Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auftraggebers. Die sog. Mittelgebühr ist anzusetzen, wenn der „Normalfall“ vorliegt, also ein Fall, in dem sämtliche, vor allem die nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG zu berücksichtigenden Umstände durchschnittlicher Art sind (Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 26. Aufl. 2023, § 14 Rn 10). Aus Sicht der Kammer ergibt sich aus den gesetzlichen Regelungen des RVG kein Grund dafür, in den Fällen straßenverkehrsrechtlicher Bußgeldverfahren grundsätzlich davon auszugehen, dass der Ansatz der Mittelgebühr als Ausgangspunkt nicht gerechtfertigt ist (so auch Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., Rn 54 m.w.N.). Vielmehr sei stets der konkrete Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts zu bemessen.
Verfahrensgebühr Nr. 5103 VV RVG
Die Verfahrensgebühr nach Nr. 5103 VV RVG entstehe für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information durch den Rechtsanwalt. Dazu gehören insbesondere auch die Tätigkeiten im gerichtlichen Zwischenverfahren oder in Zusammenhang mit Rechtsbehelfen betreffend Akteneinsicht (Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., RVG VV 5101 Rn 4). Der Verteidiger habe vorliegend nicht nur den Einspruch eingelegt, sondern im Rahmen des Zwischenverfahrens nach vorheriger Besprechung mit dem Betroffenen ein privates Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Insofern sei bereits zu diesem Zeitpunkt eine Auseinandersetzung mit den technischen Voraussetzungen der Messung erforderlich. Daher habe die Kammer keine Anhaltspunkte für einen unterdurchschnittlichen Arbeitsaufwand des Verteidigers im Hinblick auf vergleichbare Verfahren in diesem Verfahrensstadium.
Hinzu komme, dass dem Betroffenen ausweislich des rechtlichen Hinweises des Amtsgerichts die Verhängung eines Fahrverbots gedroht habe. Die ausgesprochene Geldbuße i.H.v. 100 EUR habe zudem zwar am unteren, jedoch nicht am untersten Rand innerhalb des Gebührenrahmens von 60 EUR bis 5.000 EUR gelegen. Daher sei auch die Bedeutung der Sache nicht als unterdurchschnittlich anzusehen.
Auch entspreche die Schwierigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hier einem durchschnittlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren betreffend eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Jedenfalls aber liege die angemessene Gebühr innerhalb der Toleranzgrenze von 20 % ausgehend von der Mittelgebühr.
Kosten des privaten Sachverständigengutachtens – Erstattungsvoraussetzungen
Darüber waren nach Auffassung des LG dem Betroffenen auch die Auslagen für das durch seinen Verteidiger in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten zu erstatten. Es habe sich hier um notwendige Auslagen i.S.d. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 467 Abs. 1, 464a Abs. 2 StPO gehandelt. Notwendige Auslagen seien die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Aufwendungen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich waren (LG Aachen, Beschl. v. 12.7.2018 – 66 Qs-509 Js-OWi 2524/16-31/18).
Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen seien in der Regel nicht notwendig, weil Ermittlungsbehörden (§ 160 Abs. 1 u. 2 StPO) und Gericht (§ 244 Abs. 2 StPO) von Amts wegen zur Sachaufklärung und zur Beachtung des Zweifelssatzes verpflichtet seien und die Betroffenen daneben regelmäßig durch Initiativanträge, insbesondere Beweisanträge, das Gericht zu der begehrten Beweisaufnahme bestimmen können und werden (KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, § 464a Rn 7 m.w.N.). Die Kosten für die Einholung eines privaten Sachverständigengutachtens seien jedoch u.a. dann ausnahmsweise als notwendige Kosten anzuerkennen, wenn schwierige technische Fragestellungen zu beurteilen sind oder wenn aus Sicht des Betroffenen ex ante ein privates Sachverständigengutachten erforderlich sei, da ansonsten eine erhebliche Verschlechterung der Prozesslage zu befürchten wäre (LG Göttingen, Beschl. v. 4.7.2022 – 1 Qs 13/22 m.w.N.). Unabhängig von der subjektiven Bewertung der Prozesslage durch den Betroffenen seien die Kosten eines durch ihn in dem Bußgeldverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens nach einem Freispruch von dem Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit aber jedenfalls dann erstattungsfähig, wenn das eingeholte Privatgutachten zu dem Freispruch beigetragen hat (vgl. LG Aachen a.a.O.; Beschl. v. 30.9.2019 – 66 Qs 58/19).
