Beitrag

StRR-Kompakt 2023_02

Zuständigkeit des Gerichts: Strafmaßprognose

Die Strafmaßprognose zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit ist zunächst von der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung und sodann vom Gericht bei der Eröffnungsentscheidung einzelfallbezogen vorzunehmen. Dabei obliegt dem Gericht nicht nur eine Nachprüfung der Zuständigkeitsauswahl der Staatsanwaltschaft, sondern mit der Prüfung auch eine gerichtliche Entscheidung über den vorbestimmten gesetzlichen Richter. Für die zu treffende Prognoseentscheidung besteht ein weiter Beurteilungsspielraum.

OLG Dresden, Beschl. v. 5.1.2022 – 2 Ws 230/22

Pflichtverteidiger: JGG-Verfahren

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.

LG Neuruppin, Beschl. v. 1.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug

Pflichtverteidiger: Persönlichkeitsstörung/Borderline

Ist beim Beschuldigten eine Persönlichkeitsstörung Borderline-Typ i.S.d. Ziffer F60.31G nach ICD-10-Klassifikation attestiert, ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO zu bejahen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob konkret kognitive Einschränkungen vorliegen, die im Sinne einer verminderten Aufnahmefähigkeit die Verteidigungsfähigkeit einschränken. Vielmehr genügt, dass die Prädisposition keine positive Prognose für seine fortdauernde Verteidigungsfähigkeit zulässt.

LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 13.12.2022 – 5/16 Qs 50/22

Durchsuchung: Disziplinarverfahren

Der dringende Tatverdacht eines Geheimnisverrates durch einen Polizeibeamten rechtfertigt einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss im Disziplinarverfahren.

OVG Greifswald, Beschl. v. 19.10.2022 – 10 LP 217/21 OVG

Zeugnisverweigerungsrecht: Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage

Eine Verknüpfung der Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht und der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Zeugen ist grundsätzlich unzulässig. Denn der unbefangene Gebrauch des Schweigerechts gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO wäre nicht gewährleistet, wenn ein verweigerungsberechtigter Zeuge die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der nur anfänglichen Zeugnisverweigerung dem Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen werden.

BGH, Beschl. v. 7.12.2022 – 5 StR 271/22

Unterbrechung der Hauptverhandlung: Sachverhandlung/Scheinverhandlung

Auch wenn in einem Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung Verfahrensvorgänge stattfinden, die als Sachverhandlung anzusehen sind, verstößt es gegen § 229 StPO, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substanzielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat.

BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 6 StR 95/22

Aussageverweigerungsrecht: übergesetzliches Auskunftsverweigerungsrecht

Ist die Geschädigte eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs weder bereit, sich der aussagepsychologischen Begutachtung zu unterziehen noch vor Gericht auszusagen und ist ihr fester Wille, die Vorfälle nicht erneut in ihre Erinnerung zu rufen und für sich aufzuarbeiten, ist das Gericht nicht befugt, sie zu einer Aussage zu zwingen.

AG Menden, Urt. v. 17.11.2022 – 8 Ls-362 Js 334/20-13/20

Elektronisches Dokument: Eingang bei Gericht

Ein über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) eingereichtes elektronisches Dokument ist erst dann gemäß § 130a Abs. 5 S. 1 ZPO wirksam bei dem zuständigen Gericht eingegangen, wenn es auf dem gerade für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Intermediär im Netzwerk für das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) gespeichert worden ist. An die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen per beA sind keine geringeren Anforderungen zu stellen als bei der Übermittlung von Schriftsätzen per Telefax (hier: Übermittlung der Berufungsbegründung an falschen Empfänger).

BGH, Beschl. v. 30.11.2022 – IV ZB 17/22

beA: unverzügliche Darlegung vorübergehender Probleme

Ist es dem Rechtsanwalt bereits im Zeitpunkt der Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes möglich, die vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung des Dokuments darzulegen und glaubhaft zu machen, hat dies mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen; in diesem Fall genügt es nicht, wenn der Rechtsanwalt die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung nachträglich darlegt und glaubhaft macht.

BGH, Beschl. v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22

Wiederholungsgefahr: Invollzugsetzung des Haftbefehls

Eine auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützter Haftbefehl kann nach § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn der Beschuldigte neue gleichartige Straftaten begeht und dadurch das in ihn gesetzte Vertrauen zerstört. Die neuen Taten müssen weder gegenüber dem gleichen Geschädigten erfolgen noch im gleichen Verfahren verfolgt werden. Stets ist aber zumindest ein dringender Tatverdacht erforderlich.

LG Würzburg, Beschl. v. 12.12.2022 – 1 Qs 192/22

Bestellung von BtM im Darknet: Versuch/Vorbereitungshandlung

Kein strafbarer Versuch des Erwerbs von Betäubungsmitteln, sondern eine bloße Vorbereitungshandlung liegt vor, wenn bei einer Bestellung im Darknet nicht feststellbar ist, dass der Verkäufer die bestellte Ware bei der Post aufgegeben hat.

