Beitrag

Verteidigungsstrategien und praktische Überlegungen bei drohender Ausweisung

I.

Einführung

Ausweisungen als mittelbare Folgen von strafrechtlichen Verurteilungen haben in den letzten Jahren für die Strafverteidigung stark an Bedeutung gewonnen. Das liegt insbesondere daran, dass das als Ordnungsrecht konzipierte Ausländerrecht (vgl. § 1 Abs. 1 AufenthG) die Bewertung von Straftaten und damit auch von – ausländischen – Straftätern zuletzt grundsätzlich verändert hat. Dies hat zu einer deutlichen Verschärfung der Ausweisungspraxis geführt (hierzu etwa Kießling, ZAR 2013, 45; Bauer/Beichel-Benedetti, NVwZ 2016, 416). Deutlich wird dies etwa daran, dass sich seit 2015 die Zahl der verfügten Ausweisungen mehr als verdoppelt hat (BT-Drucks 19/21539), der Anteil nicht deutscher Tatverdächtiger in der polizeilichen Kriminalstatistik aber nicht im gleichen Verhältnis angestiegen ist (BT-Drucks 19/27432).

Strafverteidigung im engeren Sinne und ein möglicherweise später drohendes Ausweisungsverfahren sollten daher aufeinander abgestimmt werden. Was ist bereits bei der Verteidigung im Vorverfahren, im Rahmen der Hauptverhandlung, in der Rechtsmittelinstanz oder auch nach einem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens strategisch zu beachten, um spätere ausländerrechtliche Maßnahmen möglichst zu erschweren? Der Artikel richtet sich damit primär an den regelmäßig ausländerrechtlich nur eingeschränkt versierten Strafverteidiger. Es sollen Strategien für eine angepasste Bearbeitung des strafrechtlichen Mandates aufgezeigt werden, eine Art Notfallkoffer für Mandate mit Ausweisungshintergrund (vgl. dazu etwa Kabis, in: Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis, 1. Aufl. 2019, § 10). Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf spätere ausländerbehördliche Maßnahmen sind grundsätzlich sehr eingeschränkt. Dennoch sollten ein paar der folgenden Überlegungen stets in den Blick genommen werden. Die Betreuung des Ausweisungsverfahrens selbst ist hier nicht Gegenstand, sondern nur die für die Strafverteidigung wichtigsten Erwägungen.

II.

Grundsätze des Ausweisungsrechts

Vorausgeschickt sei zunächst, dass es zu den hier interessierenden Fragestellungen Sonderbestimmungen für EU-Bürger, türkische Staatsangehörige und faktische Inländer gibt (vgl. § 53 Abs. 3 AufenthG). Diese Personen dürfen nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Das im Folgenden Gesagte gilt daher insbesondere für EU-Bürger und türkische Staatsangehörige nur eingeschränkt.

1. Allgemeines

Die Ausweisung ist die Anordnung gegenüber dem von ihr betroffenen Ausländer, das Bundesgebiet zu verlassen und einstweilen nicht mehr zu betreten (Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 237). Es handelt sich hierbei um Gefahrenabwehrrecht: Das Ausweisungsverfahren soll – sehr grob zusammengefasst – feststellen, ob von dem Aufenthalt des Ausländers in der Bundesrepublik eine Gefahr ausgeht. Liegt diese vor, wird auf Tatbestandsebene eine Abwägung getroffen zwischen den Ausweisungsinteressen einerseits und den Bleibeinteressen andererseits.

2. Regelungssystematik

Früher war das System der Ausweisung dreistufig aufgebaut: Je nach Schwere und Umfang der dem Ausländer vorzuwerfenden Verstöße war die Rechtsfolge eines Strafurteils stets eine von der Ausländerbehörde zu prüfende Ist-, Regel- oder Ermessensausweisung (zur alten Rechtslage etwa Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 238). Die seit dem 1.2.2016 geltenden Regelungen haben die Normenstruktur dagegen grundlegend geändert. Im Gegensatz zu der bisherigen abgestuften Regelung ist jetzt nur noch eine einzige Ermächtigungsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG vorgesehen. Demnach wird der Ausländer ausgewiesen, wenn der weitere Aufenthalt die öffentliche Sicherheit, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und nach einer Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sowie der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (dazu auch Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 259).

