Beitrag

Schätzung im Steuerstrafverfahren

Wenn sowohl die Eingangsumsätze (Warenbezug) als auch die Ausgangsumsätze (Warenveräußerung) zu niedrig vom Steuerpflichtigen angegeben werden – Fall der sogenannten Doppelverkürzung –, scheidet eine Warenverkehrsrechnung zur Ermittlung der verkürzten Steuer aus, weil sowohl der Warenanfangs- wie Warenendbestand nicht feststehen.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 10.2.20221 StR 484/21

I. Sachverhalt

Schätzung bei Verurteilung wegen Steuerhinterziehung

Die Angeklagte war Geschäftsführer einer im Geschäftsbereich Fleischhandel tätigen GmbH. Er wurde vom LG Hamburg wegen (versuchter) Hinterziehung von Umsatz-, Körperschaft- und Gewerbesteuer zugunsten dieser GmbH, die Besteuerungszeiträume 2009 bis 2014 betreffend, verurteilt. Hintergrund der Verurteilung war, dass der Angeklagte bewirkte, dass der Ein- und Verkauf der GmbH in deren Buchhaltung nicht vollständig erfasst wurden. Da über die Schwarzeinkäufe keine Rechnungen existierten bzw. auffindbar waren, hat das LG im Zuge einer Warenverkehrsrechnung die Besteuerungsgrundlagen geschätzt. Hierbei wurden die Anfangswarenbestände und die Einkäufe gemäß Buchhaltung den Verkäufen gemäß Buchhaltung gegenübergestellt. Wenn sich solchermaßen an einzelnen Tagen rechnerisch negative Warenbestände ergaben, wurde unterstellt, dass die GmbH in Höhe des höchsten negativen Warenbestandes eines Jahres nicht erfasste Waren eingekauft hatte, und entsprechend der Warenendbestand korrigiert. In Höhe der Differenz zwischen korrigiertem Endbestand und Endbestand laut Buchführung wurden nicht erfasste Verkäufe zum durchschnittlichen Verkaufspreis unterstellt und entsprechend die Umsätze und Erträge der GmbH korrigiert. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Schätzung grundsätzlich zulässig

Wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, aber dessen Ausmaß ungewiss ist, ist im Steuerstrafverfahren eine Schätzung zulässig (BGH StRR 2019/3, 20 mit Anm. Gehm). Bei der Auswahl der Schätzungsmethode hat das Tatgericht einen Beurteilungsspielraum, muss aber nachvollziehbar darlegen, warum es die gewählte Schätzungsmethode in dem Fall für geeignet betrachtet (BGH NStZ-RR 2020, 22). Insofern erachtet der BGH zwar eine Warenverkehrs- wie auch eine Geldverkehrsrechnung grundsätzlich im Steuerstrafverfahren als zulässige Schätzungsmethoden, dies gilt aber nicht, wenn wie hier der entsprechende Anfangs- und Endbestand nicht sicher sind, weil keine zuverlässigen diesbezüglichen steuerlichen Aufzeichnungen aufgrund der Doppelverkürzungen vorliegen.

III. Bedeutung für die Praxis

Hohe Anforderungen an die Schätzung

Die Überzeugungsbildung bei einer Schätzung im Steuerstrafverfahren erfolgt für das Strafgericht zweistufig. So muss auf der ersten Stufe die Überzeugung gewonnen werden, dass überhaupt eine entsprechende Tat vorliegt, und auf der zweiten Stufe muss dann im Zuge einer Schätzung der konkrete Schuldumfang bestimmt werden (Gehm, NZWiSt 2012, 408). Dabei muss der gefundene Schätzungswert unter Berücksichtigung von § 385 Abs. 1 AO i.V.m. § 261 StPO nicht nur der Wahrscheinlichkeit wie im Besteuerungsverfahren nahekommen, sondern er muss nach der vollen Überzeugung des Tatrichters mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den tatsächlich zutreffenden Wert abbilden bzw. darf diesen nicht überschreiten (Gehm, NZWiSt 2012, 408). Da im Steuerstrafverfahren im Unterschied zum Besteuerungsverfahren bei der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen somit der Grundsatz in dubio pro reo gilt, ist demzufolge auch genau zu prüfen, ob die im Fall gewählte Schätzungsmethode, die als „rollierende Prüfung zwischen Warenanfangsbestand, Wareneinkauf, Warenabgang und Warenbestandsveränderungen“ definiert ist (so FG Köln EFG 2015, 2031), unter den gegebenen konkreten Umständen geeignet ist, den benannten Anforderungen an das Schätzungsergebnis im Steuerstrafverfahren gerecht zu werden. Hier scheiterte die Zulässigkeit der gewählten Schätzungsmethode bereits daran, dass die jeweiligen Anfangs- und Endbestände nicht genau erfasst waren, was aber Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Methode ist (vgl. Dürrer, Beweislastverteilung und Schätzung im Steuerstrafverfahren, 2010, S. 113). Die Entscheidung belegt, dass an Schätzungen im Steuerstrafverfahren hohe Anforderung gestellt werden.

Dr. Matthias Gehm, Limburgerhof

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…