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Verhüllungsverbot und Tragen eines Niqabs

Die Regelung des § 23 Abs. 4 S. 1 StVO, wonach ein Kraftfahrzeugführer sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken darf, dass er nicht mehr erkennbar ist, dient präventiv der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer. Das Verhüllungsverbot ist mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar und auch von einer Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, zu beachten.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.6.2022IV-2 RBs 73/22

I. Sachverhalt

Niqab als Fahrzeugführerin getragen

Das AG hat die Betroffene wegen „vorsätzlichen Führens eines Kraftfahrzeugs mit verdecktem Gesicht“ zu einer Geldbuße von 66 EUR verurteilt. Bei der Betroffenen handelt es sich um eine gläubige Muslima. Sie trug zur Tatzeit beim Führen ihres Pkw einen Niqab, d.h. eine das Gesicht bis auf die Augenpartie verhüllende Vollverschleierung. Das OLG hat ihre Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des sachlichen Rechts zugelassen, aber als unbegründet verworfen.

II. Entscheidung

Regelung in (St)VO genügt

Die Verbotsnorm des § 23 Abs. 4 S. 1 StVO sei wirksam. Sie verstoße auch unter Berücksichtigung der durch Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG geschützten Religionsfreiheit und Religionsausübung nicht gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt, wonach der parlamentarische Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen in allen grundlegenden normativen Bereichen selbst zu treffen hat. Das VG Düsseldorf (VRR 4/2021, 21 [Deutscher]) hat dazu ausgeführt: „Die Verpflichtung, beim Führen von Kraftfahrzeugen das Gesicht weder zu verhüllen noch sonst zu verdecken, führt zu keiner gezielten oder unmittelbar den Schutzbereich der Religionsfreiheit betreffenden Beschränkung. Sie stellt vielmehr eine generelle Anordnung dar, die nur in seltenen Fällen mit der Religionsfreiheit kollidieren kann. Auch in etwaigen Konfliktfällen ist die Intensität des Eingriffs in der Regel gering, weil das Verhüllungsverbot nur das Führen eines Kraftfahrzeuges betrifft und die Religionsausübung damit nur in einer eng begrenzten und für die Religionsfreiheit typischerweise nicht wesentlichen Lebenssituation eingeschränkt sein kann.“ Aus diesen Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, bedürfe das Gesichtsverhüllungsverbot für Kfz-Führer ebenso wenig einer unmittelbaren Ausgestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber wie etwa die Schutzhelmpflicht für Motorradfahrer (§ 21a Abs. 2 S. 1 StVO), die auch für Personen gilt, die aus religiösen Gründen einen Turban tragen (BVerwG NJW 2019, 3466).

Kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit

Die Regelung verstoße nicht gegen höherrangiges Recht und sei mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar. Durch das Gesichtsverhüllungsverbot werde niemand an der Ausübung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihr als verbindlich erachteten Vollverschleierungspflicht (Niqab) müsse die Betroffene, die nicht über eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 S. 1 StVO verfügt, allerdings auf das Führen eines Kfz verzichten. Die Regelung des § 23 Abs. 4 S. 1 StVO könne sie daher mittelbar in ihrer Religionsausübung beeinträchtigen. Zwar enthalte Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG keinen Gesetzesvorbehalt, so dass sich Einschränkungen aus der Verfassung selbst ergeben müssen. Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählten indes die Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (BVerfG NJW 2020, 1049, 1051). Die Sicherheit des Straßenverkehrs stelle einen solchen Gemeinschaftswert von Verfassungsrang dar (BVerfG zfs 2018, 230; OVG Münster NJW 2021, 2982, 2984 = VRR 7/2021, 25 [Deutscher]).

Zweck der Verbotsnorm

Das durch § 23 Abs. 4 S. 1 StVO angeordnete Gesichtsverhüllungsverbot diene in repressiver Hinsicht dem Ziel, die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Zugleich komme der Regelung eine präventive Schutzfunktion zu. Denn ein Kfz-Führer, der damit rechnen muss, dass er anhand eines automatisiert erstellten Messfotos für einen Verkehrsverstoß (insbesondere bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, Missachtung des Rotlichts oder Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands) zur Verantwortung gezogen wird, werde sich eher verkehrsgerecht verhalten als derjenige, der unter Verhüllung seines Gesichts unerkannt am Straßenverkehr teilnimmt. Mit dieser Zielsetzung diene § 23 Abs. 4 S. 1 StVO der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer (BVerfG zfs 2018, 230; OVG Münster u. VG Düsseldorf a.a.O.). Der Verordnungsgeber erfülle durch das Gesichtsverhüllungsverbot eine staatliche Schutzpflicht. Die Regelung des § 23 Abs. 4 S. 1 StVO sei schon mit Blick auf den bezweckten präventiven Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer gerechtfertigt. Die Tragfähigkeit weiterer Gesichtspunkte (Gewährleistung von Rundumsicht und nonverbaler Kommunikation), die in der Verwaltungsrechtsprechung zur Rechtfertigung des Gesichtsverhüllungsverbots ergänzend angeführt worden sind (VG Düsseldorf a.a.O.; krit. Rebler/Huppertz, NZV 2021, 127, 128 f.), bedürfe daher keiner Erörterung. Besonderen individuellen Gründen des Kfz-Führers könne im Einzelfall durch Erteilung einer Ausnahmegenehmigung (§ 46 Abs. 2 S. 1 StVO) Rechnung getragen werden. Über eine solche Ausnahmegenehmigung habe die Betroffene zur Tatzeit (und auch danach) nicht verfügt.

III. Bedeutung für die Praxis

Kurz, knapp und prägnant

Kurz, knapp und prägnant bringt das OLG Düsseldorf den Kern der Sache auf den Punkt: Verkehrsregeln gelten für alle Verkehrsteilnehmer. Hieraus resultierende mittelbare Einschränkungen der Religionsfreiheit sind angesichts des Schutzes anderer Verkehrsteilnehmer grundsätzlich hinzunehmen. Solche Folgen können im Einzelfall über eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 2 S. 1 StVO aufgefangen werden. Die Hürden dafür sind allerdings hoch (OVG Münster und die Vorinstanz VG Düsseldorf jew. a.a.O. zu einer Ausnahmegenehmigung zum Tragen eines Niqabs als Kfz-Führerin).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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