Die Gefahr, die von dem Aufenthalt des Ausländers – vermeintlich – ausgeht, soll also in ein Verhältnis zum berechtigten Bleibeinteresse des Betroffenen gesetzt werden. Es besteht dann für die Verwaltungsbehörde ein Beurteilungsspielraum, ob eine Ausweisung letztlich verfügt wird oder nicht. Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG insbesondere die Dauer des Aufenthalts, persönliche, wirtschaftliche und sonstige Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunfts- oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner zu berücksichtigen und miteinander ins Verhältnis zu setzen (Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 265). Außerdem sind bestimmte Ausweisungs- und Bleibeinteressen in den §§ 54, 55 AufenthG als „besonders schwer“ und „schwer“ gewichtet. Diese gesetzmäßige Gewichtung ist bei der Abwägung des Ausweisungs- gegenüber dem Bleibeinteresse insbesondere zu beachten (Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 266).

3. Interessenabwägung

„Besonders schwer“ wiegt das Ausweisungsinteresse beispielsweise generell bei einer Verurteilung zu Freiheits- oder Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Gleiches gilt auch bei kürzeren Strafen (nämlich Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr), soweit ein Schuldspruch wegen einer Tat gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ergangen ist, sofern diese Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).

Bei (sonstigen) Verurteilungen wegen Vorsatztaten zu mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe oder zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, der Verwirklichung des Tatbestandes des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG oder auch dem bloßen Verbrauch von Heroin, Kokain oder vergleichbar gefährlichen Betäubungsmitteln ohne Bereitschaft, sich einer erforderlichen Rehabilitationsbehandlung zu unterziehen, wiegt das Ausweisungsinteresse immerhin „schwer“, § 54 Abs. 2 Nr. 1–4 AufenthG (vgl. Burhoff/Kotz/Bahr, Nachsorge, Teil H Rn 275–277).

Besondere praktische Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang noch der Generalklausel des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zu, wonach u.a. dasselbe gilt, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen (irgendwelche) Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat. Diese Norm misst damit fast allen begangenen Straftaten und Rechtsverstößen ein „schweres“ Ausweisungsinteresse zu und führt die aufwändige Ausdifferenzierung in den vorangehenden Vorschriften letztlich zu einer gewissen Absurdität (hierzu etwa NK-AuslR/Cziersky-Reis, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 54 Rn 67–76). Auch Ordnungswidrigkeiten sind Verstöße gegen Rechtsvorschriften, wenngleich Bußgeldverfahren in der Praxis nur selten zu einer Ausweisung führen (MAH Strafverteidigung/Schulte § 18 Rn 91). Grundsätzlich besteht jedoch auch bei bloßen Zuwiderhandlungen gegen Beschäftigungsverbote eine tatsächliche Ausweisungsgefahr.

III.

Verteidigungsansätze im Vor- und Hauptverfahren

Um eine spätere Ausweisung möglichst zu verhindern oder zumindest zu erschweren, gilt es, möglichst frühzeitig die Verteidigungsziele anzupassen. Folgende Umstände sind insbesondere zu beachten:

1. Strafaussetzung zur Bewährung

Nach § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse bei Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr nur dann schwer, wenn die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird. Unabhängig hiervon entscheidet das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, dass dem Ausspruch der Strafgerichte zur Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ganz allgemein auch eine Indizwirkung für die Entscheidung der Ausländerbehörde zukommt. (BVerfG, Beschl. v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21; BVerfG, Beschl. v. 1.3.2000 – 2 BvR 2120/99; BVerfG, Beschl. v. 27. 8.2010 – 2 BvR 130/10). Man könnte nun daraus schließen, dass im Rahmen der ausländerbehördlichen Prognose bei einer vom Strafgericht gewährten Strafaussetzung zur Bewährung in der Regel auch die Ausweisung unterbleiben müsse. Das lässt sich in der ausländerrechtlichen Praxis so allerdings kaum feststellen. Grund hierfür ist insbesondere, dass Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden sind. Sie dürfen eine eigene ausländerrechtliche Prognose vornehmen. Die Bewährungsentscheidung hat eben „nur“ eine Indizwirkung, mehr nicht.

