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Rechtsprechungsübersicht zum Recht der Pflichtverteidigung 2021/2022

Wir setzen mit diesem Beitrag unsere Berichterstattung zum (neuen) Recht der Pflichtverteidigung fort. Er schließt an die Übersicht in StRR 8/2021, 5 ff. an.

I.

Allgemeines

Der Schwerpunkt der Diskussion im Recht der Pflichtverteidigung liegt derzeit nach wie vor bei der Frage der nachträglichen/rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Die Rechtsprechung ist – wie auch zum alten Recht – gespalten. Zum Teil wird an den alten Argumenten und der alten Rechtsprechung festgehalten und die rückwirkende Bestellung als nicht zulässig angesehen, wobei immer auch noch das sog. Kostenargument ins Feld geführt wird. Hillenbrand hat aber inzwischen überzeugend dargelegt, dass das Argument, das schon früher nicht zutreffend war, auf das neue Recht erst recht nicht mehr angewendet werden kann (vgl. Hillenbrand, StRR 3/2022, 5 ff.).

II.

Rechtsprechungsübersicht

Die seit der letzten Übersicht ergangene Rechtsprechung ist in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. Sie hat den Stand von Ende Juli 2022.

Auswahl des Verteidigers

Der Vorsitzende kann den Antrag auf Beiordnung eines bestimmten Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger zurückweisen, wenn dieser an geplanten Terminen nicht teilnehmen kann, die zur Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes mit Blick auf inhaftierte Mitangeklagte geboten sind (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 – StB 35/21, StV 2022, 137 [Ls.]).

Bestellung

In dem Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung zum Pflichtverteidiger liegt in der Regel die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung (LG Siegen, Beschl. v. 16.3.2022 – 10 Qs 26/22). Der Wahlanwalt muss, wenn er einen Beiordnungsantrag stellt, die Niederlegung des Wahlmandats ankündigen/erklären. Wird die Niederlegung nicht ausdrücklich angekündigt, soll der Rechtsanwalt nicht als Pflichtverteidiger bestellt werden können (LG Rostock, Beschl. v. 16.9.2021 – 22 Qs 157/21; AG Rostock, Beschl. v. 26.8.2021 – 23 Ds 161/21).

Bestellung, Dauer

Die Pflichtverteidigerbestellung endet regelmäßig erst mit dem rechtskräftigen Abschluss oder der Einstellung des Strafverfahrens; eine Beschränkung der Bestellung auf die jeweilige Instanz ist daher grundsätzlich fehlerhaft (KG, Beschl. v. 25.2.2022 – (2) 161 Ss 25/22 (7/22)).

Die Dauer der Pflichtverteidigerbestellung ist ausdrücklich in § 143 StPO n.F. geregelt. § 143 Abs. 1 und Abs. 2 StPO sind auch im Strafbefehlsverfahren nach § 408b StPO grundsätzlich uneingeschränkt anwendbar, so dass sich die Beendigung der Bestellung eines Pflichtverteidigers auch im Strafbefehlsverfahren danach richtet. Danach endet eine Pflichtverteidigerbeiordnung nach § 408b StPO nicht per se mit dem Einlegen des Einspruchs (LG Oldenburg, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 Qs 424/21 m.w.N.). Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet eindeutig dann, wenn der Strafbefehl in Rechtskraft erwächst. Legt der Angeschuldigte hingegen Einspruch ein und ist eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten, dauert die Bestellung fort. Ist erwartungsgemäß mit einer kürzeren Freiheitsstrafe zu rechnen, so kann die Bestellung im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts aufgehoben werden (LG Oldenburg, a.a.O.).

Bestellung, Fälle des § 140 Abs. 1 StPO

Ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge (BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22; StRR /6/2022, 11 m. Anm. Hillenbrand = StraFo 2022, 280). Für die Beiordnungsgründe des § 140 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO ist es gleichgültig, wenn nach dem weiteren Verfahrensverlauf die Verurteilung nicht mehr wegen des angenommenen Verbrechens, sondern nur wegen eines Vergehens zu erwarten ist. Vielmehr bleibt die einmal notwendige Verteidigung so lange notwendig, bis rechtskräftig (§ 143 Abs. 1 StPO) entschieden ist, dass kein Verbrechen vorliegt (LG Potsdam, Beschl. v. 17.11.2021 – 23 Qs 37/21).

