Beitrag

Das Privileg der Verteidigerpost – in der Grauzone und wo es endet

I.

Ausgangspunkt

Regelmäßig kommt in Untersuchungshaftmandaten irgendwann der Punkt, an dem der Mandant die Bitte an den Strafverteidiger heranträgt, Botschaften in mündlicher oder schriftlicher Form zu übermitteln. Der Verteidiger soll dabei regelmäßig bewusst eingespannt werden, weil die Postkontrolle gemäß § 119 StGB umgangen werden soll oder in Eilfällen zu langwierig ist. Es muss nicht immer die geradezu aufdrängend deliktische Bitte sein, an einen „Kollegen“ oder Mitbeschuldigten eine Zahlenfolge, „Grüße“ oder eine „Botschaft“ zu übermitteln, oder der Brief an die Mutter zum Geburtstag. Die Haft bringt auch behördliche Veränderungen mit sich, und so ist es oft bloß der Wunsch, eine Haftbescheinigung oder ein ausgefülltes Formular einer Behörde oder Versicherung mitzunehmen, weil Fristen laufen.

Was ist erlaubt im Rahmen der Verteidigerpost? Was nicht? Es gibt eine weite Grauzone der Auslegung – und eine Rechtsprechung, die enge Grenzen zieht.

II.

Das Verteidigerprivileg und die „unbefugte“ Mitteilung

§ 148 Abs. 1 StPO garantiert ungehinderte und vor allem unüberwachte Kommunikation zwischen dem inhaftierten Mandanten und seinem Strafverteidiger. Die als solche gekennzeichnete „Verteidigerpost“ darf in der JVA auch nicht mit Zustimmung und in Anwesenheit des Mandanten geöffnet werden (Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, 5. Aufl. 2016, Rn 98 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung). Gespräche dürfen nicht überwacht werden.

Sofern allgemein anerkannt ist, dass die Garantien des § 148 StPO nur für Verteidigungszwecke gelten und § 148 StPO keine Anwendung findet, wenn sich Beschuldigter und Verteidiger aus einem anderen Anlass in Verbindung setzen (LG Tübingen, Beschl. v. 14.2.2007 – 1 KLs 42 Js 13000/06), stellt sich für den Verteidiger regelmäßig die Frage des aus seiner Sicht stets weiten Begriffs des „Verteidigungszwecks“. Ist es nicht auch im Sinne der Verteidigung, Grüße und Privatpost zu übermitteln, wenn dadurch der Mandant in der Haft stabil bleibt?

Die Beschränkung dieses Verteidigerprivilegs findet sich im § 115 OWiG. § 148 Abs. 2 StPO soll in diesem Beitrag außen vor bleiben. Wird nämlich das Verteidigerpost-Privileg durch unzulässige Inhalte verletzt („unbefugt“), begeht der Verteidiger eine Ordnungswidrigkeit nach § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG. Nach Abs. 3 ist sogar der Versuch bußgeldbewehrt. Dies gilt natürlich neben dem Schriftweg ebenso für die mündliche Weitergabe von Botschaften aus dem privilegierten, also nicht überwachten Mandatsgespräch („Nachrichten übermittelt“). Täter des § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG kann jeder sein, der nicht selbst als Gefangener an der Tat beteiligt ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.12.2019 – IV-1 RBs 42/19).

Unbefugt handelt derjenige, der mit einem Gefangenen in Verkehr tritt, ohne sich auf eine Befugnis stützen zu können, oder der die Grenzen einer vorhandenen Befugnis [wie z.B. Verteidigerprivileg – Anm. d. Verf.] überschreitet (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.12.2019 – IV-1 RBs 42/19; KK-OWiG/Rogall, 5. Aufl. 2018, OWiG § 115 Rn 32). Schlimmstenfalls könnte sich der Verteidiger sogar durch nachträglich vom Gericht als unbefugt ausgelegte Kommunikation, die er selbst für befugt hielt, wegen (versuchter) Strafvereitelung strafbar machen.