Zum einen ist eine Abweichung zulasten des Verurteilten dann zulässig, wenn der Ausländerbehörde Tatsachen vorliegen, die über die Feststellungen der Strafgerichte hinaus eine abweichende negative Prognose rechtfertigen. Das führt dazu, dass in der Praxis diese verfassungsrechtlich eigentlich geforderte Indizwirkung von den verfügenden Behörden und Verwaltungsgerichten oft geringer eingeschätzt wird, als die verfassungsrechtliche Rechtsprechung dies vorsieht. Man sollte also als Strafverteidiger schon im Strafverfahren versuchen, umfassend alle Faktoren zu Gehör zu bringen, die für eine Bewährungs-, aber auch eine spätere Ausweisungsentscheidung relevant sein können, und darauf drängen, dass diese auch Eingang in das schriftliche Urteil finden.

Zum anderen akzeptiert die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung auch ohne abweichende Tatsachengrundlagen allein aufgrund einer qualitativen Neubewertung der strafrechtlichen Bewährungsentscheidung eine abweichende negative Prognose (z.B.: VGH München, Beschl. v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466). Die Strafgerichte würden bei ihrer Prognoseentscheidung nämlich lediglich die – eventuell recht kurze – Bewährungszeit beurteilen. Die Ausländerbehörden dagegen nähmen einen längeren Zeitraum in den Blick. Hiergegen lässt sich jedoch argumentieren, dass – auch und insbesondere – Strafgerichte zu keiner positiven Sozial- und Kriminalprognose kommen und damit auch nicht zu einer Bewährungsentscheidung, wenn konkret anzunehmen ist, dass nach Ablauf der Bewährungszeit erneut mit Straftaten des Verurteilten zu rechnen ist.

Darüber hinaus wird die im Strafurteil vorgenommene Abwägung häufig kritisch betrachtet. Setzt sich das Strafurteil in der Entscheidung zur Strafaussetzung zur Bewährung nämlich nicht umfassend mit den Straftaten im Verhältnis zu den die Sozialprognose begünstigenden Faktoren auseinander und stützt die Aussetzung der Vollstreckung nicht auf eine nachvollziehbare Abwägung, holt die Ausländerbehörde diese Auseinandersetzung nach und kommt dann häufig zu einem abweichenden Ergebnis mit negativer Gefahrenprognose. Die Verwaltungsgerichte halten in der Regel diese Herangehensweise für zulässig (OVG Lüneburg, Beschl. v. 23.2.2021 – 8 ME 126/20).

Tatsächlich setzen sich die Strafgerichte oft und insbesondere bei Straftaten mit vermeintlich geringerem Gewicht und bei Verurteilungen zu eher kürzeren Freiheitsstrafen nicht besonders umfassend mit dem Für und Wider der Sozial- und Kriminalprognose auseinander. Soweit eine Ausweisung als tatsächliches Risiko in Betracht kommt, sollte seitens der Verteidigung daher darauf geachtet werden, dass eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rückfallprognose stattfindet und diese auch im schriftlichen Urteil ihren Niederschlag findet, mag das Delikt noch so geringfügig sein und die ausgesprochene Strafe noch so gering. Dadurch lässt sich der Spielraum der Ausländerbehörde für eine abweichende negative Prognose einschränken.