Die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist unabhängig von der Dauer der Haft (LG Magdeburg, Beschl. v. 24.9.2021 – 25 Qs 81/21, StraFo 2021, 513 = StV 2022, 144 [Ls.]). Zur Anstaltsunterbringung i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehören insbesondere die verschiedenen Formen der Haft sowie die Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB, ebenso indes auch – in analoger Anwendung – die stationäre Behandlung in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG sowie ein die persönliche Freiheit erheblich einschränkender Aufenthalt in einer stationären Alkoholentzugsbehandlung (LG Hannover, Beschl. v. 8.4.2022 – 40 Qs 12/22). § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch dann Anwendung, wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft in einem anderen Verfahren vollstreckt wird (LG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22). Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet im Strafvollstreckungsverfahren entsprechende Anwendung (LG München I, Beschl. v. 16.10.2020 – 23 Qs 30/20).

§ 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ist im Hinblick auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte wie § 140 Abs. 2 S. 2 StPO a.F. auszulegen. Das Stottern eines Beschuldigten begründet den Fall einer notwendigen Verteidigung lediglich dann, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen (OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.5.2021 – 1 Ws 121/21).

Beim Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO ist zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 gegeben ist, etwa wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge (LG Halle, Beschl. v. 10.9.2021 – 3 Qs 93/20, StV 2022, 143 [Ls.]).

Bestellung, Schwere der Tat

Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr ist in der Regel Anlass für die Beiordnung eines Verteidigers (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.7.2022 – 2 Ws 183/22; LG Bonn, Beschl. v. 1.3.2022 – 63 Qs 7/22; LG Halle, Beschl. v. 10.9.2021 – 3 Qs 93/20, StV 2022, 143 [Ls.]).

Die Grenze der Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (LG Halle, Beschl. v. 10.9.2021 – 3 Qs 93/20, StV 2022, 143 [Ls.]; LG Magdeburg, Beschl. v. 9.5.2022 – 22 Qs 13/22 und v. 1.6.2022 – 21 Qs 23/22; LG Marburg, Beschl. v. 9.11.2021 – 4 Qs 78/ 21; Beschl. v. 1.6.2022 – 21 Qs 23/22; LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21, StRR 11/2021, 17 für Bewährungswiderruf). Dabei bedarf es jedoch regelmäßig der Prüfung im konkreten Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist. Eine schematische Betrachtung verbietet sich daher (LG Halle, Beschl. v. 18.1.2022 – 3 Qs 1/22, StraFo 2022, 105; LG Marburg, Beschl. v. 9.11.2021 – 4 Qs 78/21; zur [verneinten] Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Staatsanwaltschaft ggf. nur den Erlass eines Strafbefehls beantragt und damit ein Bewährungswiderruf wenig wahrscheinlich ist (AG Rostock, Beschl. v. 22.2.2022 – 34 Gs 429/22).

Für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO sind die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dazu gehören auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung, wie z.B. eine drohende Einziehungsmaßnahme (LG Magdeburg, Beschl. v. 28.4.2022 – 25 Qs 32/22; LG Regensburg, Beschl. v. 17.8.2021 – 5 Qs 172/21. StRR 10/2021, 2 [Ls.]). Ein Pflichtverteidiger ist auch beizuordnen, wenn es sich bei dem dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikt um einen Fall des § 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 lit c) GmbHG handelt (OLG Oldenburg, Beschl. v. 22.9.2021 – 1 Ws 386/21 [Verlust der bisherigen Erwerbstätigkeit als Geschäftsführer und Anteilseigner einer als GmbH firmierenden Spedition]).

Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

Es erfordert nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation eine Beiordnung (LG Osnabrück, Beschl. v. 2.7.2021 – 10 Qs 32/21). Eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Sachlage nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich machen könnte, ist nicht gegeben, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hatte (BayObLG, Beschl. v. 25.11.2021 – 202 StRR 132/21). Die Schwierigkeit der Sachlage wird dadurch begründet, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Verteidiger gemäß § 147 StPO zusteht, nicht umfassend vorbereitet werden kann (LG Berlin, Beschl. v. 15.6.2021 – 525 Qs 34/21, StraFo 2021, 345 = StV-S 2021, 109; zur Schwierigkeit wegen einer Vielzahl von Polizeizeugen s. auch noch LG Düsseldorf, Beschl. v. 24.2.2022 – 18 Qs-82Js 1483/19-9/22). Das LG Osnabrück hat die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers verneint, auch wenn nur Polizeizeugen zur Verfügung standen, die zur Last gelegte Tat unter BtM-Einfluss begangen wurde und ein Beweisverwertungsverbot zu erörtern war (LG Osnabrück, Beschl. v. 2.7.2021 – 10 Qs 32/21). Ein notwendiger Fall der Verteidigung liegt auch dann vor, wenn überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter einer Akteneinsicht durch den Beschuldigten selbst entgegenstehen (LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 29.12.2021 – 24 Qs 60/21, StraFo 2022, 103).

Von einer schwierigen Sachlage ist auch auszugehen, wenn ein Zeuge im Verlaufe des Verfahrens seine Aussage ändert und damit zu rechnen ist, dass Vorhalte notwendig werden, die Kenntnis vom Akteninhalt erfordern (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.6.2021 – 1 Qs 131/21, StraFo 2021, 377; vgl. a. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.7.2022 – 2 Ws 183/22 zur Einholung eines SV-Gutachtens). Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten – strafbewehrten – Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG benötigt und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlender Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach- und Rechtslage schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO (LG Görlitz, Beschl. v. 19.7.2021 – 3 Qs 125/21, StV 2021, 631). Das AG Bremen hat einen Pflichtverteidiger beigeordnet, wenn die Frage der Wirksamkeit der Zustellung des Strafbefehls an einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten nur durch eine Akteneinsicht geklärt werden kann (AG Bremen, Beschl. v. 21.10.2021 – 93 Cs 349/18).

Bei einer wegen ungleichartiger Wahlfeststellung weit gefassten „Rahmenanklage“ können sich im Lauf des Verfahrens derart vielfältige Fallvarianten und Beweiskonstellationen ergeben, dass die Rechtslage ohne juristisches Fachwissen unübersichtlich werden dürfte und deshalb als schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO anzusehen ist (LG Leipzig, Beschl. v. 29.4.2022 – 2 Qs 3/22 jug). Dem Angeklagten ist i.d.R. ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- und Rechtslage erstrebt (KG, Beschl. v. 25.9.2020 – 1 Ws 52/20, StV 2021, 153 [Ls.]). Bei einem einfach gelagerten Schuldvorwurf, der sich auf ein Geständnis des Angeklagten gründet, soll aber ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen Schwierigkeit der Sachlage regelmäßig auch dann ausscheiden, wenn das AG den Angeklagten ohne nachvollziehbare Begründung freispricht und die Staatsanwaltschaft sich hiergegen mit dem Rechtsmittel der Berufung wendet (BayObLG, Beschl. v. 25.11.2021 – 202 StRR 132/21).

Eine schwierige Rechtslage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO liegt zumindest dann vor, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts; insbesondere wenn sie diskutiert werden oder abweichende Rechtsprechung existiert (LG Braunschweig, Beschl. v. 14.2.2022 – 8 Qs 36/22 für Urkundenfälschung und Impfausweisfälschung und Sperrwirkung bei den §§ 267, 271 StGB a.F.). Die (subjektive) Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn zu besorgen ist, dass der Beschuldigte ohne anwaltliche Hilfe seine Rechte allein nicht ausreichend wahrnehmen kann. Davon ist auszugehen, wenn gegen den Beschuldigten in drei verschiedenen Bundesländern Verfahren anhängig sind, die gesamtstrafenfähig und aus Sicht des Beschuldigten daher koordiniert zu betreiben sind (LG Braunschweig, Beschl. v. 2.12.2021 – 4 Qs 270/21).

Wird der Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung beim Kindergeldbezug verfolgt und kommt es für den Kindergeldanspruch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf eine Koordinierung der Ansprüche nach Art. 68 Verordnung (EG) 883/2004 an, liegt regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung vor (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.7.2021 – 12 Qs 45/21, StraFo 2021, 427 = StV 2021, 630 [Ls.]; zur – bejahten – Bestellung eines Pflichtverteidigers im Steuerstrafverfahren auch LG Hof, Beschl. v. 14.1.2022 – 4 Qs 5/22; zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Exequaturverfahren KG, Beschl. v. 3.2.2022 – 2 Ws 12/22). In einem Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften ist die Sach- und Rechtslage schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, da neben der Problematik der Inaugenscheinnahme der pornografischen Bilder ggf. ein Großteil der Beweismittel lediglich in englischer Sprache abgefasst vorliegt (LG Zwickau, Beschl. v. 28.7.2021 – 1 Qs 134/21).

