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Konkludente Bestellung eines Sicherungs(pflicht)verteidigers

1. Im Regelfall bedarf die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. Es kann die Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen aber auch durch das betreffende Gericht aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen. Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung ist ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt.

2. Für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO nach neuem Recht kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte.

(Leitsätze des Verfassers)

OLG Köln, Beschl. v. 28.3.20222 Ws 103/22

I. Sachverhalt

Verfahren bei der Jugendkammer

Gegen den Angeklagten (und einen Mitangeklagten) wurde bei der Jugendkammer ein Verfahren wegen mehrfacher Brandstiftung, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Mord, geführt. Der Angeklagte befand sich in Haft. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt K als Pflichtverteidiger beigeordnet. Mit Schreiben vom 15.7.2020 bestellte sich dann zusätzlich Rechtsanwältin L als Wahlverteidigerin.

Terminsabsprache mit Verteidigern

Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung wurde zwischen dem damaligen Vorsitzenden der Jugendkammer und den Verteidigern im Rahmen der Terminabsprache telefonisch erörtert, zur Gewährleistung einer zeitnahen Durchführung der Hauptverhandlung – aufgrund teilweiser Terminverhinderung der beigeordneten Pflichtverteidiger der beiden Angeklagten – Rechtsanwältin W als Sicherungsverteidigerin des Mitangeklagten und Rechtsanwältin L als Sicherungsverteidigerin des Angeklagten beizuordnen. Der Angeklagte war mittellos, so dass seine Vertretung in sämtlichen anvisierten Terminen durch Rechtsanwältin L nur durch ihre Beiordnung als Sicherungsverteidigerin sichergestellt werden konnte. Per E-Mail vom 20.11.2020 wandte sich der Vorsitzende an die beteiligten Verteidiger und fasste die vorherigen Terminabsprachen zusammen. Dort lautete es ausdrücklich: „Mit Blick auf die im Rahmen der Terminabstimmung zutage getretene Terminlage der Verteidigung ist beabsichtigt, Frau Rechtsanwältin W sowie Frau Rechtsanwältin L verfahrenssichernd beizuordnen.“

Mit Beschluss des Vorsitzenden vom 14.12.2020 wurde Rechtsanwältin W als weitere verfahrenssichernde Pflichtverteidigerin bezüglich der Mitangeklagten beigeordnet. Eine schriftliche Beiordnung hinsichtlich Rechtsanwältin L unterblieb. Etwaige Gründe, die insoweit entgegen der E-Mail vom 20.11.2020 gegen eine Beiordnung sprachen, sind nicht aktenkundig.

Ladung der Rechtsanwältin zu den Terminen

Mit Eröffnungsbeschluss vom 22.12.2020 erfolgte zugleich eine Terminbestimmung von zunächst 15 Terminen im Zeitraum vom 25.1.2021 bis 18.3.2021. Rechtsanwältin L wurde zu diesen Terminen geladen. Am 14.1.2021 wurde ihr die Kammerbesetzung mitgeteilt. Auch zu den weiter bestimmten Fortsetzungsterminen vom 8.2.2021 und 1.3.2021 wurde sie geladen. Rechtsanwältin L nahm in der Zeit vom 25.1.2021 bis zur Verkündung des Urteils am 2.6.2021 an 21 Hauptverhandlungsterminen teil. Gegen das Urteil legten die Verteidiger des Angeklagten Revision ein.

Keine formelle Beiordnung

Rechtsanwältin L hat sodann ihren Vergütungsantrag gestellt. Im Rahmen des Vergütungsfestsetzungsverfahrens wurde dann festgestellt, dass ihre formelle Beiordnung bis dahin nicht erfolgt war. Rechtsanwältin L hat daraufhin beantragt, die (zumindest) konkludente Beiordnung betreffend den Angeklagten nachträglich schriftlich zu fassen bzw. hilfsweise, sie rückwirkend dem Angeklagten als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Dies wurde von der nunmehrigen Vorsitzenden der Jugendkammer abgelehnt. Sie ist davon ausgegangen, dass weder eine Bestellung durch schlüssiges Verhalten anzunehmen sei noch eine rückwirkende Bestellung in Betracht komme. Dagegen hat der Angeklagte sofortige Beschwerde eingelegt. Er hat beantragt, die (zumindest) konkludente Beiordnung von Rechtsanwältin L als Sicherungsverteidigerin festzustellen, hilfsweise, diese nachträglich und rückwirkend als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG ist Rechtsanwältin L dem Angeklagten für das Verfahren spätestens ab dem Beginn der Hauptverhandlung am 25.1.2021 und für deren gesamte Dauer als Sicherungsverteidigerin gemäß § 144 Abs. 1 StPO beigeordnet worden.

II. Entscheidung

(Konkludente) Bestellung

Im Regelfall bedürfe die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. An einer solchen fehle es, da keine formelle Beiordnung von Rechtsanwältin L erfolgt sei. Sie sei aber – so das OLG – stillschweigend durch den Vorsitzenden beigeordnet worden.

