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Willkürliche Auslagenentscheidung im Bußgeldverfahren

Eine gerichtliche Auslagenentscheidung verstößt gegen das Willkürverbot, wenn mit ihr ohne Begründung von dem Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen wird und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten und für sie ohne Weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt.

(Leitsatz des Gerichts)

VerfGH Berlin, Beschl. v. 27.4.2022VerfGH 130/20

I. Sachverhalt

Einstellung ohne Auslagenentscheidung zu Lasten der Landeskasse

Gegen den Betroffenen ist ein Bußgeld wegen Parkens auf einem Sonderparkplatz verhängt worden. Hiergegen legte der Betroffene Einspruch ein. Das AG teilte in einem formlosen Schreiben vom 27.2.2020 mit, es beabsichtige, das Verfahren gemäß § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen und die Kosten, nicht aber die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landekasse aufzuerlegen, und gewährte Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu binnen einer Frist von zehn Tagen. Mit Beschluss vom 11.3.2020 stellte das AG das Verfahren ein und legte die Kosten des Verfahrens, nicht aber die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse auf. Die Entscheidung wurde nicht begründet. Dagegen erhob der Betroffene Anhörungsrüge, die zurückgewiesen wurde. Die gegen beide Beschlüsse eingelegte Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Abweichung vom Regelfall nicht ohne Begründung

Das VerfG weist darauf hin, dass die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den Einzelfall Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof grundsätzlich entzogen seien. Ein Richterspruch verstoße nicht schon dann gegen das Verbot objektiver Willkür, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das Verfahren fehlerhaft seien. Hinzukommen müsse, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar seien und sich daher der Schluss aufdränge, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruhe. Dies sei etwa der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (BVerfG NJW 2016, 861 = StRR 2015, 474 = RVGreport 2016, 156; NJ 2015, 175). Dieser materiell-verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab verlange mit Rücksicht auf die Bindung des Richters an Recht und Gesetz eine Begründung auch letztinstanzlicher Entscheidungen jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werde und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten und für sie ohne Weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergebe (BVerfG NJW 2016, 861 = StRR 2015, 474 = RVGreport 2016, 156).

Willkürliche Entscheidung

Auf der Grundlage dieses Maßstabes verletzt nach Auffassung des VerfG der Beschluss des AG vom 11.3.2020 hinsichtlich der angegriffenen Auslagenentscheidung das Grundrecht des Betroffenen auf eine willkürfreie Entscheidung gemäß Art. 10 Abs. 1 VvB. Der Beschluss enthalte – ungeachtet der vom Betroffenen rechtlich und tatsächlich in Abrede gestellten Verdachtslage einer Ordnungswidrigkeit – keinen Hinweis auf die Rechtsgrundlage der Auslagenentscheidung und auch keinerlei Erwägungen zu den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkten für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass das AG sich insoweit von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen. Anders als in Fällen, in denen eine Begründung vorhanden sei und auf ihre Vertretbarkeit geprüft werden könne, könne Willkür im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung – hier gerichtet auf die Erstattung notwendiger Auslagen als dem gesetzlichen Regelfall – nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehlt (vgl. BVerfG a.a.O.).

Ausnahmen

Werde das gerichtliche Verfahren gegen einen Betroffenen nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt, würden nämlich grundsätzlich seine notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG der Staatskasse zur Last fallen. Ausnahmen hiervon seien in §§ 467 Abs. 2 S. 2, 467 Abs. 3 StPO oder nach § 109a Abs. 2 OWiG geregelt für den Fall, dass der Betroffene Auslagen durch schuldhafte Säumnis, eine unwahre Selbstanzeige oder eine wahrheitswidrige Selbstbelastung verursacht hat oder die Einstellung allein auf einem Verfahrenshindernis beruhte – was vorliegend jeweils erkennbar nicht gegeben gewesen sei. Zwar könne ein Gericht im Falle einer in seinem Ermessen liegenden Verfahrenseinstellung gemäß § 467 Abs. 4 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Die Entscheidung des AG über die notwendigen Auslagen enthalte jedoch keinerlei Erwägungen, weshalb hier von dem gesetzlichen Regelfall des § 467 Abs. 1 StPO abgewichen worden sei. Es fehle schon der Hinweis, auf welcher Rechtsgrundlage die Auslagenentscheidung getroffen wurde. Auch das Anhörungsschreiben vom 26./27.2.2020 und der Rügebeschluss enthielten insoweit keinerlei Begründung. Damit sei ein Verstoß gegen das Willkürverbot festzustellen, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich das AG von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen.

III. Bedeutung für die Praxis

Weckruf?

1. Eine weitere Entscheidung eines Verfassungsgerichts, in der dieses zur Kostenfolge nach Einstellung des Verfahrens Stellung nehmen muss. Es ist zu hoffen, dass vielleicht diese Entscheidung mit den – häufig vorschnellen – Kosten- und Auslagenentscheidungen der AG bei Einstellungen nach § 47 Abs. 2 OWiG aufräumt bzw. die AG zumindest dazu anhält, ihre Entscheidungen zu begründen. Nicht selten werden in diesen nämlich die notwendigen Auslagen nicht der Landeskasse auferlegt, ohne dass dafür eine – nähere – Begründung gegeben wird. Gem. § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG hat die nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens zu treffende Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen aber grundsätzlich dahingehend auszufallen, dass diese zu Lasten der Staatskasse gehen. Zwar kann oder muss hiervon in einigen gesetzlich geregelten Fällen, auf die das VerfG hinweist, abgesehen werden (§ 109a Abs. 2 OWiG, § 467 Abs. 2 bis Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Das muss dann aber begründet werden, was hier nicht geschehen ist.

§ 47 Abs. 2 Ermessensvorschrift

2. Geholfen hat dem AG hier auch nicht, dass § 47 Abs. 2 OWiG eine Ermessensvorschrift ist, für die § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG gilt. Danach kann das Gericht davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die das nach seinem Ermessen zulässt. Dabei darf zwar nach der Rechtsprechung des BVerfG auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt werden (vgl. dazu BVerfG NStZ-RR 2016, 159 = StRR 1/2016, 8 = RVGreport 2016, 159); es darf aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden (vgl. dazu a. Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 772 m.w.N.; Gieg/Krenberger, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 1079 m.w.N.). Das bedeutet, dass die Entscheidung begründet werden muss. Das hatte das AG hier nicht getan.

Keine Rechtsmittel

3. In den Fällen der Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG stehen dem Betroffenen keine Rechtsmittel zur Verfügung (§ 47 Abs. 2 S. 3 OWiG). Er hat nur die Möglichkeit, Anhörungsrüge zu erheben und, wenn die – wie hier – nicht hilft, den Weg der Verfassungsbeschwerde zu beschreiten.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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