Bei Jugendlichen und Heranwachsenden ist zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit weniger als Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens insbesondere auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung abzuschätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende großzügige und extensive Anwendung des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG (LG Bremen, Beschl. v. 28.6.2021 – 41 Qs 243/21, StV 2021, 564 [Ls.]; LG Mannheim, Beschl. v. 16.2.2022 – 7 Qs 9/2022, StraFo 2022, 105).

Bestellung, Unfähigkeit zur Selbstverteidigung

Eine Betreuerbestellung allein genügt nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen (s. aber LG Duisburg, Beschl. v. 24.6.2021 – 31 Qs 31/31). Gem. § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Beschuldigte umfassend unter Betreuung steht (LG Schwerin, Beschl. v. 30.9.2021 – 31 Qs 56/21). Wurde einem Angeklagten ein Betreuer mit dem „Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt, liegen in der Regel zugleich die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor (KG, Beschl. v. KG, Beschl. v. 20.12.2021 – (2) 161 Ss 153/21 [35/21], StraFo 2022, 102).

Die Mitwirkung eines Verteidigers kann über den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO hinaus unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten sein, wenn der Nebenkläger anwaltlich beraten ist (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 8.6.2021 – 1 Qs 131/21, StraFo 2021, 377). Die Umstände, dass eine Beschuldigte Analphabetin ist, unter Betreuung steht und bei einem Unterlassungsdelikt wie z.B. § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (passloser Aufenthalt) wegen psychischer Erkrankung §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen, erfordern jeweils selbstständig eine Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung (LG Duisburg, Beschl. v. 24.6.2021 – 31 Qs 31/21). Jedenfalls begründet aber ansonsten ggf. die erforderliche Gesamtschau der angeführten Umstände die Bestellung (LG Duisburg, Beschl. v. 24.6.2021 – 31 Qs 31/21). Leidet der Beschuldigte an einer weit fortgeschrittenen Alkoholerkrankung mit erheblichen körperlichen Folgeerscheinungen und kann er sich wegen seines Zustandes nicht selbst verteidigen, ist ihm ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Deggendorf, Beschl. v. 2.6.2022 – 1 Qs 31/22). Es können erhebliche Zweifel an der Fähigkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, bestehen, wenn aufgrund desolater psychischer und persönlicher Verhältnisse ersichtlich ist, dass er mit behördlichem Schriftverkehr (hier: Strafbefehl) und einer adäquaten Reaktion hierauf schlicht überfordert ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.2.2022 – 12 Qs 5/22, StraFo 2022, 103).

In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert (LG Magdeburg, Beschl. v. 11.5.2022 – 25 Qs 33/22, StraFo 2022, 284).

Bestellung, Fall des § 141 StPO

Für die Eröffnung des Tatvorwurfs i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat (vgl. aber AG Hamburg, Beschl. v. 22.2.2022 – 163 Gs 259/22, wonach die anderweitige Kenntniserlangung nicht ausreichen soll). Die Auslegung, nach welcher unter der Eröffnung des Tatvorwurfs i.S.v. § 141 Abs. 1 StPO nur die förmliche Mitteilung i.S.v. §§ 136, 163a StPO verstanden wird, ist unter Beachtung der Neuregelung der Vorschriften zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zu eng (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; LG Leipzig, Beschl. v. 10.3.2021 – 25 Qs 2/21; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.7.2021 – 23 Qs 86/21). Gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger (nur) dann bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt (LG Potsdam, Beschl. v. 10.6.2021 – 21 Qs 28/21).

Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge (BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22; StRR 6/2022, 11 = StraFo 2022, 280). Unverzüglich i.S.d. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, d.h. ohne sachlich nicht begründete Verzögerung, erfolgen muss (LG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22; zur Unverzüglichkeit auch noch LG Dresden, Beschl. v. 12.7.2022 – 15 Qs 34/22).