Erstattungsvoraussetzungen erfüllt
Diese Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Sachverständigenkosten waren nach Auffassung der Kammer hier gegeben. Das durch den Verteidiger des Betroffenen beauftragte Sachverständigengutachten habe erkennbar zu dem Freispruch des Betroffenen beigetragen. Das werde schon daran deutlich, dass das AG nach dem Eingang des Verfahrens bereits Termin zur Hauptverhandlung bestimmt und im Rahmen der Ladung explizit darauf hingewiesen hatte, dass aus seiner Sicht Anhaltspunkte für einen Messfehler derzeit nicht ersichtlich seien. Allein das sodann durch den Verteidiger vorgelegte Sachverständigengutachten habe dazu geführt, dass das AG den Termin zur Hauptverhandlung aufgehoben und seinerseits einen Sachverständigen mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens zu der Frage, ob das Ergebnis der Messung am Tattag zur Tatzeit am Tatort mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit des streitgegenständlichen Kraftfahrzeugs nicht übereinstimme, beauftragt habe. Ohne die Anbringung konkreter Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung wäre daher damit zu rechnen gewesen, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 S. 2 StPO ablehnen würde. Zur Überprüfung auf solche Zweifel sei angesichts der technisch komplizierten Materie aber die Überprüfung durch einen Sachverständigen notwendig (so auch LG Oldenburg, Beschl. v. 28.3.2022 – 5 Qs 108/20, AGS 2022, 272). Hinzu komme, dass in dem durch das Gericht eingeholten Sachverständigengutachten ausdrücklich auf das Privatgutachten des Betroffenen Bezug genommen und weitgehend Übereinstimmung in den festgestellten Ergebnissen konstatiert wurde. Vor dem Hintergrund dieser objektiven Umstände sei es nicht entscheidungserheblich, dass das Amtsgericht in seiner Entscheidungsbegründung nicht ausdrücklich auch auf das Privatgutachten des Betroffenen verwiesen habe. Der Beitrag des durch den Betroffenen eingeholten Sachverständigengutachtens zu seinem Freispruch ergibt sich vielmehr aus dem tatsächlichen Verfahrensverlauf.
Umsatzsteuer
Schließlich war dem Betroffenen auch die beantragte Umsatzsteuer zu erstatten. Für die Frage, ob einem Freigesprochenen die von seinem Verteidiger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer erstattet werden kann, komme es nach § 464b S. 3 StPO i.V.m. § 104 Abs. 2 S. 3 ZPO nicht darauf an, ob der Freigesprochene generell vorsteuerabzugsberechtigt ist, sondern ob er die von seinem Verteidiger in Rechnung gestellten Beträge tatsächlich als Vorsteuer abziehen könne (LG Berlin, Beschl. v. 8.1.1996 – 519 Qs 463/95). Für das Strafverfahren könne in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Vorsteuer auf Verteidigerkosten nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden kann, weil es sich bei der Verteidigertätigkeit nicht um eine Leistung für das Unternehmen des Freigesprochenen i.S.d. § 15 UStG handelt (LG Berlin a.a.O.; vgl. auch BFH, Urt. v. 11.4.2013 – V R 29/10, BFHE 241, 438, BStBl Il 2013, S. 840). Diese Grundsätze müssten evident auch für das ebenfalls von einem Sanktionscharakter geprägte Ordnungswidrigkeitenrecht gelten. Hier gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es dem Betroffenen möglich gewesen sei, die Kosten der Verteidigung aufgrund seiner unternehmerischen Tätigkeit als Maschinentechniker als Vorsteuer abzuziehen.
III. Bedeutung für die Praxis
In allen Punkten zutreffend
Die Entscheidung ist in allen drei vom LG angesprochenen Punkten zutreffend. Das gilt sowohl hinsichtlich der Bemessung der Rahmengebühr (dazu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- Und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 1747 ff. und Vorbem. 5 VV Rn 54 ff.). Das gilt vor allem aber auch wegen der Erstattung der Kosten des privaten Sachverständigengutachtens (dazu vor Kurzem Burhoff, AGS 2023, 193). Schließlich ist auch gegen die Festsetzung der USt nichts einzuwenden.