§ 112 Abs. 3 StPO findet auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung.
(Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeschuldigten vor, seine Stieftochter in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen wirft sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gem. § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gem. § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vor.
LG lehnt Erlass eines Haftbefehls ab
Deswegen hat die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gem. § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, sodass diese Norm keine Anwendung finde. Im Übrigen lägen weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vor. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte.
II. Entscheidung
Analoge Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO möglich
Zur Anwendung des § 112 Abs. 3 führt das OLG aus: Entgegen der Ansicht des LG finde § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung. Zutreffend sei zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur auf die Normen Anwendung findet, die in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm, in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 112 Rn 88; Graf, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 112 Rn 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zähle. Insoweit sei die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.
Gesetzesbegründung steht nicht entgegen
Die Gesetzesbegründung stehe dem nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1.7.2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, sei nicht ersichtlich. Ausweislich des Gesetzentwurfes der Bundesregierung vom 21.10.2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden. Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrundes der Schwerkriminalität in § 112 Abs. 3 StPO habe man die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsguts zum Ausdruck bringen wollen. Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle habe anders bewerten wollen, sei nicht ersichtlich und erscheint dem Senat abwegig. Es sei daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen habe. Es liege damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie sei aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen könne der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung finde (vgl. BGH, Beschl. v. 25.11.2006 – 1 BGs 184/2006).
Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO aber nicht gegeben
Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO seien vorliegend jedoch nicht erfüllt. Der Haftgrund der Schwerkriminalität sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass nach den Umständen des Falles die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sein dürfe oder die ernstliche Befürchtung bestehe, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342 ff.). Es müssen auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnten. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen“ belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht könne u.U. bereits ausreichen. (vgl. BVerfG a.a.O.). Zutreffend habe das LG einen solchen Verdacht vorliegend verneint. Zwar habe der Angeschuldigte mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Allerdings habe der Angeschuldigte bisher keinerlei Fluchttendenzen gezeigt. Unter dem 4.5.2023 sei dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt worden; dennoch sei nicht bekannt, dass er nunmehr Tendenzen in diese Richtung gezeigt hätte. Dies trotz des Umstandes, dass er, wie sich aus dem durch die Polizei ausgewerteten Chat zwischen ihm und seiner Ehefrau ergebe, eine realistische Straferwartung habe. In diesem Chat habe der Angeschuldigte geäußert, er werde „bestimmt 5 bis 10 Jahre eingesperrt“ werden.
Verdunkelungsgefahr
Da nach Auffassung des OLG auch Verdunkelungsverdacht nicht gegeben war, hat das OLG die Haftbeschwerde der Staatsanwaltschaft verworfen und damit den Nichterlass des Haftbefehls durch das LG bestätigt.
III. Bedeutung für die Praxis
Analoge Anwendung einer Ausnahmevorschrift
1. Ich habe Bedenken, ob die Entscheidung zutreffend ist. Der § 112 Abs. 3 StPO ist eine Art Ausnahmevorschrift, die nur in enumerativ aufgeführten Fällen den Erlass eines Haftbefehls zulässt. Das schließt m.E. eine analoge Anwendung der Vorschrift im Hinblick auf einen weiteren Haftgrund (!) aus.
Hätte man offenlassen können
2. Im Übrigen erschließt sich mir nicht, warum das OLG die Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO überhaupt entschieden hat. Die Frage hätte man auch offenlassen können, da es darauf dann letztlich nicht ankam, weil das OLG das Vorliegen der Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO dann verneint. In meinen Augen handwerklich schlecht gemacht.