2. Therapie bei BtM-Abhängigkeit

Ein betäubungsmittelabhängiger Straftäter, der sich freiwillig einer seiner Rehabilitation dienenden Therapie unterzieht, kann bekanntlich bereits die Legalprognose des Gerichts für die zu treffende Bewährungsentscheidung im Hauptverfahren positiv beeinflussen. Derartige Anstrengungen sind auch vor dem Hintergrund ausweisungsrechtlicher Gesichtspunkte unbedingt zu dokumentieren, vgl. erneut § 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG. Dem Mandanten sollte eindringlich vor Augen geführt werden, dass eine nachgewiesene Drogenentwöhnungstherapie eventuell entscheidenden Anteil an einer späteren ausländerbehördlichen Entscheidung haben kann.

3. Ausübung des Personensorge- oder Umgangsrechts

Das Bleibeinteresse wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG „besonders schwer“, wenn der Ausländer sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt. Immerhin „schwer“ wiegt das Bleibeinteresse, wenn der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden (also nichtdeutschen) ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt, § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG.

Familiären Bindungen kommt in Ausweisungsverfahren also grundsätzlich eine hohe Bedeutung zu. Das muss dem Mandanten im Strafverfahren auch so kommuniziert werden. Die Ausübung des Personensorge- oder Umgangsrechts ist möglichst früh zu dokumentieren. Hierzu zählen hauptsächlich die Rechte von Kindern aus Art. 8 EMRK und Art. 6 GG. Der EuGH hat in einer Reihe von Verfahren entschieden, dass eine nationale Regelung, die ein Kind, welches die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates hat, dazu zwingt, den Schengenraum zu verlassen, gegen europäisches Recht verstößt (EuGH, Urt. v. 10.5.2017 – Rs.133/15 [Chavez-Vilchez]; EuGH, Urt. v. 18.3.2013 – C-523/11 und C-585/11 [Prinz]). Maßstab ist dabei die tatsächliche Bindung zwischen Kind und Elternteil. Dem ausländischen Beschuldigten ist folglich zu raten, auch während des Strafverfahrens und ggfs. auch während einer Inhaftierung die Kontakte zu den eigenen Kindern aufrechtzuerhalten und dies belastbar zu dokumentieren.

Wird in einem strafrechtlichen Verfahren die Kindesmutter vernommen, kann es daher sinnvoll sein – zum Beispiel im Rahmen der noch anzustellenden Sozial- und Kriminalprognose – diese auch zur Umgangssituation mit dem Kind und zum Verhältnis zwischen Kind und beschuldigtem Elternteil zu befragen, damit sich die Ausländerpersonalakte mit Feststellungen zur Bindung zwischen Kind und Elternteil füllen lässt. Insbesondere bei nicht zusammenlebenden Elternteilen sollte von diesen frühzeitig begonnen werden, die Umgangskontakte zu dokumentieren. Insbesondere sollten positive Umgangsbeschreibungen, z.B. des Jugendamtes, gesammelt und der ausländerbehördlichen Akte in einer Art Schutzschrift zugeführt werden, damit sie später in eine Beurteilung einfließen können.

Zu beachten ist auch, dass es bereits ausreichend ist, wenn die Belange des Wohles eines Kindes betroffen sind (§ 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG), um ein schweres Bleibeinteresse darzustellen. Es muss also nicht das eigene Kind des Mandanten sein.

4. Familiäre, eheliche oder lebenspartnerschaftliche Lebensgemeinschaft

Lebt der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft, stellt dies ein besonders schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG dar. Hierauf ist der ausländische Beschuldigte in einem Strafverfahren explizit hinzuweisen.

IV.

Verteidigungsansätze nach Rechtskraft des Urteils

Das strafrechtliche Mandat endet nicht zwangsläufig mit rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens, häufig besteht auch im Rahmen der Strafvollstreckung und bei Fragen des Strafvollzugs Beratungsbedarf. Dies gilt insbesondere bei ausländischen Mandanten, bei denen aufgrund der Verurteilung eine Ausweisung im Raume steht.