BayObLG, Beschl. v. 5.12.2022 – 207 StRR 335/22

Unerlaubtes Entfernen: bedeutender Schaden

Ob ein bedeutender Schaden i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist nach den objektiven wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, um den das Vermögen des Geschädigten als unmittelbare Folge des Unfalls gemindert wird. Angemessen erscheint als Untergrenze für das Vorliegen eines bedeutenden Schadens i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ein Betrag von 1.750 EUR.

LG Bochum, Beschl. v. 6.12.2022 – 1 Qs 59/22

Mord: niedrige Beweggründe

Ergibt sich das Tötungsmotiv aus einer Trennung vom Ehe-, Lebens- oder Intimpartner, kann für einen niedrigen Beweggrund sprechen, dass der Täter dem anderen Teil aus übersteigertem Besitzdenken das Lebensrecht abspricht, den berechtigten Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben bestrafen will oder dass er handelt, weil er die Trennung nicht akzeptiert und eifersüchtig ist. Gegen das Vorliegen eines niedrigen Beweggrundes kann dagegen sprechen, dass die Trennung zu tatbestimmenden und tatauslösenden Gefühlen der Verzweiflung und inneren Ausweglosigkeit geführt hat. Zu bedenken kann dabei auch sein, dass nicht selten der Täter die Trennung selbst maßgeblich zu verantworten hat.

BGH, Beschl. v. 6.12.2022 – 5 StR 479/22

Gefährdung des Straßenverkehrs: Rechtsfahrgebot

Wer sich sieben Wochen in einem Land mit Linksverkehr aufhielt, handelt regelmäßig lediglich aus Unachtsamkeit und nicht rücksichtslos, wenn er bei seiner ersten Fahrt in Deutschland gegen das Rechtsfahrgebot verstößt.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 28.11.2022 – 1 OLG 2 Ss 34/22

Strafzumessung: staatliche Mitverantwortung

Die staatliche Mitverantwortung für Straftaten kann ein bestimmender Strafzumessungsgrund sein, wenn sie über eine bloß kausale Mitverursachung hinausgeht. In extremen Ausnahmefällen kann unter diesem Gesichtspunkt die Erörterung einer Strafmilderung geboten sein, wenn durch wiederholte Nichtahndung oder nicht nachvollziehbare milde Sanktionierung früherer vom Angeklagten begangener Straftaten bei diesem vor der Begehung der aktuell abzuurteilenden Tat der Eindruck entstehen konnte, dass seine Taten nicht nachhaltig verfolgt werden bzw. ihm nichts oder nichts Gravierendes passieren kann.

OLG Hamm, Beschl. v. 6.12.2022 – 5 RVs 103/22

Einspruchsbeschränkung: Beschränkung nach richterlichem Hinweis

Die nachträgliche Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid auf die Rechtsfolgen ist auch nach richterlichem Hinweis auf möglicherweise vorsätzliches Handeln wirksam.

OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 24.11.2022 – 2 Ss-OWi 1149/22

Einsicht in Unterlagen: Beschilderungsplan

Der sog. Beschilderungsplan ist ein notwendiges Beweismittel, welches unabdingbar für die Prüfung des Vorliegens einer Ordnungswidrigkeit erforderlich ist. In ihn ist daher Einsicht zu gewähren.

AG Vechta, Beschl. v. 21.10.2022 – 93 OWi 234/22

Auswärtiger Verteidiger in Bußgeldsachen: erstattungsfähige Reisekosten

Die zivilgerichtliche Rechtsprechung zur begrenzten Erstattungsfähigkeit der Reisekosten eines auswärtigen Rechtsanwalts ist auf Straf- und Bußgeldsachen nicht übertragbar. Vielmehr sind – weiterhin – Reisekosten eines nicht am Sitz des Prozessgerichts ansässigen (Wahl-)Verteidigers nur dann erstattungsfähige notwendige Auslagen, wenn dieser auch zum notwendigen Verteidiger hätte bestellt werden müssen oder seine Hinzuziehung aus besonderen Gründen (schwierige Rechtsmaterie, besonderes Vertrauensverhältnis o.Ä.) erforderlich war. Wenn in einer einfachen Bußgeldsache der Kontakt zwischen Betroffenem und Verteidiger ausschließlich schriftlich bzw. per Telekommunikationsmittel stattfindet, sind die Reisekosten auch nicht in Höhe einer fiktiven Informationsfahrt des Betroffenen zu einem Rechtsanwalt am Sitz des Prozessgerichts erstattungsfähig.

LG Hildesheim, Beschl. v. 12.12.2022 – 22 Qs 18/22

Gegenstandswert: Diebestüte

Eine „Diebestüte“, die mit Alufolie ausgehüllt darauf zielt, das Auslösen eines Alarms zu verhindern, hat keinen legalen Anwendungsbereich und stellt deshalb keinen erhaltenswerten Gegenstand dar, so dass der Gegenstandswert auf 0,00 EUR festzusetzen ist.

AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.5.2022 – 989 Ds 955 Js 18304/19

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…