In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass eine Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen durch das betreffende Gericht auch aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen könne (vgl. u.a. BGH StraFo 2015, 37 = StV 2015, 739; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 142 Rn 17 m.w.N.; weitere Nachweise auch bei Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3651 und Burhoff/Volpert/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2388). Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung sei ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertige. Die maßgebenden Umstände und das Verhalten des zuständigen Richters seien dabei so auszulegen, wie sie aus der Sicht eines verständigen und redlichen Beteiligten aufzufassen sind.

Hieran gemessen habe Rechtsanwältin L nach der ausdrücklichen Ankündigung des Vorsitzenden in der E-Mail vom 20.11.2020, sie als Sicherungsverteidigerin zu bestellen, die anschließend erfolgenden Terminabsprachen und die Ladung zu den abgesprochenen Terminen so verstehen müssen, dass sie dem Angeklagten als Sicherungsverteidigerin beigeordnet worden sei. Denn ohne ihre Beiordnung hätte jedenfalls an vier avisierten Terminen die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden können. Im Hinblick auf die Dauer der Untersuchungshaft – und die zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgte Haftfortdauerentscheidung nach sechs Monaten – habe der Vorsitzende die – durch die vorgenannte E-Mail aktenkundige – Absicht gehabt, durch Bestellung von Sicherungsverteidigern für beide Angeklagten eine zeitnahe Durchführung der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Mangels aktenkundiger Gründe, die im weiteren Verlauf gegen die Beiordnung von Rechtsanwältin L hätten sprechen können, sei davon auszugehen, dass anders als im Falle von Rechtsanwältin W die formelle Beiordnung von Rechtsanwältin L aufgrund gerichtsinterner Abläufe versehentlich vergessen worden sei. Spätestens aber das ohne Hinweis auf eine Tätigkeit als Wahlverteidigerin – hierzu hätte im Hinblick auf die E-Mail vom 20.11.2020 aus Sicht des Angeklagten und von Rechtsanwältin L Anlass bestanden – erfolgende Mitwirkenlassen an der Hauptverhandlung ab dem 25.1.2021 und die Aufrechterhaltung der Termine, in denen allein eine Vertretung durch Rechtsanwältin L gewährleistet wurde, konnte aus Sicht des Angeklagten und von Rechtsanwältin L nur im Sinne einer Beiordnung ausgelegt werden.

Voraussetzungen für die Bestellung eines Sicherungsverteidigers (§ 144 StPO)

Das OLG hat außerdem die Voraussetzungen für die Bestellung von Rechtsanwältin L als zusätzlicher Pflichtverteidigerin nach § 144 Abs. 1 StPO bejaht. Es bezieht sich insoweit auf die Gesetzesbegründung zu § 144 Abs. 1 StPO (BT-Drucks 19/13829, S. 49) und die Rechtsprechung des BGH zu der Neuregelung (BGHSt 65, 129 = AGS 2021, 140 = StRR 1/2021, 14). Danach könne für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vorn 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte. Danach sei hier im Hinblick auf die Terminlage der Pflichtverteidiger eine zeitnahe und dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen gerecht werdende Durchführung der Hauptverhandlung nur durch Bestellung von Sicherungsverteidigern gewährleistet gewesen. Eine Vertretung durch Rechtsanwältin L als Wahlverteidigern sei im Hinblick auf die dem Vorsitzenden aus Telefonaten mit Rechtsanwältin L bekannte Mittellosigkeit des Angeklagten kein gangbarer Weg gewesen. Damit sei bei dem Festhalten an dem abgesprochenen Terminrahmen die Beiordnung von Rechtsanwältin L rechtlich geboten gewesen. Die Kammer hätte die Hauptverhandlung ohne Anwesenheit eines Verteidigers des Angeklagten an diesen Tagen nicht durchführen. können.

III. Bedeutung für die Praxis

Wenn nicht hier, wo dann

1. Der Entscheidung ist zuzustimmen. Zwar hat kein formeller Bestellungsbeschluss vorgelegen. Aber: Was muss denn noch passieren, wenn man nicht in einer Fallgestaltung wie der hier vorliegenden von einer konkludenten Bestellung ausgehen will. Der Vorsitzende teilt mit, dass die Bestellung beabsichtigt sei und dann nimmt die Rechtsanwältin ohne Einwände des Gerichts an den 21 Hauptverhandlungstagen teil. Bei der Sachlage ist die Entscheidung der „neuen“ Vorsitzenden, die klarstellende Feststellung der Beiordnung nicht zu treffen, nicht nachvollziehbar. Offenbar sollte da nach dem Motto: „Neue Besen kehren gut“ verfahren werden.

Beiordnungsgrund

2. Auch zum Beiordnungsgrund ist der Entscheidung beizutreten. Sie entspricht der angeführten Rechtsprechung und dem Sinn und Zweck der Neuregelung, nämlich u.a. der Verfahrenssicherung.

Aufpassen

2. Für Verteidiger/Rechtsanwälte gilt: Man muss immer darauf achten, dass auch nach solchen vorbereitenden Beiordnungs-/Sicherungsgesprächen noch die formelle Bestellung erfolgt. Dann erspart man sich solche – unnötigen – Diskussionen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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