1. Um die Beweiswürdigung des Tatrichters auf sachlich-rechtliche Fehler hin überprüfen zu können, bedarf es einer geschlossenen und zusammenhängenden Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten. Der bloße Hinweis, das Geständnis entspreche dem „aktenkundigen Ermittlungsergebnis“, genügt dafür nicht. …
2. Eine Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB kommt auch dann in Betracht, wenn sich der Täter bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung auf der Fahrbahn mit Sekundenkleber o.Ä. festklebt, um die von ihm erwartete alsbaldige polizeiliche Räumung der Fahrbahn nicht nur unwesentlich zu erschweren.
3. Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, muss in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten.
4. Dass Polizeibeamte das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit – hier unter Verwendung eines Lösungsmittels – zu beseitigen in der Lage sind, steht dem Merkmal der Gewalt nicht grundsätzlich entgegen und nimmt ihm in Bezug auf den Vollstreckungsbeamten nicht ohne Weiteres die körperliche Spürbarkeit.
(Leitsätze des Gerichts)
Das AG hat die Angeklagte wegen Nötigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Die Angeklagte beteiligte sich auf dem Autobahnzubringer A 111 an einer Straßenblockade der Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“, bei der sich sie und andere auf die Fahrbahn der vielbefahrenen Straße setzten. Wie von ihr beabsichtigt, kam es aufgrund der Blockade bis zu deren Auflösung zu einer erheblichen Verkehrsbeeinträchtigung in Form eines ca. 60 Minuten andauernden Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge über mehrere hundert Meter. Zur Erschwerung der erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade befestigte sie zeitgleich ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn, sodass die Polizeibeamten sie erst nach Lösung des Klebstoffs, die eine bis eineinhalb Minuten in Anspruch nahm, von der Straße tragen konnten. Die Revision der Angeklagten war erfolgreich.
Das KG hat das Urteil des AG wegen Mängeln bei der Beweiswürdigung aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Zur weiteren Sachbearbeitung weist der Senat auf Folgendes hin: Grundsätzlich komme eine Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB auch dann in Betracht, wenn sich der Täter bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung auf der Fahrbahn mit Sekundenkleber o.Ä. festklebt, um die von ihm erwartete alsbaldige polizeiliche Räumung der Fahrbahn nicht nur unwesentlich zu erschweren. Das Festkleben auf der Fahrbahn, um das Entfernen von dort zu verhindern oder zu erschweren, könne als Gewalt i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB qualifiziert werden; es sei in seiner physischen Wirkung dem Selbstanketten (vgl. dazu BVerfGE 104, 92 = NJW 2022, 1031; OLG Stuttgart NStZ 2016, 353) vergleichbar. Hier wie dort liege eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftentfaltung vor, die gegen den Amtsträger gerichtet und geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren (vgl. BGHSt 18, 133, 134; NStZ 2013, 108, 336). Dass Polizeibeamten das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit – hier unter Verwendung eines Lösungsmittels – zu beseitigen in der Lage sind, stehe dem Merkmal der Gewalt nicht grundsätzlich entgegen und nehme dem Vollstreckungsbeamten nicht ohne Weiteres die körperliche Spürbarkeit (vgl. zu diesem Merkmal BGHSt 65, 36 = NJW 2020, 2347) des Widerstands (a.A. LG Berlin, Beschl. v. 20.4.2023 – 503 Qs 2/23). Ob das Festkleben im konkreten Einzelfall als gewaltsamer Widerstand gegen eine Diensthandlung i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB zu qualifizieren ist, bedürfe allerdings der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. zu § 240 StGB Senat DAR 2022, 393 = StRR 5/2022, 34 = VRR 6/2022, 15 [jew. Burhoff]). Hierbei seien auch Umfang und Dauer der zur Überwindung des Hindernisses erforderlichen Mittel in den Blick zu nehmen und vom Tatgericht zumindest in Grundzügen darzulegen. Der Umstand, dass die Polizeibeamten nach den getroffenen Feststellungen eine bis eineinhalb Minuten benötigten, um die Angeklagte von der Fahrbahn zu lösen, sei ein gewichtiges Indiz, das im vorliegenden Fall für die Annahme von Gewalt i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB spricht. Ebenso wenig stehe einer Strafbarkeit nach § 113 Abs. 1 StGB entgegen, dass die Widerstandshandlung (hier durch Festkleben auf der Fahrbahn) bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung (Entfernen der Demonstranten von der Fahrbahn) vorgenommen wurde. Zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands genüge es, wenn der Täter gezielt eine Widerstandshandlung vornimmt, die bei Beginn der Vollstreckungshandlung noch fortwirkt (BGHSt 18, 133; OLG Stuttgart NStZ 2016, 353). Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, müsse allerdings in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten (BGH a.a.O.). Das Tatgericht habe deshalb dahingehende Feststellungen zu treffen, ob sich der Täter (zumindest auch) festgeklebt hat, um sich der von ihm erwarteten polizeilichen Räumung zu widersetzen.
