Pflichtverteidigerwechsel: Interessenkonflikt
Ein Pflichtverteidigerwechsel kommt nur in Betracht, wenn entweder das Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet ist (§ 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO).
BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – StB 2/22 u. StB 3/22
Einstellung des Verfahrens: Strafklageverbrauch
Einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts gem. § 153 Abs. 1 S. 1 StPO kommt kein Strafklageverbrauch zu.
OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 RVs 2/22
Pflichtverteidiger: Eröffnung des Tatvorwurfs
Der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs ist nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens i.S.v. §§ 136, 163a StPO hinreichend sind. Vielmehr genügt es für die Eröffnung des Tatvorwurfs, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist.
LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22
Vermögensarrest: Anordnungsvoraussetzungen
Für die Anordnung eines Vermögensarrestes reicht es aus, dass bestimmte Tatsachen die Annahme im Sinne einer gewissen Wahrscheinlichkeit begründen, dass die Voraussetzungen für eine spätere gerichtliche Anordnung der Einziehung von Wertersatz vorhanden sind. Es genügt bereits der einfache Verdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO einer rechtswidrigen (§§ 73, 73c, 74b, 74c StGB) oder vorsätzlichen (§§ 74, 74c StGB) Tat.
LG Hamburg, Beschl. v. 8.3.2022 – 618 Qs 3/22
Wiedereintritt in die Beweisaufnahme: letztes Wort
Die Verkündung des ein Ablehnungsgesuch zurückweisenden Beschlusses stellt für sich gesehen keinen Wiedereintritt in die Hauptverhandlung i.S.d. § 258 StPO dar. Anderes gilt allenfalls dann, wenn der Beschluss über die bloße Zurückweisung hinaus einen Bezug zur Sachentscheidung aufweist, weil sich in ihm die Bewertung einer potentiell urteilsrelevanten Frage widerspiegelt. Nicht maßgeblich ist hingegen, ob der Befangenheitsantrag als unzulässig oder unbegründet behandelt wird.
BGH, Urt. v. 24.2.2022 – 3 StR 202/21
Sachverständigengutachten: Unterbringung
Der Senat ist über die bisherige Rechtsprechung des BGH hinaus der Auffassung, dass das Tatgericht von einer Begutachtung auch dann absehen darf, wenn es eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung zieht, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen auf der Hand liegt. Dies gilt nicht nur für Fälle offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht, sondern auch für Konstellationen evident fehlenden Hangs.
BGH, Beschl. v. 23.3.2022 – 6 StR 63/22
Beschwerdefrist: Feiertag
Der 24. Dezember – Heiligabend – ist kein Feiertag.
OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 17.3.2022 – 5 UF 184/21
Wiedereinsetzung: Unterrichtung des Verteidigers von der Zustellung
Ein Angeklagter darf sich grundsätzlich und bei fehlenden gegenteiligen Anhaltspunkten darauf verlassen, dass ein Verteidiger von Entscheidungen gegen ihn unterrichtet wird und dieser die notwendigen Schritte dagegen einleiten wird.
LG Köln, Beschl. v. 10.3.2022 – 109 Qs 15/21
Wiedereinsetzung: Glaubhaftmachung
Ist der Briefumschlag, mit dem ein Beschwerdeführer die rechtzeitige Absendung eines Rechtsmittels belegen kann, nicht mehr vorhanden, kann auf eine Glaubhaftmachung verzichtet und die „schlichte“ Erklärung als geeignet angesehen werden, die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Versäumungsgrundes zu begründen.
LG Münster, Beschl. v. 23.3.2022 – 7 Qs 27/21
StrEG: Anwendung zivilrechtlicher Zurechnungsmaßstäbe
Grob fahrlässig i.S.d. § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG handelt nicht, wem die Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahme wegen fehlender Verantwortlichkeit gemäß § 827 S. 1 BGB nicht zugerechnet werden kann. Für Billigkeitserwägungen durch eine analoge Anwendung des § 829 BGB im Rahmen des § 5 Abs. 2 S. 1 StrEG ist kein Raum.
KG, Beschl. v. 2.2.2022 – 2 Ws 144/21
Haftentscheidungen: Verhältnismäßigkeit; Begründungstiefe
Der formelhafte Satz zur Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer: „Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich angesichts der Bedeutung der Sache und der im Falle einer rechtskräftig werdenden Verurteilung für den Beschwerdeführer zu erwartenden Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer seit der Inhaftierung als noch verhältnismäßig“ genügt nicht der verfassungsrechtlich gebotenen wertenden Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. Die Entscheidung nimmt nicht die konkreten Nachteile und Gefahren des Freiheitsentzugs im Verhältnis zur Bedeutung der in Rede stehenden Strafsache sowie der zu erwartenden Straffolgen in den Blick.
VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2022 – VfGBbg 63/21
Fahrverbot: Zeitablauf
Der Warnungs- und Besinnungsfunktion des § 44 StGB bedarf es auch noch knapp zwei Jahre nach der Tatbegehung, wenn der Täter sein Fahrzeug in besonders schwerwiegender Weise im Straßenverkehr missbraucht hat.
OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 RVs 2/22
Handeltreiben mit Betäubungsmitteln: Bewertungseinheit
Beschafft sich der Täter eine einheitliche Rauschgiftmenge zur gewinnbringenden Weiterveräußerung, so verwirklicht er den Tatbestand des Handeltreibens auch dann nur einmal, wenn er sie in mehreren Teilmengen absetzt.
KG, Beschl. v. 7.2.2022 – 2 Ws 11/22
Behinderung von Hilfeleistenden: Dauer der Verzögerung
Für eine Behinderung von Hilfeleistenden i.S.v. § 115 Abs. 3 StGB genügt bei schweren Verletzungen (hier: stark blutende Kopfverletzung) bereits eine nur kurze Verzögerung der Hilfeleistung (hier: eine Minute).
OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 RVs 2/22
BtM-Verfahren: Absehen von Strafe
Das tatrichterliche Urteil muss erkennen lassen, ob der Tatrichter ermessensfehlerfrei von der Möglichkeit des Absehens von Strafe gemäß § 29 Abs. 5 BtMG keinen Gebrauch gemacht hat. Zwar hat der Angeklagte keinen Anspruch auf Absehen von Strafe. Die Prüfung muss allerdings unter Berücksichtigung aller strafzumessungsrelevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls erfolgen und unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Richters.
BayObLG, Beschl. v. 2.3.2022 – 205 StRR 53/21
Standardisiertes Messverfahren: Einlassung des Betroffenen
Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen.
VerfG Bbg, Beschl. v. 18.2.2022 – VfGBbg 54/21
Einspruchsbeschränkung: rechtlicher Hinweis auf Vorsatz
Der Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolge (§ 67 Abs. 2 OWiG) steht im Verfahren über eine nach dem Bußgeldbescheid fahrlässig begangene Ordnungswidrigkeit nicht entgegen, dass das Tatgericht bereits den rechtlichen Hinweis erteilt hat (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO), dass eine Vorsatzverurteilung in Betracht kommt (Anschluss unter Aufgabe eigener Rechtsprechung und Fortführung: OLG Oldenburg, Beschl. v. 7.3.2016 – 2 Ss (OWi) 55/16, 2 Ss OWi 55/15; entgegen: OLG Frankfurt, Beschl. v. 23.3.2016 – 2 Ss-OWi 52/16).
OLG Rostock, Beschl. v. 14.4.2022 – 21 Ss OWi 24/22
Auslieferungsverfahren: Auslagenerstattung
Ist die Auslieferung des Verfolgten unzulässig, kommt eine Erstattung seiner im Auslieferungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen aus der Landeskasse nur in Betracht, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für zulässig hält und mit ihrem gemäß § 29 Abs. 1 IRG beim OLG gestellten Antrag das Ziel der Auslieferung des Verfolgten anstrebt. Beantragt die Generalstaatsanwaltschaft dagegen, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, ist für eine Auslagenerstattung kein Raum.
OLG Celle, Beschl. v. 21.2.2022 – 2 AR (Ausl) 67/21
Verbindung von Verfahren: Grundgebühr/Verfahrensgebühr
Grundsätzlich ist jedes von den Strafverfolgungsbehörden betriebene Ermittlungsverfahren ein eigenständiger Rechtsfall i.S.v. Nr. 4100 VV RVG, solange die Verfahren nicht miteinander verbunden sind. Eine Verfahrensverbindung hat auf bis zu diesem Zeitpunkt bereits entstandene Gebühren keinen Einfluss. Eine Prüfung der Recht- oder gar Zweckmäßigkeit einer Erstreckungsentscheidung findet im Kostenfestsetzungsverfahren nicht mehr statt. Die Verfahrensgebühr entsteht zwar nach Anmerkung 1 zu Nr. 4100 VV RVG neben der Grundgebühr. Abgegolten werden mit ihr im vorbereitenden Verfahren allerdings nur Tätigkeiten nach der Erstinformation des Rechtsanwalts, d.h. alle Tätigkeiten nach erstem Mandantengespräch und erster Akteneinsicht.
OLG Celle, Beschl. v. 26.1.2022 – 2 Ws 19/22
Adhäsionsverfahren: zusätzliche Verfahrensgebühr
Die Gebühr Nr. 4143 VV RVG entsteht nicht nur, wenn ein Adhäsionsverfahren im eigentlichen Sinne anhängig ist. Sie entsteht auch, wenn vermögensrechtliche Ansprüche im Strafverfahren lediglich miterledigt werden. Abgegolten werden auch die Tätigkeiten, die der Rechtsanwalt im Hinblick auf das Adhäsionsverfahren im Hauptverhandlungstermin und zu dessen Vorbereitung erbringt. Es kommt aber nicht darauf an, dass der Rechtsanwalt gegenüber dem Gericht tätig wird. Zur Auslegung einer Kostenentscheidung betreffend die „notwendigen Auslagen der Nebenklägerin“.
OLG Hamm, Beschl. v. 8.3.2022 – III -1 Ws 579/21
Zusätzliche Verfahrensgebühr: Schweigen
Der Umstand, dass es in einem anwaltlichen Schreiben heißt, die Mandantschaft werde derzeit von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen, ändert nichts daran, dass der Inhalt des Schreibens objektiv geeignet ist, die endgültige Verfahrenseinstellung zu fördern.
AG Strausberg, Urt. v. 23.3.2022 – 9 C 166/21