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StRR-Kompakt 2022-07

Pflichtverteidiger: Abberufung

Die Äußerung eines beigeordneten Rechtsanwalts, wonach die Hauptverhandlung „eine Farce“ sei und weder er noch der Angeklagte sich daher an ihr aktiv beteiligen würden, stellt keine ernsthafte und endgültige Verteidigungsverweigerung dar und rechtfertigt eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers nach § 145 Abs. 1 S. 1 StPO auch dann nicht, wenn die Verteidigung bei Zeugenvernehmungen tatsächlich auf die Ausübung ihres Fragerechts verzichtet. Bei der Beurteilung der Berufsmäßigkeit kommt es jedoch weder auf eine Gewinnerzielungsabsicht noch auf eine hauptberufliche Tätigkeit an.

OLG Schleswig, Beschl. v. 21.2.2022 – 1 Ws 26/22

Zeugnisverweigerungsrecht: Medienvertreter

Die Tatsache, dass ein selbstständiger Fotograf die von ihm angefertigten Materialien (weit überwiegend) auf seinen Twitter-, Instagram-, Facebook- und flickr-Kanälen veröffentlicht, steht einer journalistischen Tätigkeit i.S.d. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StPO nicht entgegen.

LG Würzburg, Beschl. v. 10.5.2022 – 1 Qs 73/22

Pflichtverteidiger: konkludente Beiordnung; Sicherungsverteidiger

Im Regelfall bedarf die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. Es kann die Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen aber auch durch das betreffende Gericht aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen. Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung ist ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt. Für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO nach neuem Recht kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I S. 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte.

OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 102/22

Durchsuchung: Wegfall des Anfangsverdachts

Wird im Fortgang des Ermittlungsverfahrens der Anfangsverdacht, der den Erlass des Durchsuchungsbeschlusses begründet hatte, wieder beseitigt, so ist die Fortführung der Durchsuchung in Form der Durchsicht der aufgefundenen Unterlagen rechtswidrig.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.5.2022 – 12 Qs 24/22

Verweisung: Bindungswirkung

Weicht ein Verweisungsbeschluss vom AG an das LG in einem solchen Maße von den erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen ab, dass er eine die Strafkammer bindende Verweisung nicht mehr vertretbar erscheinen lässt, ist der Beschluss nicht bindend.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 25.4.2022 – 1 AR 10/22

Elektronisches Dokument: Signatur

§ 32a Abs. 3 StPO enthält für ein Dokument, das schriftlich abzufassen, zu unterschreiben oder zu unterzeichnen ist, zwei mögliche Wege der Übermittlung im elektronischen Rechtsverkehr bereit: Ein Weg ist die Übermittlung mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person. Der andere Weg ist die (einfache) Signatur der verantwortenden Person bei gleichzeitiger Einreichung auf einem sicheren Übermittlungsweg. Für die einfache Signatur reicht die Namenswiedergabe des Verfassers am Ende des Textes.

OLG Hamm, Beschl. v. 27.5.2022 – 5 RVs 53/22

Berufungsverwerfung: Fortsetzungstermin/neue Hauptverhandlung

Im Hinblick auf den klaren Wortlaut sowie den Ausnahmecharakter des § 329 Abs. 4 StPO liegen die Voraussetzungen für eine Verwerfung ohne Sachentscheidung nicht vor, wenn der Angeklagte nicht zu einem Fortsetzungstermin nicht erschienen ist, sondern zu einer neu anberaumten Hauptverhandlung nach Aussetzung der Hauptverhandlung.

OLG Hamm, Beschl. v. 3.5.2022 – 5 RVs 38/22

Rechtmittelrücknahme: Ermächtigung

Für die Ermächtigung nach § 302 Abs. 2 StPO ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, so dass diese auch mündlich erklärt werden kann. Ob sie erteilt worden ist, kann im Wege des Freibeweisverfahrens geklärt werden.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.5.2022 – 1 Ws 7/22

Einziehung: Rechtsfolgen einer Einstellung nach § 206b StPO

Hat das Tatgericht das Verfahren nach Zurückverweisung durch den BGH durch Beschluss gemäß § 206b StPO eingestellt, ist die Vollstreckung der rechtskräftig gewordenen Anordnung der Wertersatzeinziehung unzulässig.

KG, Beschl. v. 25.2.2022 – 2 Ws 20/22

Beauftragung eines Sachverständigen: Anfechtbarkeit

Die Beauftragung eines Sachverständigen durch die Strafvollstreckungskammer zur Vorbereitung einer Entscheidung i.S.d. §§ 453, 463 StPO ist in entsprechender Anwendung des § 305 S. 1 StPO nicht mit der Beschwerde anfechtbar.

KG, Beschl. v. 27.4.2022 – 2 Ws 46, 47/22

Erstverbüßerregel bei BtM-Handel: Einschränkung

Bei einem Erstverbüßer kann grundsätzlich angenommen werden, dass er sich durch die bisherige Strafvollstreckung hinreichend beeindruckt zeigt und fortan von weiteren Straftaten Abstand nehmen wird. Gegenüber Tätern, die mit Rauschgift handeln, erfährt dieser Grundsatz jedoch eine Einschränkung, weil durch die Beteiligung am Rauschgifthandel die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit in hohem Maße berührt sind.

