Beitrag

Hinweispflicht des Gerichts

Zur Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO wegen veränderter Sachlage.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Hamm, Beschl. v. 13.1.20225 RVs 4/22

I. Sachverhalt

Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz

Das AG hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz verurteilt. Soweit es den Angeklagten verurteilt hat, hat es folgende Feststellungen getroffen: „Im Herbst 2019 fiel auf, dass der Angeklagte ein Auto auf seinen Namen angemeldet hatte. Insoweit entstand der Verdacht auf Seiten des Ausländeramtes A, dass der Angeklagte möglicherweise doch Papiere hatte, da diese für die Anmeldung des Pkw üblicherweise vorgelegt werden müssen.“

Durchsuchung beim Angeklagten

Daher erwirkte das Ausländeramt A beim AG Gladbeck einen Durchsuchungsbeschluss, der am 19.9.2019 erteilt wurde, für die Wohnung des Angeklagten, um Identifikationspapiere oder sonstige Urkunden und Unterlagen, die Hinweise auf die Identität oder Staatsangehörigkeit des Betroffenen geben könnten, aufzufinden und sicherzustellen.

Papiere werden gefunden

Am 15.11.2019 begaben sich die Zeugen B und C zur Wohnung des Angeklagten und führten dort die Durchsuchung durch. Zuvor fragten sie den Angeklagten ausdrücklich danach, ob er im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen wäre, was der Angeklagte verneinte. Im Rahmen der Durchsuchung wurde zunächst ein Führerschein des Angeklagten aufgefunden und bis zum Abschluss der Maßnahme in einer Mappe des Ausländeramtes abgelegt, um diesen sicherzustellen. Des Weiteren wurde eine auf Arabisch verfasste Urkunde aus dem Libanon aufgefunden, die sich später als Heiratsurkunde des Angeklagten herausstellte. Der Angeklagte, der dies bemerkte, riss den Zeugen die Heiratsurkunde aus der Hand, zerriss die Urkunde und warf die Fetzen der Urkunde aus dem Fenster der Wohnung. Fragmente der Urkunde sind sodann durch die Zeugin B sichergestellt worden und die Urkunde wurde weitestmöglich rekonstruiert und in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen. Es handelte sich dabei tatsächlich um eine Heiratsurkunde. Die Urkunde wurde übersetzt, soweit sie noch leserlich war, und im Termin verlesen. Der Angeklagte gab dazu an, die Urkunde erst nach 2016 von Angehörigen erhalten zu haben.

Revision

Gegen das Urteil des AG wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision. Er rügt eine Verletzung des § 265 StPO, weil der Tatvorwurf, aufgrund dessen letztlich die Verurteilung erfolgte, nicht von der Anklageschrift umfasst gewesen und auch kein rechtlicher Hinweis nach § 265 StPO erteilt worden sei. Die Revision hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Zulässigkeit

Zu der Verfahrensrüge ist nach Auffassung des OLG hinreichend i.S.v. § 344 Abs. 2 StPO ausgeführt worden.

Durch Gang der Hauptverhandlung ausreichend unterrichtet?