Die Einschränkungen des 141 Abs. 2 S. 3 StPO betreffen die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen und gelten bei Vorliegen eines Antrages gem. § 141 Abs. 1 StPO gerade nicht (LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.5.2022 – 4 Qs 15/22; LG Hannover, Beschl. v. 8.4.2022 – 40 Qs 12/22).

Bestellung: Antrag, Verfahren, Zeitpunkt

Eines ausdrücklichen Antrags, etwa auch der Staatsanwaltschaft, der die gerichtliche Entscheidung nach § 142 Abs. 3 StPO erst erwirkt, bedarf es nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung für die gerichtliche Bestellung des Pflichtverteidigers nicht mehr (BGH, Beschl. 4.6.2021 – BGS 254/21, StRR 9/2021, 14 = StRR 11/2021, 13). Dies gilt nicht nur für Fälle, in denen bereits Anklage erhoben worden und die Verfahrensherrschaft auf das angerufene Gericht übergangenen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO), sondern gerade auch für ermittlungsrichterliche Entscheidungen im Vorverfahren (BGH, Beschl. 4.6.2021 – BGS 254/21, StRR 9/2021, 14 = StRR 11/2021, 13). Das Antragsrecht des § 141 Abs. 1 StPO besteht ab dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte über den Tatvorwurf unterrichtet wird (vgl. auch BGH, Beschl. 4.6.2021 – BGS 254/21, a.a.O.).

Im Regelfall bedarf die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. Es kann die Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen aber auch durch das betreffende Gericht aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen. Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung ist ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt (OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 102/22; AG Hamburg-Wandsbek, Beschl. v. 13.4.2022 – 772 Ls 19/20 jug, StraFo 2022, 283).

Rückwirkende Bestellung

Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat auch noch nach Beendigung des Verfahrens (zumindest dann) zu erfolgen, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (LG Bonn, Beschl. v. 6.12.2021 – 63 Qs 67/21; Beschl. v. 1.3.2022 – 63 Qs 7/22; LG Dresden, Beschl. v. 12.7.2022 – 15 Qs 34/22; LG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2021 – 17 Qs 33/21; Qs 97/21; Beschl. v. 18.5.2022 – 4 Qs 15/22; LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 30.5.2022 – 24 Qs 36/22; LG Gera, Beschl. v. 10.11.2021 – 11 Qs 309/21; LG Hamburg, Beschl. v. 15.7.2021 – 622 Qs 22/21; Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22; LG Kiel, Beschl. v. 16.9.2021 – 1 Qs 72/21; LG Köln, Beschl. v. 2.6.2021 – 323 Qs 44/21, StraFo 2021, 342; LG Leipzig, Beschl. v. 4.5.2022 – 8 Qs 18/22; u.a. LG Magdeburg, Beschl. v. 10.6.2021 – 23 Qs 39/21; Beschl. v. 10.2.2022 – 25 Qs 8/22; LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 – 7 Qs 11/20, StRR 5/2020, 24; LG Stendal, Beschl. v. 8.7.2021 – 501 Qs 50/21; LG Stralsund, Beschl. v. 23.8.2021 – 26 Qs 161/21; LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21; StRR 11/2021, 17; Beschl. v. 14.7.2022 – 18 Qs 36/22; LG Wuppertal, Beschl. v. 8.10.2021 – 26 Qs 175/21; AG Chemnitz, Beschl. v. 30.5.2022 – 11 Gs 1615/22; AG Erfurt, Beschl. v. 27.4.2022 – 30 Gs 962/22; AG Frankfurt am Main, Beschl. v. 6.10.2021 – 3680 Js 248979/18 – 931 Gs; AG Heidelberg, Beschl. v. 6.12.2021 – 6 Gs 21/21 jug; AG Karlsruhe, Beschl. v. 4.1.2022 – 31 Gs 13/22; AG Mönchengladbach, Beschl. v. 15.7.2022 – 57 Gs 621_22; AG Torgau, Beschl. v. 3.8.2021 – 5 Gs 163/21; AG Wuppertal, Beschl. v. 17.11.2021 – 13 Gs 41/21). Etwas anderes kann gelten, wenn der Beschuldigte nicht alles für eine zeitgerechte Bestellung getan hat, also ggf. z.B. keinen Antrag nach § 141 StPO gestellt hat (LG Potsdam, Beschl. v. 10.6.2021 – 21 Qs 28/21). Nach anderer Auffassung soll eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommen. Das soll auch dann gelten, wenn das Verfahren insgesamt noch nicht abgeschlossen ist bzw. in den Fällen des § 154 Abs. 2 StPO (u.a. LG Aurich, Beschl. v. 9.5.2022 – 12 Qs 9/22; Beschl. v. 30.5.2022 – 12 Qs 89/22; Beschl. v. 7.6.2022 – 12 Qs 93/22; LG Berlin, Beschl. v. 14.1.2022 – 512 Qs 113/21; LG Bielefeld, Beschl. v. 6.10.2021 – 2 Qs 354/21; Beschl. v. 28.3.2022 – 20 Qs 99/22; LG Bonn, Beschl. v. 19.7.2021 – 63 Qs 51/21; LG Darmstadt, Beschl. v. 18.1.2022 – 3 Qs 15/22; LG Heilbronn, Beschl. v. 20.6.2022 – 8 Qs 7/2; [auch] LG Magdeburg, Beschl. v. 3.6.2022 – 21 Qs 41/22; LG Oldenburg, Beschl. v. 24.2.2022 – 1 Qs 65/22; Beschl. v. 7.3.2022 – 4 Qs 76/22; AG Tiergarten, Beschl. v. 29.12.2021 – (274 Ds) 282 Js 2172/21 [78/21]).