1. Verfahren nach § 456a StPO

Nach § 456a Abs. 1 StPO kann die Vollstreckungsbehörde u.a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte abgeschoben wird. Kehrt der Verurteilte zurück, so kann die Vollstreckung nachgeholt werden. Die Vollstreckungsbehörde kann zugleich mit dem Absehen von der Vollstreckung die Nachholung für den Fall anordnen, dass der Verurteilte zurückkehrt, und hierzu einen Haftbefehl erlassen sowie die erforderlichen Fahndungsmaßnahmen, insbesondere die Ausschreibung zur Festnahme, veranlassen, § 456a Abs. 2 StPO.

Möchte der Mandant vorrangig schnell aus der Haft entlassen werden und hat darüber hinaus für sich eine künftige Aufenthaltsperspektive in der Bundesrepublik ausgeschlossen, ist die Abschiebung aus der Haft über § 456a StPO ein gangbarer Weg. Es sollte dann möglichst frühzeitig mit der Ausländerbehörde und der – in aller Regel zuständigen – Staatsanwaltschaft Kontakt aufgenommen werden. In aller Regel ist ein Absehen der Vollstreckung nach der Hälfte der verhängten Strafe möglich. Der Mandant ist aber in diesem Fall sorgfältig auf die ausländerrechtlichen Konsequenzen hinzuweisen. Denn eine realistische Aufenthaltsperspektive lässt sich dann vor Ablauf der Vollstreckungsverjährung in der Regel nicht erreichen.

Problematischer ist dagegen die Fallkonstellation, in welcher der Verurteilte für sich eine Aufenthaltsperspektive sieht, die Staatsanwaltschaft aber in Abstimmung mit der Ausländerbehörde ein Absehen von der Vollstreckung nach § 456a StPO favorisiert. Gegen eine solche Entscheidung der Vollstreckungsbehörde ist nach einhelliger Auffassung mangels eigener Beschwer ein Rechtmittel des Verurteilten nicht statthaft (OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 1999, 126; BeckOK-MigR/Biereder-Groschup, StPO § 456a Rn 12–16). Darüber hinaus hat sich bei vielen Ausländerbehörden die übliche Praxis entwickelt, die Ausweisung einige Monate vor dem jeweiligen Anhörungstermin zur möglichen Aussetzung der Vollstreckung zu verfügen, oft in zeitlichem Zusammenhang mit einer Entscheidung nach § 456a StPO der Staatsanwaltschaft.

Nach einem Absehen von der Vollstreckung droht jedoch – wie bereits ausgeführt – bis zur Vollstreckungsverjährung die Versagung von Einreisevisa bzw. eine erneute Verhaftung nach Wiedereinreise. Das gilt es dann in der Regel zu verhindern, insbesondere wenn der „Zweidritteltermin“ in greifbare Nähe rückt. Eine Bewährungsentscheidung durch die Strafvollstreckungskammer kann nämlich auch erreicht werden, wenn der Antragsteller ins Ausland abgeschoben worden ist. Möchte der Mandant eine Aufenthaltsperspektive in der Bundesrepublik erhalten und ist zu erwarten, dass die Abschiebung aus der Haft durchgeführt werden kann, sollte in der Regel versucht werden, die Abschiebung bis zur Entscheidung über die vorzeitige Entlassung nach § 57 StGB hinauszuzögern.

Dieses strategische Ziel im Strafvollstreckungsverfahren kann häufig nur mit einer engen Kommunikation zwischen Ausländerbehörde und Staatsanwaltschaft erreicht werden oder alternativ mit einer taktischen Betreibung gerichtlicher Eilverfahren zum richtigen Zeitpunkt. Das ist regelmäßig an die Praxis der einzelnen Ausländerbehörde bzw. Staatsanwaltschaft anzupassen. Jedenfalls sollte vom Strafverteidiger im Strafvollstreckungsverfahren das Problem erkannt und rechtzeitig angegangen werden.

2. Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung

Bekanntlich setzt das Gericht nach § 57 Abs. 1 StGB die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind, dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann und die verurteilte Person einwilligt. Für die Entscheidung über das Aussetzen des Strafrestes zur Bewährung gilt zunächst einmal das oben zur Bewährungsentscheidung Gesagte: Eine positive Entscheidung der Strafvollstreckungskammer hat stets auch eine positive Indizwirkung für die Ausländerbehörde.

Die – grundsätzlich erforderliche – mündliche Anhörung nach § 454 StPO bietet darüber hinaus gesonderte Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Qualität der gerichtlichen Entscheidung und damit auch mittelbar auf die spätere Entscheidung der Ausländerbehörde. So kann die Strafvollstreckungskammer dazu gebracht werden, im Beschluss nach § 57 StGB zu einzelnen Abwägungsgesichtspunkten Stellung zu beziehen, wenn vorab hierzu durch den Verteidiger schriftsätzlich vorgetragen wurde. Im Ausweisungsverfahren kann dann auf die Bewertung des Gerichts hingewiesen werden.

Hinzu kommt, dass bei bestimmten Straftaten ein Prognosegutachten eingeholt werden muss, vgl. § 454 Abs. 2 S. 1 StPO. Dieses hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, § 454 Abs. 2 S. 2 StPO. Kommt dieses zu einem für den Verurteilten günstigen Ergebnis, engt dies den Spielraum für abweichende Prognoseentscheidungen durch die Ausländerbehörde deutlich ein (BVerfG, Beschl. v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21). Eventuell kann es auch zielführend sein, unabhängig von einer gerichtlichen Verpflichtung zum Einholen eines Prognosegutachtens in geeigneten Fällen seitens der Verteidigung ein „privates“ Gutachten in Auftrag zu geben.

3. Aufrechterhaltung familiärer Bindungen

Insbesondere bei Mandanten in Haft stellt das Aufrechterhalten familiärer Bindungen häufig eine große Herausforderung dar. Ausweisungsverfahren werden oft faktisch im vorgelagerten schriftlichen Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung endschieden, sodass jede protokollierte Objektivierung der aufrechterhaltenen Vater-Kind-Beziehung hilfreich sein kann und kurzfristig zur Verfügung stehen muss.

4. Der betäubungsmittelabhängige ausländische Straftäter

Welche Deliktsarten den größten Anteil der Ausweisungen ausmachen, lässt sich nur schwer feststellen. Sicher ist jedoch, dass Betäubungsmitteldelikte ein wichtiges Feld in Ausweisungsverfahren darstellen und daher einer Sonderbetrachtung bedürfen. Die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte gehen regelmäßig von einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bei Betäubungsmittelstraftätern aus.

Verteidigungsziel bei betäubungsmittelabhängigen Mandanten kann u.a. die gerichtliche Feststellung nach § 17 Abs. 2 BZRG sein, wonach „der Verurteilte die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat“. Dies erleichtert die spätere Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG. Dadurch wird allerdings die Betäubungsmittelabhängigkeit im Strafurteil – und damit auch für die spätere Entscheidung der Ausländerbehörde – festgeschrieben. Wird der Mandant nach dem Strafurteil tatsächlich ausgewiesen, aber (noch) nicht abgeschoben, verweigert der zuständige Träger regelmäßig die Übernahme der Therapiekosten. Kann daher die eigentlich dringend erforderliche Drogenentwöhnungstherapie nicht begonnen werden, verliert der Vorteil des § 17 Abs. 2 BZRG bzw. der des § 35 BtMG seinen Wert und im Ausweisungsverfahren wird eine Gefahrenbeurteilung bei gerichtlich festgestellter und untherapierter Betäubungsmittelabhängigkeit vorgenommen. Die Verwaltungsgerichte gehen dann regelmäßig von einer weiter bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus (etwa VGH München, Beschl. v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272).

