Beitrag

Sexueller Missbrauch durch Arzt bei Einverständnis des Patienten

1. Auch wenn die Patientin oder der Patient mit den sexuellen Handlungen im Rahmen des Behandlungsverhältnisses ausdrücklich einverstanden ist, versteht es sich in den meisten Fällen von selbst, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis i.S.v. § 174c StGB missbraucht. An einem Missbrauch fehlt es hingegen ausnahmsweise dann, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat.

2. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden Umstände festzustellen. Wesentlicher Maßstab ist, ob sich Arzt und Patient/Patientin auf „Augenhöhe“ begegnet sind. Hierzu ist ggf. eine umfassende Darstellung der Kommunikation und der Beziehung der Beteiligten innerhalb und außerhalb von Behandlungsvorgängen, der Initiative zu sexuellen Handlungen und der Hintergründe der Fortsetzung der Behandlung, nachdem es zu ersten sexuellen Handlungen gekommen ist, erforderlich.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Hamm, Beschl. v. 15.9.20225 Ws 243/22

I. Sachverhalt

Sexuelle Handlungen von Arzt an Patientin

Das LG hat den Angeklagten in der Berufung vom Vorwurf des mehrfachen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses freigesprochen. Die Nebenklägerin befand sich wegen eines Frozen-Shoulder-Syndroms sowie diffuser Schmerzen im linken Oberschenkel in der Behandlung des Angeklagten, der als Orthopäde und Osteopath eine Privatpraxis betreibt. Die ganzheitlich ausgerichtete Behandlung fand an über 30 Terminen statt und umfasste in etwa zur Hälfte der Behandlungseinheiten auch ein Persönlichkeitscoaching der Nebenklägerin. Nach Besserung der Beschwerden brachte die Nebenklägerin dem Angeklagten immer mehr Zuneigung entgegen; es entstand zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin eine sexuelle Anziehung. Bei einer Behandlung griff der Angeklagte unter dem Slip der Nebenklägerin mit deren Einverständnis an deren Vagina. Bei zwei weiteren Terminen führte er seinen erigierten Penis in ihren Mund, wobei in einem Fall die Nebenklägerin nach einer Nachricht mit sexuellem Kontext sich zu der mittlerweile geschlossenen Praxis des Angeklagten begab. Bei nächster Gelegenheit küssten sich beide in Form eines Zungenkusses, nachdem sich die Nebenklägerin beschwert hatte, er küsse sie nicht. Die Revisionen der StA und der Nebenklägerin waren erfolgreich.

II. Entscheidung

Grundlagen

Bei dem von § 174c Abs. 1 StGB vorausgesetzten Missbrauch des Beratungsverhältnisses handele es sich um ein einschränkendes Tatbestandsmerkmal, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt (BGHSt 61, 208 Rn 21 = NJW 2016, 2965). Dementsprechend sei nicht schon jeder sexuelle Kontakt im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses per se missbräuchlich. Erforderlich sei vielmehr, dass der Täter die Gelegenheit, die seine Vertrauensposition bietet, unter Verletzung der damit verbundenen Pflichten zu sexuellen Handlungen ausnutzt. In den Blick zu nehmen sei diesbezüglich, dass § 174c StGB dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung in Situationen dient, in denen dieses Rechtsgut aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der durch Krankheit oder Behinderung belasteten Rechtsgutsträger und der Eigenart von Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen typischerweise besonders gefährdet ist (BGH StV 2018, 219). Die Strafbarkeit setze daher weder voraus, dass die Initiative vom Täter ausgeht, noch dass ein Handeln gegen den Willen des Opfers vorliegt (näher Leitsatz 1; BGHSt a.a.O. Rn 22). An einem Missbrauch fehle es hingegen ausnahmsweise dann, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat (BGHSt 56, 226, Rn 38 = NStZ 2011, 694). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, sei aufgrund einer Gesamtwürdigung der den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden Umstände festzustellen (BGHSt a.a.O. Rn 39). Ein Einverständnis des Patienten/der Patientin allein reiche nicht, vielmehr müssten weitere Umstände hinzukommen, aufgrund derer davon auszugehen ist, dass eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses regelmäßig gegebene Vertrauensbeziehung entweder tatsächlich nicht bestand oder für die Hinnahme der sexuellen Handlung ohne Bedeutung war. Solche besonderen Umstände lägen etwa vor bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen des Ehepartners oder Lebensgefährten während eines Betreuungsverhältnisses oder bei einer von dem Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis unabhängigen „Liebesbeziehung“ und in deren Folge nur gelegentlich der Behandlung oder nach deren Abschluss vorgenommenen sexuellen Handlung (BGHSt 56, 226 Rn 39, 40 = NStZ 2011, 694). Maßstab sei somit, ob sich Arzt und Patient/Patientin „auf Augenhöhe“ begegnen (BGHSt 61, 208 = NJW 2016, 2965). Zudem komme es entscheidend für die Beurteilung, ob ein Missbrauch vorliegt, auf die konkrete Art und Intensität des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses an. Je intensiver die Kontakte zwischen Täter und Opfer im Rahmen dieses Verhältnisses sind, desto geringere Anforderungen seien an das Vorliegen eines Missbrauchs zu stellen. Je weniger der Täter hingegen im Rahmen dieses Verhältnisses mit dem Opfer befasst ist, desto höher seien die Anforderungen (BGH NStZ 1999, 29).

