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Ablehnung der Vernehmung eines Auslandszeugen

Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines sog. Auslandszeugen ist das Tatgericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. In dem insoweit erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 S. 1 StPO) müssen aber die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen, und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Ablehnung der Vernehmung auf einer tragfähigen Grundlage beruht.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 16.2.20224 StR 392/20

I. Sachverhalt

Verurteilung wegen versuchten Mordes

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner u.a. auf die Rüge der Verletzung formellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

Verfahrensgeschehen

Der Angeklagte hatte die fehlerhafte Ablehnung von zwei Beweisanträgen gerügt und dazu folgendes Verfahrensgeschehen vorgetragen: Der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung bestritten, sich an dem ihm zur Last gelegten Angriff beteiligt zu haben. Er habe die von ihm verlangte Beteiligung u.a. gegenüber einem F abgelehnt und sich vom späteren Tatort entfernt.

Die Verteidigerin des Angeklagten hat in der Hauptverhandlung beantragt, den mit einer Anschrift in der Türkei benannten F „unter Zusicherung freien Geleits“ als Zeugen zu vernehmen. Der Antrag hatte unter anderem die Beweisbehauptung zum Gegenstand, der Angeklagte habe sich an der Tat nicht beteiligt. Bereits zuvor hatte das LG ein Rechtshilfeersuchen an die türkischen Polizeibehörden gestellt, um die Anschrift des F in der Türkei zu ermitteln und um ihn befragen zu lassen, ob er „zu einer Aussage bereit sei“. Auf dieses Ersuchen teilte die türkische Polizei die Anschrift des Zeugen sowie das Protokoll einer Vernehmung mit, demzufolge der Zeuge auf die Frage nach seiner Aussagebereitschaft erklärt habe, dass „er in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten möchte“.

Das LG lehnte den Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 S. 2 StPO ab, da die Vernehmung des im Ausland zu ladenden Zeugen „durch die Aufklärungspflicht nicht geboten“ sei. Bei der Abwägung könne berücksichtigt werden, ob der Zeuge voraussichtlich einer Ladung Folge leisten oder von einem ihm zustehenden Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Die ablehnende Erklärung des Zeugen gegenüber der türkischen Polizei sei „eindeutig und umfassend“. Einen weiteren, im Wesentlichen gleichlautenden Antrag der Verteidigerin hat das LG mit weitgehend gleicher Begründung ebenfalls abgelehnt. Die Erklärung des Zeugen enthalte keinerlei Einschränkungen oder Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge lediglich nicht ohne freies Geleit zu einer Zeugenvernehmung in der Bundesrepublik erscheinen wolle.

Revision erfolgreich

Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Der BGH hat die Begründung der Ablehnung der Beweisanträge als rechtsfehlerhaft angesehen.

II. Entscheidung

Grundsätze zum Auslandszeugen

Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, sei – so der BGH – das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und dürfe seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten seien und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären (st. Rspr.; vgl. BGHSt 40, 60, 62; BGH, Beschl. v. 12.7.2018 – 3 StR 144/18; Urt. v. 13.3.2014 – 4 StR 445/13; einschränkend Frister, in: SK-StPO, 5. Aufl., § 244 Rn 240). In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 S. 1 StPO) müssen aber die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich werde, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen, und das Revisionsgericht überprüfen könne, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruhe (vgl. die vorstehenden Nachw.).

Besonderheiten des Einzelfalls

Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebiete, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, könne nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gelte lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden könne. Dagegen werde die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheine, je größer die Unwägbarkeiten seien und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gelte insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden solle, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung seien (BGH, Beschl. v. 12.7.2018 – 3 StR 144/18; Urt. v. 13.3.2014 – 4 StR 445/13; Beschl. v. 26.10.2006 – 3 StR 374/06; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn 357).

Ablehnung auch, wenn der Zeuge nicht kommen will

Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 S. 2 StPO einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasse nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen sei, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gelte insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zustehe (BGH, Beschl. v. 23.10.2013 – 5 StR 401/13; Beschl. v. 25.4.2002 – 3 StR 506/01; LR/Becker, a.a.O.).