Entpflichtung/Auswechselung

Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung mit der einschränkenden Maßgabe zu deren Wiederaufleben im Falle der Niederlegung des Wahlmandats durch einen neu mandatierten Rechtsanwalt ist unzulässig. In diesem Fall steht dem entbundenen Pflichtverteidiger ein Beschwerderecht zu (OLG Dresden, Beschl. v. 3.9.2021 – 3 Ws 78/21, StRR 11/2021, 2 [Ls.]; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.7.2022 – 4 Ws 194/22). Die Aufhebung des Beschlusses über die Pflichtverteidigerbestellung hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf bereits entstandenen Gebühren (AG Osnabrück, Beschl. v. 11.10.2021 – 202 Ds (211 Js 11318/21) 235/21, AGS 2021, 548). Hat der Pflichtverteidiger im Hinblick auf § 143a Abs. 1 S. 1 StPO nach Erscheinen eines Wahlverteidigers um seine Entpflichtung gebeten, so begründet dies keinen „konsensualen Verteidigerwechsel“, wenn der eintretende Wahlverteidiger den geheimen Vorbehalt hat, nach Ausscheiden des bisherigen Pflichtverteidigers seine Beiordnung zu beantragen, weil er die Verteidigung nur als Pflichtverteidiger führen will (KG, Beschl. v. 28.10.2021 – 3 Ws 276/21, NStZ 2022, 383). Im Falle der Beendigung des Mandats des Wahlverteidigers kommt es grundsätzlich nicht in Betracht, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Vielmehr wird regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen sein (KG, Beschl. v. 28.10.2021 – 3 Ws 276/21, NStZ 2022, 383).

Nach rechtskräftigem Abschluss eines Strafverfahrens ist die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr möglich (KG, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 57/22).

Die Äußerung eines beigeordneten Rechtsanwalts, wonach die Hauptverhandlung „eine Farce“ sei und weder er noch der Angeklagte sich daher an ihr aktiv beteiligen würden, stellt keine ernsthafte und endgültige Verteidigungsverweigerung dar und rechtfertigt eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers (nach § 145 Abs. 1 S. 1 StPO) auch dann nicht, wenn die Verteidigung bei Zeugenvernehmungen tatsächlich auf die Ausübung ihres Fragerechts verzichtet (OLG Schleswig, Beschl. v. 21.2.2022 – 1 Ws 26/22, StraFo 2022, 106).

Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten und muss vom Antragsteller substantiiert dargelegt werden; die behauptete Zerstörung des Vertrauensverhältnisses muss mit konkreten Tatsachen belegt werden, so dass pauschale, nicht näher belegbare Vorwürfe einen Pflichtverteidigerwechsel nicht rechtfertigen (BGH, Beschl. v. 4.2.2022 – 5 StR 366/21; s.a. BGH, Beschl. v. 21.12.2021 – 4 StR 295/21). Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und seinem Mandanten ist zerstört, wenn der Verteidiger seinen Mandanten trotz eines schwerwiegenden Vorwurfs über ein Jahr nicht in der JVA besucht (LG Görlitz, Beschl. v. 28.6.2021 – 11 Qs 4/21 jug; vgl. a. noch OLG München, Beschl. v. 25.10.2021 – 3 Ws 820/21. StRR 1/2022, 16 zur verneinten Entpflichtung wegen nicht ausreichenden Kontakts des Rechtsanwalts zum Mandanten).