Hinzu treten weitere berufsrechtliche Folgen durch die Verstöße, die ähnlich dem Bußgeldverfahren durchaus mit mehreren Tausend EUR Geldbuße belegt werden. Denn der Verteidiger unterliegt der Berufspflicht, sich innerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen (vgl. § 43 BRAO).

Daher muss der Verteidiger wissen, was zulässig ist und was nicht.

Zu den zulässigen Inhalten von Verteidigerpost vertritt die Rechtsprechung eine äußerst enge Auffassung. Das BVerfG hält es nicht nur für zulässig, sondern geradezu für geboten, das Verteidigerprivileg auf solchen unkontrollierten Verkehr zu beschränken, der unmittelbar der Vorbereitung der Verteidigung dient und nur solche Schriftstücke umfasst, die unmittelbar das Strafverfahren betreffen (BVerfG, Beschl. v. 13.10.2009 – 2 BvR 256/09, NJW 2020, 1740). Denn würde der freie Verteidigerverkehr auch auf Schriftstücke erstreckt, die mit dem Strafverfahren nur in mittelbarem Zusammenhang stehen, so würde dies dem Beschuldigten einen nahezu unbeschränkten Schriftverkehr ermöglichen. Zudem stünde dies in Konflikt mit dem Ziel der Postkontrolle (BVerfG a.a.O.).

Die Rechtsprechung geht davon aus, allein der Richter oder der Staatsanwalt, denen in erster Linie die Sorge für die ungestörte und reibungslose Durchführung des Strafverfahrens anvertraut sei, solle prüfen und darüber befinden dürfen, ob bei Weiterleitung eines von dem Beschuldigten geschriebenen Briefes oder bei Aushändigung einer von außen kommenden schriftlichen Mitteilung an den Beschuldigten die Gefahr der Verdunkelung des Sachverhalts oder der Flucht des Häftlings geschaffen oder erhöht werden könnte (BGHZ 66, 229–229, BGHSt 26, 304; OLG Dresden NStZ 1998, 535).

Nach dieser Rechtsprechung sind unzulässig („unbefugt“) und damit nicht als Verteidigerpost zu kennzeichnen:

  • Übergabe von anwaltlichen Schriftsätzen aus einem Ehescheidungsverfahren in der JVA als Verteidigerpost (BVerfG a.a.O.),

  • Mitnahme/Mitbringen von an den Beschuldigten gerichteten Briefen dritter Personen, die der Verteidiger von dem Schreiber unmittelbar erhalten hat oder die er aus der Wohnung oder dem Geschäftslokal des Beschuldigten mitgenommen hat; und zwar auch dann, wenn der Verteidiger dies zur Gläubigerbefriedigung im Bankrottstrafverfahren als Teil seiner Verteidigungsstrategie für eine günstige Strafzumessung sieht (BGHZ 66, 229, BGHSt 26, 304),

  • eine Kommunikation des Verteidigers mit seinem in Haft befindlichen Mandanten über ein in dessen Besitz befindliches Mobiltelefon, selbst wenn sie der Übermittlung inhaltlich verteidigungsbezogener Informationen dienen sollte (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.12.2019 – IV-1 RBs 42/19, NStZ 2021, 110 [hier: Übersendung des Verteidigerschriftsatzes per WhatsApp; das Anwählen des Mobilanschlusses ist Versuch der OWi]),

  • die Übersendung von Briefmarken wegen einer möglichen Gefährdung der Anstaltsordnung (OLG Koblenz, Beschl. v. 19.7.1995 – 2 Ws 438/95),

  • Entgegennahme dreier Briefe vom Untersuchungsgefangenen und deren Weitergabe an dessen Ehefrau; keine Rechtfertigung gemäß § 16 OWiG durch (behauptete soziale) und seelsorgerische Betreuung (OLG Dresden NStZ 1998, 535),

  • die Übersendung von Blankovollmachten zum Zwecke der Verteilung an andere Inhaftierte sowie Verwendung der später erhaltenen, unterzeichneten Vollmachten für Anwaltsbesuche, ohne zuvor einen Sprechschein beantragt zu haben (AnwGH München, Urt. v. 12.3.2019 – BayAGH II – 3 – 13/17),

  • die Kommunikation über die Unfallversicherung des Inhaftierten; über die mögliche Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Insolvenzverschleppung; über die persönliche Habe und Leasing-Fahrzeuge mit Blick auf die Betriebsinsolvenz (AG Nürnberg, Urt. v. 4.2.2011 – 45 OWi 501 Js 1484/10). Dass die Anstaltsordnung nicht gefährdet war, hält das AG für unbeachtlich.

