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Entscheidung über Unterbringung ohne Sachverständigenvernehmung

Das Tatgericht darf von einer Begutachtung nach § 246a StPO auch dann absehen, wenn es eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung zieht, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen auf der Hand liegt.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 23.3.20226 StR 63/22

I. Sachverhalt

Absehen von Unterbringung

Das LG hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte von seinem 14. Lebensjahr an Marihuana. Im Tatzeitraum von Mitte der Jahres 2019 bis zum 16.1.2020 hatte er seinen Konsum auf 20 Gramm pro Woche gesteigert. Die Jugendkammer hat von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 S. 1 StGB) abgesehen, weil sie sich vom Nichtvorliegen eines Hangs im Sinne der Vorschrift überzeugt hat. Dafür spreche vor allem, dass der nicht einschlägig bestrafte und im Zuge des Verfahrens nicht inhaftierte Angeklagte nach seinen eigenen Angaben seinen vorherigen, teils erheblichen Konsum selbstständig eingestellt und diesen Zustand „über den mittlerweile gegebenen Zeitraum eines halben Jahres“ aufrechterhalten habe. Einen Sachverständigen hat die Jugendkammer nicht hinzugezogen. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten führte mit einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs

II. Entscheidung

Zulässigkeit der Rüge

Die Rüge sei – so der BGH – zulässig erhoben. Zwar weise der Generalbundesanwalt zutreffend darauf hin, dass der Angeklagte die Vortragserfordernisse (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) für die von ihm erhobene Beweisantrags- bzw. Aufklärungsrüge in mehrfacher Hinsicht verfehlt habe. Jedoch sei seinem Vorbringen eindeutig zu entnehmen, dass er die Nichtvernehmung eines Sachverständigen zu den medizinischen Voraussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angreifen wolle. Die Rügen seien deshalb als Beanstandung einer Verletzung des in § 246a Abs. 1 S. 2 StPO enthaltenen Gebotes zu verstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 352 Rn 5 m.w.N.). Insoweit habe der Angeklagte die erforderlichen Tatsachen mitgeteilt (vgl. auch BGH NStZ 2013, 670). Dass er die einschlägige Vorschrift nicht benannt habe, sei unschädlich (vgl. § 352 Abs. 2 StPO).

Absehen von einem Sachverständigengutachten

Die Verfahrensrüge war nach Auffassung des 6. Strafsenats auch begründet. Allerdings vertrete der Senat über die bisherige Rechtsprechung des BGH hinaus (vgl. BGH NStZ 2012, 463) die Auffassung, dass das Tatgericht von einer Begutachtung auch dann absehen dürfe, wenn es eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung ziehe, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen auf der Hand liege (vgl. BT-Drucks 16/1110, S. 25, 16/1344, S. 17). Dies gelte nicht nur für Fälle offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht (dazu BT-Drucks 16/1110, 16/1344, jeweils a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 246a Rn 3; MüKo-StGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 64 Rn 108; KK-StPO/Krehl, 8. Aufl., § 246a Rn 2; a.M. BT-Drucks 16/5137, S. 11; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 246a Rn 8; Schneider, NStZ 2008, 68, 70; offengelassen von BGH NStZ 2012, 463), sondern auch für Konstellationen evident fehlenden Hangs. Verschaffe sich das Tatgericht etwa die sichere Überzeugung, dass der Angeklagte unter dem Eindruck des Strafverfahrens den Drogenkonsum vollständig eingestellt habe und nach längerem Zeitablauf im maßgebenden Zeitpunkt des Urteils (MüKo-StGB/van Gemmeren, a.a.O., § 64 Rn 76 m.w.N.) weiterhin abstinent lebe (einschränkend für Abstinenzphasen während Haftzeiten BGH, Beschl. v. 22.9.2021 – 1 StR 131/21), so bedürfe es keiner Hilfe durch einen Sachverständigen mehr. Wortlaut und Wortsinn der Vorschrift lassen diese Auslegung ohne Weiteres zu (insoweit auch LR-StPO/Becker, a.a.O.). Sie entspreche dem legitimen Anliegen, überflüssige Begutachtungen durch forensisch erfahrene Sachverständige zu vermeiden (vgl. MüKo-StGB/van Gemmeren, a.a.O., § 64 Rn 108). Die gegenteiligen Ausführungen im Bericht des federführenden Bundestagsausschusses (vgl. BT-Drucks 16/5137, S. 11), die dazu führen, dass der Regelung des § 246a Abs. 1 S. 2 StPO kaum noch ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibe (vgl. LR-StPO/Becker, a.a.O.), fänden in der maßgebenden Gesetzesfassung keinen Niederschlag.

Konkreter Fall

Die Entscheidung des LG, von der Vernehmung eines Sachverständigen abzusehen, hat dann gleichwohl der rechtlichen Überprüfung durch den BGH nicht standgehalten. Denn die Feststellung einer stabilen Abstinenz des Angeklagten mit der Folge des Vorliegens eines Evidenzfalls im vorgenannten Sinne sei nicht hinreichend belegt. Abgesehen davon, dass sich die Urteilsgründe widersprüchlich dazu verhalten, wann der Angeklagte seinen Drogenkonsum eingestellt hat – einerseits „Januar 2020“, andererseits „Januar 2021“ oder „Zeitraum eines halben Jahres“ –, stütze sich die Jugendkammer ausschließlich auf die „eigenen Angaben des Angeklagten“, ohne diese jedoch in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Ausweislich der Urteilsgründe seien weder Haarproben entnommen und untersucht noch sonstige Testungen vorgenommen worden. Die Revision weise in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht darauf hin, dass die diesbezügliche Einlassung – erstmals gegenüber der Jugendgerichtshilfe im September 2021 und dann in der Hauptverhandlung – von dem Bestreben bestimmt gewesen sein könne, eine mildere Bestrafung zu erreichen. Damit hätte sich nach Auffassung des BGH die Jugendkammer auseinandersetzen müssen. Deren Berufung auf in anderen Verfahren gewonnene richterliche Sachkunde könne diese Defizite in Bezug auf die Befindlichkeiten gerade des Angeklagten nicht überwinden.

III. Bedeutung für die Praxis

Ausreichende Feststellungen treffen

§ 246a StPO sieht die grundsätzliche Verpflichtung des Tatgerichts vor, vor einer Unterbringung des Angeklagten nach den §§ 63, 64 StPO einen Sachverständigen zu vernehmen. Ob und unter welchen Voraussetzungen von dieser Verpflichtung abgesehen werden kann/darf, ist in der Rechtsprechung des BGH und der Literatur nicht abschließend geklärt (vgl. die o.a. Nachweise). Wenn sich das Tatgericht aber entschließt, einen Sachverständigen nicht zu hören, dann muss es jedoch ausreichende Feststellungen für seine Absehensentscheidung treffen. Das war hier offensichtlich nicht der Fall, was dann die Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung zur Folge hatte.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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