Für die Prüfung der Erforderlichkeit des Hinweises sei hier nicht darzulegen gewesen, ob der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage bereits hinreichend unterrichtet war und ein ausdrücklicher Hinweis deswegen unterbleiben konnte (vgl. insoweit BGH – 5. Strafsenat – NStZ 2019, 239, 240 = StRR 7/2018, 13). Anders als in der zitierten Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH gehe es vorliegend nicht lediglich um die Unterrichtung des Angeklagten über die vom Gericht gezogenen Konsequenzen aus einem erhobenen Entlastungsbeweis, sondern unmittelbar um eine Änderung der Tatsachenbasis, denn die der Verurteilung zugrunde liegende eigentliche Handlung (die Verneinung der Frage nach relevanten Urkunden bei der Hausdurchsuchung trotz Vorhandenseins einer Heiratsurkunde) sei in der Anklageschrift nicht erwähnt gewesen. Bei einer solchen Veränderung der Sachlage bedürfe es eines Revisionsvorbringens hinsichtlich einer etwaigen anderweitigen Unterrichtung des Angeklagten durch den Gang der Hauptverhandlung nicht (BGH – 3. Strafsenat – NStZ 2019, 236, 237 = StRR 10/2018, 11; BGH – 1. Strafsenat – NStZ 2019, 747; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 265 Rn 24; offengelassen von BGH – 4. Strafsenat – NStZ-RR 2021, 346). Da der Gesetzgeber mit dem Verweis in § 265 Abs. 2 auf Abs. 1 StPO auch auf die Erforderlichkeit eines „besonderen“ Hinweises, also eines ausdrücklichen Hinweises, Bezug genommen habe und aus den Gesetzesmaterialien nicht erkennbar werde, dass er lediglich die entsprechende Rechtsprechung zu § 265 StPO a.F. in Gesetzesform bringen wollte (vgl. Gubitz, NStZ 2019, 238), reiche die Information des Angeklagten bzgl. der veränderten Sachlage durch den bloßen Gang der Hauptverhandlung regelmäßig nicht aus (vgl. BGH NStZ 2020, 97; a.A. Arnoldi, NStZ 2020, 99, 101; Schlosser, NStZ 2020, 267, 270), so dass dementsprechend hierzu auch in der Rechtsmittelbegründung nichts vorgetragen werden müsse. Die Voraussetzung in § 265 Abs. 1 Nr. 3 StPO, dass der Hinweis zur genügenden Verteidigung „erforderlich“ sein müsse, beziehe sich demnach nicht auf die Form der Information (durch „besonderen Hinweis“ oder durch den Gang der Hauptverhandlung), sondern auf die Bedeutung der Änderung der Sachlage für Reaktionen des Angeklagten im Rahmen seiner Verteidigung (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 37).

Wie hätte der Angeklagte sein Verteidigungsverhalten einrichten können?

Dass die Revision nichts dazu vorgetragen habe, warum der Angeklagte durch das Unterlassen des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und wie er sein Verteidigungsverhalten nach erfolgtem Hinweis anders hätte einrichten können, sei im vorliegend Fall ebenfalls unschädlich. Ein solcher Vortrag ist zwar im Regelfall zu verlangen (BGH NStZ 2019, 239), es handelt sich nicht um grundsätzlich nicht erforderlichen Vortrag allein zur Beruhensfrage (so aber: Eschelbach, in: Graf, StPO, 4. Aufl., § 265 Rn 82). Denn Anwendungsvoraussetzung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist (u.a.), dass der Hinweis auf die veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten „erforderlich“ ist (vgl. Ceffinato, JR 2020, 6, 13). Allerdings kann ein Vortrag zur Erforderlichkeit dann unterbleiben, wenn sich diese von selbst versteht (BGH NStZ 2019, 239, 240 = StRR 7/2018, 13). So verhalte es sich aber hier. Bei dieser den Kernbereich des Tatgeschehens betreffenden Änderung der Sachlage erfordere eine genügende Verteidigung des Angeklagten, ihm die Möglichkeit zu eröffnen zu erwägen, ob er Beweisanträge stelle, etwa auf Vernehmung weiterer bei dem sich als neue Sachlage darstellenden Tatgeschehen anwesender Zeugen.

Begründetheit

Die Rüge sei – so das OLG – auch begründet. Das AG habe die Hinweispflicht nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO verletzt. Mit der zugelassenen Anklage vom 12.3.2020 sei dem Angeklagten ein Verstoß gegen § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.) sowie ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur Last gelegt worden. Der Angeklagte soll am 12.1.2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sein und bei seiner Anhörung am 14.10.2016 angegeben haben, dass alle Personenstandsurkunden auf der Reise abhandengekommen seien. Tatsächlich sei bei einer Hausdurchsuchung am 15.11.2019 bei ihm aber eine Heiratsurkunde gefunden worden, die er zerrissen habe. Nachdem der gestellte Asylantrag am 26.7.2019 rechtskräftig abgelehnt worden sei, sei er seit dem 27.8.2019 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen, habe sich aber seitdem illegal im Bundesgebiet aufgehalten. Als Tatort wird in der Anklageschrift „A“ angegeben, als Tatzeit „am 14.10.2016 sowie seit dem 27.8.2019“. Das AG habe diese Vorwürfe aber nicht als erwiesen angesehen, weil es die Einlassung des Angeklagten, er habe die Heiratsurkunde erst zeitlich nach seinen Angaben in der Anhörung vom 14.10.2016 zugeschickt bekommen, nicht habe widerlegen können und weil der Angeklagte zwar seit dem 27.8.2019 vollziehbar ausreisepflichtig war, aber seitdem durchgehend über eine Duldung verfügt habe. Die Verurteilung habe das AG vielmehr auf die bei der Hausdurchsuchung vom 15.11.2019 vom Angeklagten getätigte Äußerung gestützt, er sei nicht im Besitz von Urkunden oder Identifikationsunterlagen.