Nach dieser Rechtsprechung sind zulässig in der Verteidigerpost:

  • alle Schriftstücke, die in dem Strafverfahren selbst anfallen, also etwa Kopien von Schreiben an Staatsanwaltschaft oder Gericht, Schreiben von diesen selbst, Aktenauszüge und Informationen über das Verfahren zwischen Verteidiger und Mandant, darüber hinaus aber auch Schreiben Dritter, die einen direkten Bezug zur Verteidigung aufweisen (Schlothauer/Weider/Nobis, a.a.O., Rn 111 m.w.N.),

  • Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls kann es als sachgerecht und somit auch als noch zulässige Strafverteidigertätigkeit angesehen werden, wenn der Verteidiger eines in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten dessen ihm mitgeteilte und noch nicht zu den Akten gelangte Einlassung zur Sache dem Verteidiger des ebenfalls in Untersuchungshaft befindlichen Mitangeklagten übermittelt mit der Bitte, die Einlassung seinem Mandanten zur Kenntnis zu geben und mit diesem zu erörtern (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.11.1980 – (2) 3 Ws 800/80),

  • Weitergabe eines an den in Untersuchungshaft befindlichen Mandanten gerichteten Briefes des Hauptbelastungszeugen, der für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen von Bedeutung ist (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.2.2014 – 2 (6) SsBs 628/13).

Unstreitig kann allein sein, dass das Schmuggeln von Kassibern, Waffen, Betäubungsmitteln, Werkzeugen u.Ä. nicht befugt ist (KK-OWiG/Rogall, a.a.O. § 115 Rn 32).

Die Auffassung der Rechtsprechung führt darüber hinaus jedoch zu zahlreichen und kaum überschaubaren Abgrenzungsproblemen und ist daher abzulehnen (Julius/Schiemann, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 148 Rn 16). Denn einerseits ist der Zweck der Strafverteidigung ein weiter Begriff und allein der Rechtsanwalt und sein Mandant entscheiden über die Strategie und die dazu notwendigen Mittel. Über die StPO hinaus ist die Verteidigung geprägt durch Kreativität im Rahmen der Berufsordnung und Berufsfreiheit. Insbesondere gefährdet nicht jede Handlung mit lediglich mittelbarem Zusammenhang zur Verteidigung im konkreten Verfahren die Strafverfolgungsinteressen oder die Sicherheit und Ordnung der Justizvollzugsanstalt.

Knierim kritisiert z.B. die Mobilfunk/WhatsApp-Entscheidung des OLG Düsseldorf (a.a.O.): „Indessen muss über die Sinnhaftigkeit solcher Sanktionen nachgedacht werden, je rückständiger sich die Ausgestaltung des Strafvollzugs gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen der Telekommunikation erweist. … [D]ie Vorschrift des § 115 OWiG ist kein genereller Schutztatbestand für die Funktionalitäten von Strafvollzugseinrichtungen, sondern ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Wird der Strafvollzug aber durch die Verteidigerkommunikation nicht gestört oder gefährdet, wachsen zugleich aber durch Ausstattungsdefizite und rein ablaufbedingte Kontrollvorbehalte die Freiheitsbeschränkungen des Strafgefangenen, gerät die Einschränkung der Kommunikationsrechte des Inhaftierten mit dem Strafverteidiger in die Nähe staatlicher Willkür“ (Beck-FD-StrafR 2020, 424174).

Richtigerweise wird auch die noch nicht gerichtlich entschiedene Frage zur konkreten Durchführung einer Schadenswiedergutmachung i.S.d. §§ 46 a, 46 StGB als Teil der unmittelbaren Vorbereitung oder Durchführung einer Strafverteidigung angesehen und unterfällt nicht § 115 OWiG (MAH/Strafverteidigung-Schütrumpf/Würfel, § 39 Rn 153). Dem Verfasser ist hingegen ein Fall bekannt, in dem eine Richterin einer Verteidigerin gerade für diese Konstellation einen Missbrauch des Verteidigerprivilegs vorwarf. Was jedoch soll unmittelbarste Verteidigung sein, wenn nicht die aktive Vorbereitung eines Täter-Opfer-Ausgleichs?