An die Pflicht des Pflichtverteidigers zur Substantiierung seines Sachvortrags zur Darlegung einer endgültigen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses können nach den Umständen des Einzelfalls geringere Anforderungen zu stellen sein als an die Substantiierungspflicht des Beschuldigten selbst (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.7.2022 – 4 Ws 194/22).

Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“ des Bestellungsbeschlusses an den Beschuldigten. Die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt nicht zu laufen, wenn der Beschuldigte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.3.2022 – 13 Qs 16/22).

Ein Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO kommt nur in Betracht, wenn entweder das Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet ist (BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – StB 2/22 u. StB 3/22, StRR 5/2022, 15).

Entpflichtung/Umbeiordnung

Eine Umbeiordnung soll aber dann nicht in Betracht kommen, wenn der neue Pflichtverteidiger an einigen der bereits terminierten Hauptverhandlungstermine verhindert ist (OLG München, Beschl. v. 25.10.2021 – 3 Ws 820/21, StRR 1/2022, 16). Hat der Rechtsanwalt einmal im Hinblick auf eine kostenneutrale Umbeiordnung auf Gebühren verzichtet, ist er an diesen Verzicht gebunden, auch wenn später eine Entpflichtung des früheren Pflichtverteidigers wegen Störung des Vertrauensverhältnisses erfolgt (OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 5.11.2021 – 2 Ws 84/21, StRR 12/2021, 20).

Mehrere Pflichtverteidiger

Für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO nach neuem Recht kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I S. 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte (OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 102/22).

Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO ist nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22; KG, Beschl. v. 12.1.2022 – 4 Ws 4/22). Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v.5.5.2022 – StB 12/22). Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v.5.5.2022 – StB 12/22; LG Köln, Beschl. v. 16.11.2021 – 111 Ks 6/21). Aus dem Umstand, dass die Ermittlungen teilweise auf EncroChat-Daten beruhen, ergibt sich nicht zwingend eine besondere Komplexität, die die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers erfordert; LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 7.4.2022 – 22 Qs 18/22).

Rechtsmittel

Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch den Vorsitzenden des erkennenden Gerichts keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat (BGH, Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22).

Die sofortige Beschwerde gegen die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers ist wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos, wenn das Strafverfahren nach Beschwerdeeinlegung eingestellt wird (LG Braunschweig, Beschl. v. 21.10.2021 – 4 Qs 299/21). Mit der Ausgestaltung des Rechtsmittels betreffend die (Nicht-)Bestellung eines Pflichtverteidigers als sofortige Beschwerde ist es nicht zu vereinbaren, wenn der Angeklagte, dessen Antrag auf Bestellung eines (zusätzlichen) Pflichtverteidigers abgelehnt worden ist, nach Eintritt der Rechtskraft aufgrund eines neuerlichen inhaltsgleichen Antrags eine Neubeurteilung der Sach- und Rechtslage durch das Ausgangsgericht und anschließend durch das Beschwerdegericht erwirken könnte (OLG Hamm, Beschl. v. 21.6.2022 – 5 Ws 118/22).

Dem Pflichtverteidiger steht gegen die Ablehnung einer von ihm beantragten Entpflichtung ein eigenes Beschwerderecht zu (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.7.2022 – 4 Ws 194/22).

Revision

Die Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht wird, dass in der Berufungshauptverhandlung kein Verteidiger mitgewirkt hat, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung wegen Schwierigkeit der Rechtslage nach § 140 Abs. 2 StPO vorgelegen habe, weil ein Verwertungsverbot nach § 252 StPO in Betracht komme, setzt jedenfalls in Fällen, in denen der Tatrichter von „spontan“ gemachten Angaben des zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen ausgeht, einen Vortrag voraus, aus dem sich die konkrete Aussagesituation ergibt (BayObLG, Beschl. v. 25.11.2022 – 202 StRR 132/21).