Dieselbe prozessuale Tat, aber …

Bei dem Gegenstand der Verurteilung handelt es sich zwar noch um dieselbe prozessuale Tat, wie sie auch in der Anklageschrift zugrunde gelegt war, so dass das Verfahren nicht etwa wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen gewesen sei. Das folge daraus, dass eine Identität des Tatortes besteht, der Tatzeitpunkt 15.11.2019 auch noch von dem Tatzeitraum der Anklageschrift („seit dem 27.8.2019“) umfasst sei, Personenidentität bestehe und auch schon das Geschehen der Hausdurchsuchung als solche (wenn auch nicht die von dem Angeklagten getätigte Äußerung mit ihrer rechtlichen Einordnung) in der Anklageschrift erwähnt worden sei. Auch gehe es um dasselbe Rechtsgut.

… Sachlage hat sich geändert

Die Sachlage innerhalb dieser prozessualen Tat, die der Verurteilung zugrunde liegt, habe sich jedoch wesentlich verändert. Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bestehen bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes (BGH NStZ 2019, 239 = StRR 7/2018, 13 m.w.N.; vgl. auch BGH NStZ 2020, 97 = StRR 5/2020, 18). Hier liege mit den unrichtigen Angaben im Rahmen der Hausdurchsuchung eine andere Tatrichtung als in dem bloßen Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel i.S.v. § 92 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, wobei beide Vorwürfe, wären sie beide gegeben, in Tatmehrheit zueinander stünden, da eine bloße zeitliche Überschneidung für die Annahme von Tateinheit nicht ausreicht, vielmehr hier ein anderer Tatentschluss gefasst und eine neue Tathandlung getätigt werden musste.

Hinweis im Eröffnungsbeschluss reicht nicht

Zwar sei im Eröffnungsbeschluss darauf hingewiesen worden, dass auch eine Strafbarkeit wegen unrichtiger Angaben in Betracht komme. Diese Maßgabe beziehe sich aber allein auf das in der Anklageschrift umschriebene Tatgeschehen, welches im Anklagesatz lediglich mit „unvollständig“ rechtlich gewürdigt wurde. Ein Hinweis i.S.v. § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO wurde in der Hauptverhandlung nicht erteilt.

Bedeutsam für das Verteidigungsverhalten

Die Veränderung der Sachlage sei für das Verteidigungsverhalten des Angeklagten, der sich nicht zur Sache eingelassen habe, auch bedeutsam und deswegen zur genügenden Verteidigung des Angeklagten geboten. So komme etwa die Anbringung von Beweisanträgen auf Vernehmung weiterer Zeugen, etwa – offenbar zugegen gewesener – „weiterer Bewohner der Wohnung“ zum Beweis, dass entsprechende Angaben vom Angeklagten nicht getätigt wurden, in Betracht.

III. Bedeutung für die Praxis

Umsetzung der gesetzlichen Erweiterung

Eine weitere Entscheidung in der Reihe der in der letzten Zeit doch recht häufigen Entscheidungen zu § 265 StPO. Die Häufigkeit der Entscheidungen ist, wie auch die BGH-Rechtsprechung zeigt, darauf zurückzuführen, dass § 265 StPO 2017 durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) in § 265 Abs. 2 StPO erweitert worden ist (vgl. dazu eingehend Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2108 ff.). Diese Änderungen setzen die Gerichte derzeit immer noch um. So hier auch das OLG Hamm in der m.E. zutreffenden Entscheidung. Zudem zeigen die Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit der erhobenen Verfahrensrüge, an welcher Stelle bei der Rüge der Verletzung des § 265 StPO Fallstricke lauern, die man als Verteidiger kennen und umgehen muss.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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