Gewicht der mutmaßlichen Aussage nicht berücksichtigt

Diesen Maßstäben entsprachen die Ablehnungsbeschlüsse nach Auffassung des BGH hier schon deshalb nicht, weil sie bereits im Ausgangspunkt die erforderliche Gesamtwürdigung vermissen ließen, ob die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die beantragte Vernehmung des Zeugen gebot. Das LG habe seine Prüfung ausschließlich auf einen einzigen Gesichtspunkt, nämlich die mutmaßliche Aussagebereitschaft des Zeugen bezogen. Dadurch habe es sich den Blick für die Frage verstellt, welches Gewicht seiner Aussage in der Beweiswürdigung ggf. zuzumessen wäre und welche Anstrengungen demnach zu unternehmen waren, um seine Vernehmung herbeizuführen. Für ein erhebliches Gewicht der Aussage habe gesprochen, dass der Angeklagte die Tatbeteiligung bestritten habe und unmittelbare Tatzeugen ihn nicht als Täter identifizieren konnten. Der Beweis seiner Täterschaft stützte sich allein auf – allerdings ihrerseits gewichtige – Indizien, wie namentlich auf seine Anwesenheit zur Tatzeit, ein von der Polizei aufgezeichnete Telefonat und das Motiv der Rache. Damit habe die Aussage des F als eines mutmaßlichen, am Tatort handelnden Mittäters für eine Belastung oder Entlastung des Angeklagten von zentraler Bedeutung sein können, da sie möglicherweise geeignet gewesen sei, seine Täterschaft zu beweisen oder die für seine Täterschaft sprechenden Indizien zu entkräften, etwa die Existenz oder die Anwesenheit eines unbekannt gebliebenen A am Tatort.

Konkretere Befragung des potentiellen Zeugen

Soweit das LG die Ablehnung der Vernehmung allein damit begründet habe, der Zeuge habe bei der türkischen Polizei angegeben, er wolle „in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten“, sei dies auch für sich genommen ermessensfehlerhaft, da das LG aus der Erklärung des Zeugen zu weit gehende Schlussfolgerungen gezogen habe und damit bei seiner Entscheidung von einer falschen Voraussetzung ausgegangen sei. Es habe zu Unrecht angenommen, der Zeuge sei unter keinen Umständen bereit, vernommen zu werden, und damit unerreichbar. Denn der herangezogenen Erklärung des Zeugen gegenüber der türkischen Polizei im Rahmen des Rechtshilfeersuchens habe sich ein derart weitreichender Bedeutungsgehalt nicht entnehmen lassen. Der Zeuge sei auf Ersuchen des LG lediglich pauschal nach seiner Aussagebereitschaft gefragt worden, ohne über die rechtlichen Bedingungen einer Zeugenaussage aufgeklärt worden zu sein. Insbesondere sei er weder über die Möglichkeit freien Geleits gemäß Art. 12 Abs. 1 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens (EuRHÜbk) unterrichtet worden, noch über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte. Angesichts der an ihn gerichteten unspezifischen Frage nach der Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, habe die Antwort offen gelassen, ob der Zeuge sich als mutmaßlicher Mittäter auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO oder mit Blick auf seine Verwandtschaft zum Angeklagten und zum Mitangeklagten auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO berufen wollte oder ob er – nicht fernliegend – zu einer Zeugenaussage in Deutschland deshalb nicht bereit war, weil er in Unkenntnis des Rechtsinstituts des freien Geleits damit rechnete, bei der Einreise verhaftet zu werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Eine ins Einzelne gehende Begründung ist erforderlich

Die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen ist zwar unter erleichterten Bedingungen wie die Ablehnung eines Beweisantrages auf Augenscheinseinnahme möglich, aber so einfach, wie es sich die Strafkammer hier gemacht hatte, nun doch nicht. Denn erforderlich ist schon eine ins Einzelne gehende Begründung, warum der Zeuge nicht geladen wird. Dazu gehört natürlich auch, dass das Gewicht der Aussage des Zeugen berücksichtigt wird. Je höher das ist, umso mehr muss das Gericht seine Ablehnung begründen und sich umso mehr anstrengen, den Zeugen ggf. doch noch zu laden (zum Auslandszeugen eingehend Hirsch, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 482 ff.).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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