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Fehlende Fluchtgefahr und Wegfall der Verhältnismäßigkeit

 

1. Hat der Beschuldigte längere Zeit Meldeauflagen erfüllt, liegt ggf. keine Fluchtgefahr mehr vor.

2. Beschränkungen, die sich aus Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO ergeben, sind nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen.

(Leitsätze des Verfassers)

LG Paderborn, Beschl. v. 19.7.20228 Qs-43 Js 301/21-32/22

I. Sachverhalt

Raubanklage mit Haftbefehl

Der Angeklagten wird Raub in Tateinheit mit Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage wurde erhoben vor dem AG – Schöffengericht –. Gegen die Angeklagte war am 3.3.2022 Haftbefehl erlassen worden, den das LG im Beschwerdeverfahren am 8.4.2022 unter Auflagen außer Vollzug gesetzt hat. U.a. wurde eine Meldeauflage gemacht.

Aufhebung des HVT

Hauptverhandlungstermin war auf den 7.6.2022 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 8.5.2022 beantragte der Verteidiger beim AG nach Rücklauf der Akten vom LG Akteneinsicht. Gewährt wurde Akteneinsicht in der Folge nicht. Mit Schriftsatz vom 31.5.2022 beantragte der Verteidiger daraufhin die Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 Abs. 1 StPO. Mit Verfügung vom 2.6.2022 wurde daraufhin der Hauptverhandlungstermin durch das AG aufgehoben. In der Folge wurde den Verteidigern Akteneinsicht gewährt. Ein erneuter Hauptverhandlungstermin wurde nicht bestimmt.

Verfristeter Aufhebungsantrag

Mit Eingang der Akten beim AG am 6.6.2022 beantragte die Angeklagte eine Aufhebung des Haftbefehls vom 3.3.2022, da mittlerweile von keiner Fluchtgefahr mehr auszugehen und zudem die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei. Eine Entscheidung über den Antrag erging sodann zunächst nicht. Mit am 22.6.2022 eingegangenen Schriftsatz erinnerte der Verteidiger an den Antrag vom 6.6.2022. Hierzu wurde durch das AG mitgeteilt, dass die Akte derzeit versendet sei. Am 27.6.2022 erkundigte sich der Verteidiger zudem telefonisch nach dem Stand der Sache. Auf die Mitteilung, dass sich der zuständige Dezernent in Urlaub befände, bat er um eine Entscheidung im Vertretungswege. Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung. Nach Rückkehr des Dezernenten wurde der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls mit Beschluss vom 8.7.2022 zurückgewiesen. Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hatte beim LG Erfolg.

II. Entscheidung

Fluchtgefahr

Das LG hat bereits den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO verneint. Diese bestehe nicht mehr. Fluchtgefahr sei gegeben, wenn bei Würdigung der Umstände des Falles aufgrund bestimmter Tatsachen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spreche, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit – dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen (u.a. KG StV 2012, 350; OLG Hamm StV 2008, 257). Hier habe die Angeklagte über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten seit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 3.3.2022 durch die Kammer am 8.4.2022 die in sie anlässlich dieser Außervollzugsetzung gesetzten Erwartungen in vollem Umfang erfüllt. Insbesondere habe eine Überprüfung der Meldeauflage durch telefonische Kontaktaufnahme mit dem Polizeipräsidium L ergeben, dass die Angeklagte ihrer Meldeauflage verlässlich nachgekommen sei. Angesichts des Umstandes, dass aus den zuverlässigen Meldungen der Angeklagten zu entnehmen sei, dass diese sich gerade auch zu dem Hauptverhandlungstermin am 7.6.2022 bereitgehalten habe, welcher – ohne dass die Angeklagte hiervon ausgehen konnte – kurz vor dem Terminstag aufgehoben wurde, seien Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte nun zu einem erneuten Hauptverhandlungstermin nicht mehr erscheinen würde, nicht mehr zu erkennen. Diese Annahme werde zudem dadurch gestützt, dass die Angeklagte inzwischen bei ihren Eltern lebe und eine feste Anstellung aufgenommen habe. Dabei handele es sich um Vollzeitbeschäftigung mit 152 Stunden im Monat, die Probezeit sei bereits erfolgreich absolviert worden.