KG, Beschl. v. 19.5.2022 – 2 Ws 60/22

PKH-Entscheidungen in Vollzugsverfahren: Anfechtbarkeit

Die Entscheidung des LG in Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, Prozesskostenhilfe nicht zu gewähren, ist grundsätzlich nicht anfechtbar.

KG, Beschl. v. 14.4.2022 – 2 Ws 67/22 Vollz

Raub: Vollendung der Wegnahme

Die zur Vollendung eines Raubes führende Wegnahme ist vollzogen, wenn fremder Gewahrsam gebrochen und neuer Gewahrsam begründet ist. Bei leicht beweglichen Sachen genügt insoweit regelmäßig schon ein Ergreifen und Festhalten bzw. das offene Wegtragen als Wegnahmehandlung. Hat der Täter einen solchen Gegenstand an sich gebracht, erlangt er jedenfalls dann die ausschließliche Sachherrschaft darüber, wenn er den umschlossenen Herrschaftsbereich des bisherigen Gewahrsamsinhabers verlassen hat.

BGH, Beschl. v. 4.5.2022 – 6 StR 628/21

Vorlage eines gefälschten Impfpasses: Urkundenfälschung nach altem Recht

Der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB wird bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines Covid-19-Impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung verdrängt (Anschluss an OLG Hamburg, Beschl. v. 27.1.2022 – 1 Ws 114/21; OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.3.2022 – 1 Ws 33/22; OLG Schleswig, Beschl. v. 31.3.2022 – 1 Ws 19/22; entgegen OLG Bamberg, Beschl. v. 17.1.2022 – 1 Ws 732/21). Bei § 75a Abs. 2 Nr. 1 IfSG in der Fassung vom 28.5.2021 handelt es sich um ein Allgemeindelikt, wonach sich derjenige strafbar machen kann, der in der Apotheke einen Impfausweis vorlegt, in welchem die Impfung durch einen Arzt unrichtig eingetragen worden ist.

OLG Celle, Urt. v. 31.5.2022 – 1 Ss 6/22

Beiziehung von Messunterlagen: Verfahrensrüge

Wird als Behinderung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt beanstandet, dass Messunterlagen nicht beigezogen worden sind, bedarf es des ins Einzelne gehenden Vortrags dazu, welche Unterlagen bereits vorlagen und welche Unterlagen noch vermisst wurden.

OLG Köln, Beschl. v. 29.4.2022 – 1 RBs 97/22

Gesichtsverhüllung: Muslima

Die Regelung des § 23 Abs. 4 S. 1 StVO, wonach ein Kraftfahrzeugführer sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken darf, dass er nicht mehr erkennbar ist, dient präventiv der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer. Das Verhüllungsverbot ist mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG vereinbar und auch von einer Muslima, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, zu beachten.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 7.6.2022 – IV-2 RBs 73/22

Strafverteidigungskosten: Werbungskosten

Strafverteidigungskosten sind dann als Werbungskosten abziehbar, wenn der strafrechtliche Vorwurf, gegen den sich der Steuerpflichtige zur Wehr setzt, durch sein berufliches Verhalten veranlasst ist. Der strafrechtliche Vorwurf, gegen den sich der Steuerpflichtige zur Wehr setzt, betrifft grundsätzlich die konkrete Tat, aufgrund der die Strafverteidigungskosten angefallen sind.

BFH, Beschl. v. 31.3.2022 – VI B 88/21

Zusätzliche Verfahrensgebühr: Einziehung des Führerscheindokuments

Für die Einziehung des Führerscheindokuments fällt nicht die Gebühr Nr. 4142 VV RVG an, da die Nr. 4142 VV RVG den Entzug der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB nicht umfasst. Die Kosten für die Wiedererlangung des Führerscheindokuments, das eingezogen wurde, sind mit 300 EUR anzusetzen. Eine Festsetzung des Gegenstandswertes nach dem Auffangstreitwert der Verwaltungsgerichtsbarkeit kommt nicht in Betracht.

LG Amberg, Beschl. v. 18.5.2022 – 11 Qs 9/22

Längenzuschlag: Berücksichtigung von Unterbrechungen

Kommt es für eine Gebühr auf die Dauer der Teilnahme an der Hauptverhandlung an, so sind Unterbrechungen von jeweils mindestens einer Stunde, soweit diese unter Angabe einer konkreten Dauer der Unterbrechung oder eines Zeitpunkts der Fortsetzung der Hauptverhandlung angeordnet wurden, nicht zu berücksichtigen. Ordnet der Vorsitzende unter Nennung des Zeitraums eine Unterbrechung an und wird die Hauptverhandlung aus von dem Rechtsanwalt nicht zu vertretenden Gründen erst nach dem genannten Zeitraum fortgesetzt, ist nur der durch den Vorsitzenden angeordnete Zeitraum zu berücksichtigen und nicht die Dauer der tatsächlichen Unterbrechung.

LG Mannheim, Beschl. v. 11.5.2022 – 4 KLs 300 Js 40140/20

Vernehmungterminsgebühr: Verhandeln zur Haft

Für das Entstehen der Gebühr Nr. 4102 Nr. 3 VV RVG ist es unerheblich, zu welchen Haftfragen die Verhandlung stattgefunden hat und in welchem Umfang verhandelt worden ist. Ob der Beschuldigte auf Anraten seines Verteidigers schweigt oder Angaben zur Sache macht, ist ebenfalls nicht maßgeblich.

AG Neuss, Beschl. v. 18.5.2022 – 6 Ds-110 Js 6494/20-314/20

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