Daraus soll nun nicht folgen, dass bei der Verteidigung von Ausländern eine Zurückstellung der Strafvollstreckung generell vermieden werden müsste. Das Gegenteil ist der Fall. Es sollten die aufgeführten Probleme aber gesehen und ausländische Mandanten, bei denen ein Vorgehen nach § 35 BtMG in Betracht kommt, über das Risiko der möglicherweise nicht erreichbaren Kostenübernahme bei einer positiven Entscheidung der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden.

Im Hinblick auf eine mögliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB spielt hingegen die Kostenübernahme keine große Rolle, weil durch die Anordnung im Urteil der Kostenträger feststeht. Es besteht i.Ü. kein Anspruch darauf, dass eine laufende Therapie abgewartet wird, bevor eine Ausweisung und im Anschluss eine Abschiebung umgesetzt wird (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 15.2.2022 – 11 S 1814/20).

Eine vollziehbare Ausreisepflicht kann aber bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten eine erhebliche, und zwar negative, Rolle spielen (vgl. BGH, Beschl. v. 8.7.2020 – 1 StR 169/20). Schließlich ergeht eine solche Anordnung nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen, § 64 S. 2 StGB. Bei der Erwartung baldiger Ausweisung soll diese Aussicht nicht bestehen.

Ein Therapieabbruch bedeutet regelmäßig, dass eine Ausweisung von den Verwaltungsgerichten gehalten wird (etwa VGH München, Beschl. v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993). Dass sollte dem Mandanten frühzeitig vermittelt werden. In der regelmäßig stattfindenden fachlichen Begutachtung durch die Klinik ist grundsätzlich eine Chance zu sehen, spätere Ausweisungsverfügungen abzuwenden. Sie ist aber trotzdem kein Garant dafür, dass eine Ausweisung letztlich unterbleiben wird (VGH München, Beschl. v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636).

V.

Fazit

Selbst wenn nach begangenen Straftaten und im sich anschließenden Strafverfahren durch den Mandanten und den Verteidiger alles richtig gemacht wurde, besteht vor dem aktuellen Ausweisungsrecht und der gelebten Praxis in den Ausländerbehörden immer ein reales Ausweisungsrisiko, welches sich durch anwaltliche Bemühungen zwar reduzieren lässt, das aber letztlich nicht sicher abgewendet werden kann.

Der familiären Bindung zu Kindern mit deutscher oder europäischer Staatsangehörigkeit kommt im Ausweisungsverfahren eine übergeordnete Bedeutung zu. Hier sollten frühzeitig positive Aspekte aktenkundig gemacht werden. Ungemein wichtig sind Entscheidungen zur Frage der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitstrafe zur Bewährung, diese bieten die größte Möglichkeit der Einflussnahme des Strafverteidigers auf das spätere Ausweisungsverfahren.

Die umfassende Betreuung von Ausländern mit erhöhtem Ausweisungsrisiko sollte nicht mit rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens enden, sondern auch das anschließende Strafvollstreckungsverfahren und insbesondere die Qualität nachfolgender Bewährungsentscheidungen der Strafvollstreckungskammern sowie generell die familiäre Situation des Inhaftierten im Blick haben. Aufgrund der rein schriftlich gehaltenen Eilverfahren muss damit gerechnet werden, dass insbesondere familiäre Verhältnisse in schriftlicher Form glaubhaft gemacht werden müssen.

Die Ausweisung stellt letztlich eine Subsumtion der Verhältnisse der gesamten Lebensleistung im Verhältnis zu den Straftaten dar. Es bietet sich in Einzelfällen besonderer Gefährdung an, eine Ausweisungsnotfallakte mit Schulleistungen, beruflichem Werdegang (ggf. Rentenversicherungsverlauf) und Unterlagen zu den familiären Verhältnissen anzulegen, um im Falle einer Ausweisung die Tatsachen in das Eilverfahren einbringen zu können.

Rechtsanwalt/Fachanwalt für Strafrecht Dr. Ralf Bleicher, Dortmund, und Rechtsanwalt/Fachanwalt für Migrationsrecht Johannes Palm, Dortmund

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