Verhältnismäßigkeit

Darüber hinaus hat das LG auch die (weitere) Verhältnismäßigkeit verneint. Auch deshalb sei der Haftbefehl aufzuheben gewesen. Aus rechtsstaatlichen Gründen bestehe auch bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen die Pflicht zu einer möglichst zügigen Bearbeitung. Die mit den Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundenen Beschränkungen seien auch in Ansehung der Belange einer funktionierenden Strafrechtspflege nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448). Die an eine zügige Bearbeitung der Sache zu setzenden Maßstäbe seien aber durch das AG – Schöffengericht – in einem solchen Umfang verletzt worden, dass eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig erscheine. Hierfür war für das LG bereits ausreichend, dass nach Aufhebung des für den 7.6.2022 bestimmten Hauptverhandlungstermins am 2.6.2022 bis zum Zeitpunkt der Kammerentscheidung kein erneuter Hauptverhandlungstermin bestimmt worden sei und auch keine Bemühungen zur Bestimmung eines Hauptverhandlungstermins – wie etwa die Anfrage bezüglich einer Terminsabsprache mit den Verteidigern der Angeklagten und des Mitangeklagten – aus der Akte zu entnehmen seien. Außer der Gewährung von Akteneinsicht und der – ebenfalls nur verzögert erfolgten – Bearbeitung des Antrags der Angeklagten auf Haftaufhebung vom 6.6.2022 fänden sich insoweit keinerlei Hinweise auf verfahrensfördernde Bemühungen des Amtsgerichts. Darüber hinaus beruhe auch die Notwendigkeit der Aufhebung des Termins vom 7.6.2022 in vollem Umfang auf der fehlenden Verfahrensförderung durch das Amtsgericht – Schöffengericht –. Nachdem nämlich zuvor in berechtigter Weise beantragte Akteneinsichtsgesuche mehrerer Verteidiger nicht beschieden worden seien, sei eine Aufhebung des Termins notwendig geworden, da eine Vorbereitung der Verteidiger für die angemessene Vertretung der Angeklagten und des Mitangeklagten ohne vorherige Akteneinsicht nicht möglich gewesen sei. Die hierdurch verursachte Notwendigkeit zur Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wiege umso schwerer, nachdem sich aus der Akte ergebe, dass mit Verfügung vom 2.5.2022 eine digitale Kopie der vollständigen Verfahrensakte durch die Staatsanwaltschaft gefertigt worden sei, durch welche den Verteidigern zeitnah und parallel Akteneinsicht hätte gewährt werden können. Schließlich habe im Zusammenhang mit der zügigen Bearbeitung dieser Haftsache auch nicht außer Acht gelassen werden können, dass auch der Antrag der Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls vom 6.6.2022 zunächst ohne erkennbaren Grund durch den zuständigen Dezernenten am 8.6.2022 auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem anstehenden Urlaub verfristet worden sei und durch seine Vertreterin auf entsprechende Nachfrage des Verteidigers der Angeklagten gemäß Vermerk vom 29.6.2022 als nicht eil- bzw. entscheidungsbedürftig angesehen und ebenfalls auf die Rückkehr des zuständigen Dezernenten verfristet worden sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Fassungslos

Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer dass beide vom LG angesprochenen Punkte zutreffend entschieden worden sind (zu den mit der Untersuchungshaft zusammenhängenden Fragen eingehend Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 4461 ff. m.w.N.). Anzumerken ist allerdings, dass das vom LG in Zusammenhang mit der Prüfung der weiteren Verhältnismäßigkeit dargestellte Verhalten der Richter beim AG – Schöffengericht – einen dann doch recht fassungslos zurücklässt. Es handelte sich um eine Haftsache. Diese wird aber sowohl vom Dezernenten als auch von dessen Vertreterin „verfristet“. Der Dezernent hatte offenbar keine Lust mehr, die Sache noch vor seinem Urlaub zu erledigen, die Vertreterin hatte dann keine Lust, im Urlaub des ordentlichen Dezernenten eine Entscheidung zu treffen. Den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen scheint man bei dem AG nicht zu kennen, bzw.: Er scheint dort nicht zu interessieren. Von daher hätte man sich noch deutlichere Worte des LG gewünscht.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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