Auch eine mittels elektronischen Dokuments übermittelte Revisionsbegründung des Pflichtverteidigers muss von dem beigeordneten Verteidiger signiert sein und darf mithin nicht „in Vertretung für Rechtsanwalt … “ durch einen anderen Rechtsanwalt signiert worden sein (BGH, Beschl. v. 8.6.2022 – 5 StR 177/22).

Strafvollstreckung

Ist im Strafvollstreckungsverfahren gem. § 57 StGB nicht nur zu beurteilen, ob beim Verurteilten eine günstige Prognose vorliegt oder nicht, sondern (vorab) auch die Frage zu klären, ob zur Verbesserung der Sozialprognose eine Therapiemaßnahme angezeigt ist oder nicht, welche Therapiemaßnahme – Sozialtherapie, Verhaltenstherapie oder Spielsuchttherapie – sinnvoll ist und ob eine entsprechende Therapiemaßnahme ambulant oder stationär durchzuführen ist, ist dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Amberg, Beschl. v. 9.11.2021 – 2 StVK 916/20). Ist der Verurteilte in der Bewährungszeit erneut erheblich und einschlägig straffällig geworden und deswegen rechtskräftig verurteilt worden, fehlt es mangels schwieriger vollstreckungsrechtlicher Lage im Verfahren auf Widerruf der Strafaussetzung an den Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 S. 1 StPO für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.11.2021 – 1 Ws 123/21 [S]). Das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2006 – 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 S. 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO (OLG Dresden, Beschl. v. 6.42022 – 2 Ws 93/22). Dem Verurteilten ist im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn sich die Strafvollstreckungskammer eingehend mit dem aktuellen Gesundheitszustand des Verurteilten und bereits vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen auseinandersetzen und diese in Beziehung zu den begangenen Straftaten setzen muss und zudem der Vollstreckungsfall in rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die sowohl die Strafvollstreckungskammer als auch die Generalstaatsanwaltschaft zunächst verkannt haben (OLG Braunschweig, Beschl. v. 3.2.2022 – 1 Ws 280/21). Die Sachlage im Strafvollstreckungsverfahren ist schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, wenn es sich um mehrere Bewährungsverfahren handelt, die in einem Verfahren verlängert werden sollen, und weil Bewährungsfristen teilweise bereits mehrfach verlängert wurden und deswegen die Regel aus §§ 56a Abs. 2, 56f Abs. 2 S. 2 StGB greifen könnte (OLG Schleswig, Beschl. v. 31.8.2021 – 1 Ws 146/21).

Für das behördliche Verfahren über die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 BtMG kann dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger nicht bestellt werden; insoweit findet § 140 Abs. 2 StPO keine entsprechende Anwendung. Stattdessen ist dem Verurteilten unter den Voraussetzungen des § 1 BerHG auf Antrag Beratungshilfe zu gewähren (OLG Dresden, Beschl. v. 6.5.2022 – 2 Ws 106/22, StraFo 2022, 280; a.A. OLG Jena, Beschl. v. 1.10.2008 – 1 Ws 431/08, NStZ 2010, 525).

Vergütungsfestsetzung

Das beim AG zu führende Verfahren zur Festsetzung erstinstanzlicher Pflichtverteidigerkosten kann eine i.S.v. § 198 GVG unangemessen lange Verfahrensdauer haben, wenn es vom zuständigen Rechtspfleger grundsätzlich so betrieben wird, dass die Vergütungsfestsetzung bis zur Rücksendung der Akten aus der Rechtsmittelinstanz nicht abschließend bearbeitet wird und während der Dauer der Aktenversendung auch eine Anfrage beim Rechtsmittelgericht unterbleibt, um die Akten für den kurzen Bearbeitungszeitraum einer Vergütungsfestsetzung zurückzuerlangen (OLG Hamm, Urt. v. 8.9.2021 – 11 EK 11/20, AGS 2021, 570 = JurBüro 2022, 44 = StRR 11/2021, 27).

Zustellung

Eine Zustellung ist grundsätzlich nicht ordnungsgemäß bewirkt, wenn anstelle des Pflichtverteidigers eine andere Person das Empfangsbekenntnis unterschreibt (BGH, Beschl. v. 11.8.2021 – 3 StR 118/21).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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