Um den Schluss ziehen zu können, dass eine Nötigung verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB ist, bedürfe es einer einzelfallbezogenen Würdigung aller Tatumstände. Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Verwerflichkeit zu ermöglichen, habe das Tatgericht in den Urteilsgründen eine tragfähige Entscheidungsgrundlage darzulegen. Das Gericht werde zumindest folgende Gesichtspunkte zu beachten und dazu die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben:
Ankündigung der geplanten Blockade/Anmeldung der Demonstration,
Dauer der Blockade,
eine präzise Beschreibung des Tatorts, wobei hinsichtlich der Einzelheiten auch gem. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf Lichtbilder, Tatortskizzen, Kreuzungspläne und dergleichen mehr verwiesen werden kann,
Art und Ausmaß der Blockade, insbesondere die Länge des Staus, sowie etwaige Ausweichmöglichkeiten für die Kraftfahrer vor der blockierten Fahrbahn,
die Motive der Angeklagten, insbesondere auch dazu, warum sie sich festgeklebt hat,
Zweck/Zielrichtung der Demonstration.
Ersichtlich die erste obergerichtliche Entscheidung zu der Frage, ob sich Klimakleber neben einer Nötigung auch wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte durch das Festkleben auf der Straße strafbar machen können. Das KG sah sich zu grundsätzlichen Erwägungen wohl veranlasst, obwohl es im vorliegenden Fall nicht entscheidungstragend war. Man kann durchaus gute Gründe finden, wie das LG Berlin a.a.O. eine solche Strafbarkeit abzulehnen, da die Beseitigung der Behinderung hier anders etwa als beim Festketten nur einen geringfügigen Aufwand ohne Gewalteinsatz erfordert, zumal der Schwerpunkt des Fehlverhaltens auf der strafbaren Nötigung der anderen Verkehrsteilnehmer liegt, um auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen. Das KG hat das anders entschieden. Die anderen Obergerichte werden dem vermutlich folgen. Daran hat sich die Praxis auszurichten. Hilfreich für alle Verfahrensbeteiligten ist die vom KG aufgestellte Liste erforderlicher Feststellungen für die Verwerflichkeit bei der Nötigung in solchen Fällen.
Die Anwaltspraxis Wissen Newsletter & kostenlosen PDF Infobriefe halten Sie in allen wichtigen Kanzlei-Themen auf dem Laufenden!
Bitte akzeptieren Sie Cookies und externe Inhalte, um diese Videogalerie sehen zu können.
Rochusstraße 2-4 • 53123 Bonn
wissen@anwaltverlag.de
Fon +49 (0) 228 91911-0
Fax +49 (0) 228 91911-23
© 2023 Deutscher AnwaltVerlag • Institut der Anwaltschaft GmbH
Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…