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Zustellung des Strafbefehls an einen ausländischen Beschuldigten

1. Bei einem nicht der deutschen Sprache mächtigen Beschuldigten bedarf es zwingend der Übersendung einer Übersetzung des Strafbefehls, um die Einspruchsfrist in Gang zu setzen (LG Göttingen und AG Bremen).

2. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Angeklagten (AG Bremen).

(Leitsätze des Verfassers)

LG Göttingen, Beschl. v. 25.10.20212 Qs 70/21
AG Bremen, Beschl. v. 21.10.202193 Cs 349/18

I. Sachverhalt

Strafbefehlsverfahren

In beiden Verfahren war gegen die ausländischen Beschuldigten, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, ein Strafbefehl erlassen worden. Dieser wurde den Beschuldigten zugestellt. Die von ihnen eingelegten Einsprüche sind nicht innerhalb der Einspruchsfrist eingegangen. Das LG Göttingen hat dem Beschuldigten auf seine sofortige Beschwerde gegen die vom AG abgelehnte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Widereinsetzung gewährt. Das AG Bremen hat festgestellt, dass der Einspruch rechtzeitig eingegangen war.

II. Entscheidung

Wirksamkeit der Zustellung – LG Göttingen und AG Bremen

1. Sowohl das LG Göttingen als auch das AG Bremen gehen davon aus, dass die Einspruchsfrist gegen den jeweiligen Strafbefehl mangels wirksamer Zustellung noch nicht zu laufen begonnen hatte. Für die Zustellung von Entscheidungen bestimme § 37 Abs. 3 StPO, dass eine Übersetzung des Urteils zusammen mit diesem zuzustellen sei, sofern nach § 187 Abs. 1, Abs. 2 GVG eine Übersetzung des Urteils zur Verfügung zu stellen ist. § 187 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 GVG bestimme, dass in der Regel schriftliche Übersetzungen von Anklageschriften, Strafbefehlen und Urteilen zur Verfügung zu stellen seien, sofern ein Beschuldigter der deutschen Sprache nicht mächtig ist und die Übersetzung zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Zwar beziehe sich § 37 Abs. 3 StPO seinem Wortlaut nach nur auf die Zustellung von Urteilen, während § 187 Abs. 2 GV auch für Strafbefehle eine Übersetzung verlangt. Hieraus sei jedoch nicht zu schließen, dass hinsichtlich Strafbefehlen keine Übersetzung notwendig sein solle. § 410 Abs. 3 StPO stelle einen Strafbefehl einem Urteil ausdrücklich gleich, weshalb durch das Wort „Urteil“ auch Strafbefehle mitgemeint sein dürfen. Hinzu komme, dass auch durch einen Strafbefehl Rechtsfolgen von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe verhängt werden können, sodass auf eine Übersetzung auch nicht wegen Unerheblichkeit der Folgen verzichtet werden könne. Schließlich bestehe an der Übersetzung eines Strafbefehls gegenüber der eines Urteils auch deshalb ein sogar gesteigertes Interesse, weil ein Strafbefehl seiner Natur nach ohne Hauptverhandlung ergehe. Es bestehe für den Beschuldigten daher nicht die Möglichkeit, sich unmittelbar gegen den Vorwurf zu verteidigen und hinsichtlich der Rechtsfolgen direkt nachzufragen.

Die Übersetzung des Strafbefehls war auch zur Ausübung der prozessualen Rechte des Angeklagten notwendig, § 187 Abs. 2 GVG. Dieser spreche ausweislich des Akteninhalts nur sehr schlecht Deutsch. Auch die weitere Kommunikation sei – so das LG Göttingen – auf Englisch erfolgt.

Soweit der Angeklagte geäußert habe – so das LG Göttingen –, er könne nicht gut Deutsch sprechen, verstehe aber alles, führe dies nicht zu einer anderen Einordnung. Zu einer sinnvollen Verteidigung gehöre nicht nur, die Strafvorwürfe zu verstehen, sondern auch die Fähigkeit, sich hierzu differenziert zu äußern, welche ihm ersichtlich fehle.

Pflichtverteidigerbestellung – AG Bremen

2. Das AG hat dem Angeklagten zudem einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Es liege ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Für die Beurteilung der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO komme es grundsätzlich zunächst auf den Sachverhalt an, der dem Strafbefehl zugrunde lag. Dieser sei nicht schwierig oder komplex. Die Schwierigkeit der Rechtslage ergebe sich hier aber aus dem übrigen Sachverhalt. Ohne die Akteneinsicht durch den Verteidiger und dessen Vortrag wäre nicht aufgefallen, dass es mangels Übersetzung noch keinen rechtskräftigen Strafbefehl gebe. Gerade weil der Angeklagte aufgrund sprachlicher Defizite die Problematik nicht erfassen konnte und ohne einen Anwalt weder den Fehler habe erkennen noch die notwendigen Schritte hätte einleiten können, sei hier eine Beiordnung gerechtfertigt.

III. Bedeutung für die Praxis

Rettungsanker

1. Es dürfte inzwischen h.M. in der Rechtsprechung sein, dass die Zustellung eines Strafbefehls an einen Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, nur wirksam ist, wenn eine Übersetzung des Strafbefehls mit zugestellt wird (vgl. dazu Hillenbrand, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 4204 ff.  und Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2981 ff. jeweils m.w.N.). Die Frage ist insofern von Bedeutung, weil das häufig, wenn die Zustellung schon lange zurückliegt, ohne dass der Mandant tätig geworden ist, der einzige Rettungsanker ist, um ggf. doch noch die Hauptverhandlung zu erreichen. Das zeigt sehr schön der der Entscheidung des AG Bremen zugrunde liegende Sachverhalt. Da war die „Zustellung“ des Strafbefehls vor mehreren Jahren ohne Übersetzung erfolgt.

Pflichtverteidiger

2. Auch die Bestellung eines Pflichtverteidigers durch das AG Bremen ist nicht zu beanstanden. Es handelt sich, wenn es um die Wirksamkeit der Zustellung geht, um einen der klassischen Fälle, in denen für die Verteidigung Akteneinsicht erforderlich ist. Die erhält aber nur der Verteidiger.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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