Weitere Feststellungen erforderlich

Ausgehend hiervon fehle es für die vorzunehmende Gesamtwürdigung sowohl an Urteilsfeststellungen zum Inhalt des Behandlungsverhältnisses als auch dazu, wie sich die Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin während des Behandlungsverhältnisses und insbesondere zwischen den einzelnen Vorfällen entwickelt hat. Die Angaben zu Art und Inhalt der therapeutischen Gespräche – emotionale Probleme innerhalb der Ehe, Lifestyle- und Ernährungscoaching – seien zu vage. Weiter enthalte das angefochtene Urteil auch keine hinreichenden Feststellungen, die auf eine Beziehung auf „Augenhöhe“ zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin bzw. auf einen der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle schließen lassen, in denen kein Missbrauch angenommen wird (oder eine vergleichbare Konstellation). Es gebe zwar in den Feststellungen einige Anhaltspunkte hierfür. So hätten sich der Angeklagte und die Nebenklägerin ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt geduzt, es sei eine sexuelle Anziehung zwischen beiden entstanden, die Nebenklägerin habe nicht nur die sexuellen Handlungen geschehen lassen oder bei diesen mitgewirkt, sondern sie habe zuerst die Initiative zu Zärtlichkeiten bzw. sexuellen Handlungen ergriffen und auch ein Küssen eingefordert. Augenscheinlich sei es auch außerhalb der Behandlung und auch nicht im Zusammenhang mit Behandlungsterminen zur Kommunikation zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten und zu Treffen gekommen. Diese Feststellungen seien indes zu punktuell. So wäre insbesondere näher darzulegen, wie sich die (beiderseitige) „sexuelle Anziehung“ – auch schon vor der ersten Tat – zwischen den Beteiligten manifestiert hat (etwa durch Flirten, Austausch von Zärtlichkeiten unterhalb der Schwelle zu einer sexuellen Handlung etc.). Weiter wäre darzulegen, in welchem Umfang und in welchem Rahmen es zu Zusammenkünften zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten gekommen ist und in welchem Umfang und mit welchem Inhalt eine Kommunikation (etwa per Textnachrichten etc.) zwischen ihnen außerhalb der Behandlung stattgefunden hat. Auch die Hintergründe, warum die Nebenklägerin trotz der ersten Tat weiterhin den Kontakt mit dem Angeklagten im Rahmen der Behandlung und auch außerhalb mit diesem pflegte, bedürften der Aufklärung.

Bewertung des Zungenkusses

Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass ein (Zungen-)Kuss nicht stets und ohne Rücksicht auf die Begleitumstände als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit (§ 174c StGB i.V.m. § 184h Nr. 1 StGB) gewertet werden könne (BGHSt 56, 226, Rn 7 = NStZ 2011, 694).

III. Bedeutung für die Praxis

Überzeugend und hilfreich

Das Arzt-Patienten-Verhältnis birgt je nach Art der Behandlung die Gefahr einer sexuellen Anziehung. Das OLG Hamm gibt hier einen informativen Überblick zu den Grundlagen der Rechtsprechung zum Missbrauch des Behandlungsverhältnisses in § 174c StGB. Dabei wird deutlich, dass angesichts der Schutzrichtung der Vorschrift das Einverständnis mit oder die Initiative des Patienten zu den sexuellen Handlungen grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Im Regelfall erfüllen solche Handlungen selbst in solchen Fällen den Tatbestand, nur ausnahmsweise kann dies (Stichwort: Augenhöhe) aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls anders zu werten sein. Der Behandler geht daher bei Aufnahme einer sexuellen Beziehung zu Patienten ein hohes strafrechtliches Risiko ein. Überzeugend weist das OLG Hamm darauf hin, dass es für die Annahme eines solchen Ausnahmefalls umfangreicher und detaillierter Feststellungen zu den Umständen der Behandlungen und des Verhältnisses zueinander bedarf. Der hierzu vom OLG aufgestellte Kriterienkatalog ist verallgemeinerungsfähig und bietet ein gutes Hilfsmittel zur Bewertung vergleichbarer Fälle für Gerichte und Verteidiger.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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