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Flucht und Fluchtgefahr

Der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsorts erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.7.20224 Ws 302/22

I. Sachverhalt

Verfahren wegen Vergewaltigungsverdachts

Gegen den Angeklagten wird das Strafverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung geführt. Der Angeklagte hat sich zunächst aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls vom 3.7.2019 bis zum 2.9.2019 in Untersuchungshaft befunden.

Haftbefehl wird nach BGH-Aufhebung aufgehoben

Im ersten Rechtsgang hat das LG den Angeklagten mit Urteil vom 9.12. 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil des LG mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29.10.2021 hat die nunmehr zuständige Strafkammer des LG den Haftbefehl vom 3.7.2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben. In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches am 9.5.2022 bei Gericht einging.

Neuer Haftbefehl wegen unbekannten Aufenthalts

Am 2.6.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 7.3.2022 nicht auffindbar. Das LG hat sodann am 9.6.2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13.6.2022 ausgeführt.

An mitgeteilter Anschrift tatsächlich wohnhaft

Nur zwei Tage später, am 15.6.2022, hat der Verteidiger der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt. Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt. Am 23.6.2022 nahmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem AG vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrechterhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 1.7.2022 dem LG vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Haftbeschwerde erfolgreich

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg. Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht, hat aber das Vorliegen eines Haftgrundes verneint. Der Angeklagte sei nicht flüchtig i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (gewesen).

II. Entscheidung

Keine Flucht

Zur Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) führt das OLG aus: Zwar sei der Angeklagte nicht nur in dieser Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar gewesen. Auch habe er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigte aber die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft nicht. Denn der Haftgrund der Flucht sei – so das OLG – nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr müsse in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsorts erfolge, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOK-StPO/Krauß, 43. Ed., § 112 Rn 18). Es müsse sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.12.2016 – 2 Ws 343/16). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründe den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

Kein zielgerichtetes Untertauchen

Gemessen hieran erweise sich der Beschluss des LG als rechtsfehlerhaft. Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen des Angeklagten spreche schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen angebracht habe. Dies ergebe sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift gehandelt habe, werde überdies durch die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin belegt, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigt habe. Weiter habe der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte, zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden können. Hinzu komme, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift habe mitteilen lassen. Er habe seine Wohnanschrift gegenüber dem LG also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart. All dies spreche gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden könne, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

Auch keine Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr

Darüber hinaus hat das OLG auch keine anderen Haftgründe gesehen. Verdunkelungsgefahr liege ersichtlich nicht vor und es seien auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar habe der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem könne die Straferwartung allein Fluchtgefahr ohnehin nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 112 Rn 24). Darüber hinaus habe sich der Angeklagte – wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe drohe – dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere sei er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätet habe, rechtfertige die Annahme von Fluchtgefahr nicht. Weiter komme hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen getroffen habe, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1.6.2022 signalisiert habe, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Strafkammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch habe der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen lassen. Auch sei er in der Folge dort aufhältig geblieben.

III. Bedeutung für die Praxis

Kontrollmechanismen funktionieren

1. Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie zutreffend ist (zu den Haftfragen eingehend Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 4461 ff. m.w.N.). Die Entscheidung ist zudem ein schöner Beweis, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht noch funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte erfragen können. Das OLG geht also wohl von der Notwendigkeit einer solchen Anfrage aus, wobei dahingestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal.

Höhe der Straferwartung

2. Zu begrüßen ist auch die Auffassung des OLG, dass allein eine „hohe“ Straferwartung nicht ausreicht, um die Fluchtgefahr zu begründen. Dabei geht es hier – die Vorstellungen der Strafkammer als richtig unterstellt – um ein Strafe von mehr als zwei Jahren bis zu der im ersten Rechtsgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Das ist eine Strafhöhe, bei der andere Gerichte ohne Probleme Fluchtgefahr angenommen hätten (vgl. nur jüngst BGH, Beschl. v. 4.7.2022 – StB 27/22, wo der BGH bei einer Straferwartung von noch rund zwei Jahren Fluchtgefahr bejaht hat).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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