Bei Betrugsdelikten ist die Schadenswiedergutmachung z.B. ein gewichtiges Argument für Strafmilderung (vgl. § 46 Abs. 2 StGB). Wird der Verteidiger diesbezüglich zivilrechtlich tätig, verbietet ihm die Rechtsprechung ganz offensichtlich, die Zivilpost als Verteidigerpost zu übersenden – die Überwachung hingegen mag aus strategischer Sicht nicht gewollt sein. Führt dann hingegen in Anlehnung an OLG Karlsruhe oder MAH das Auftreten als Strafverteidiger, der Wiedergutmachung in Verteidigereigenschaft organisiert, dazu, die Kommunikation wieder unter das Verteidigerprivileg zu stellen? Rechtssicherheit gibt es dafür nicht.

III.

Bedeutung für die Praxis

Jedenfalls sind sich – soweit ersichtlich – alle Praxisleitfäden und Dozenten in den Fortbildungen einig: Jegliches Ansinnen des Mandanten, lediglich Privatmitteillungen oder gar Botschaften verdunkelnden Inhaltes zu transportieren, ist konsequent zurückzuweisen. Der unkomplizierte Kontakt zur Familie mag wie (zulässige) Seelsorge wirken. Doch welcher Verteidiger will dafür geradestehen, dass die Geburtstagskarte oder der Liebesbrief keine geheimen Botschaften enthalten? Fällt das Kind in den Brunnen, kostet es den Rechtsanwalt schlimmstenfalls nicht nur Geld, sondern auch den guten Ruf, dass er zwar alles für seine Mandanten zu geben bereit ist, jedoch allein mit den Mitteln des Rechts.

Der Mandant sollte von Beginn an über die Schranken des Verteidigerpost-Privilegs belehrt werden; spätestens jedoch bei Verstößen (nützliches Muster bei Klein, in: Breyer/Endler, AnwaltFormulare Strafrecht, 4. Aufl. 2018).

Dabei wird jedoch unter Praktikern die zutreffende Ansicht vertreten, dass dem Mandanten sein Fehlverhalten nicht schriftlich vorgehalten werden sollte; denn dies könnte wiederum diese Verstöße erst bekanntmachen, z.B. durch unzulässige Sichtung von Post in der JVA.

Kommt es zur Übersendung verteidigungsfremder Post durch den Mandanten, ist diese bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens bzw. bis zur Entlassung des Mandanten aus der Untersuchungshaft zur Akte zu verwahren und diese sodann an den Mandanten herauszugeben. (Klemke/Elbs, Einführung in die Praxis der Strafverteidigung, 4. Aufl. 2019). Bereits die Rücksendung durch den Verteidiger stellt nämlich einen Verstoß gegen § 115 Abs. 1 Nr. 1 OWiG dar. Der Anwalt muss das ihm übersandte „Gift“ also in seinem Giftschrank aufbewahren.

Der Verteidiger sollte ein Gespür für die Grenzfälle entwickeln, wenn er sie schon nicht verhindern kann oder möchte. Sinnvoll könnte es in der Grauzone sein, sich an der Rechtsprechung des BVerfG wie folgt zu orientieren: In der Verteidigerkommunikation könnte gegenüber dem Mandanten z.B. in geeigneter Form dargelegt werden, warum die übermittelte Nachricht unmittelbar und nicht lediglich mittelbar mit dem konkreten Strafmandat zusammenhängt.

Eindeutig abraten muss man jedem Kollegen davon, Grenzfälle bewusst vor den Gerichten ausfechten zu wollen. Gerät man jedoch in den Verdacht einer unbefugten Kommunikation, mag sich der Einzelfall zur Entscheidung eignen.

RA Heiko Urbanzyk, FA StR/VerkR, Coesfeld

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