Beitrag

Schweregrad der Anlasstaten bei Wiederholungsgefahr

Zum erforderlichen Schweregrad der Anlasstat für die Bejahung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr i.S. des § 112a StPO

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.3.20221 Ws 33/22

I. Sachverhalt

Haftbefehl auf Wiederholungsgefahr gestützt

Das AG hat gegen den Beschuldigten am 5.1.2022 Haftbefehl erlassen wegen des dringenden Tatverdachts, in der Zeit vom 26.10.2021 bis zum 4.1.2022 gemeinschaftlich neben weiteren Taten des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB, des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, § 114 StGB, und der Bedrohung, § 241 StGB am 4.1.2022 mit einem Werkzeug die Schlösser zweier E-Roller geöffnet zu haben in der Absicht, die Fahrzeuge zu entwenden, wobei die Beschuldigten am Gürtel bewusst gebrauchsbereit Taschenmesser bei sich geführt hätten (§§ 242 Abs. 1, 244 Abs. 1 Ziff. 1 a) StGB), sowie entweder am 26.10.2021 ein abgeschlossene Fahrrad unter Aufbrechen des Schlosses entwendet oder dieses Fahrrad von einem Unbekannten erworben zu haben in Kenntnis, dass dieses zuvor entwendet worden war, und in der Absicht, sich dadurch einen Vermögensvorteil zu verschaffen (§§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Ziff. 2, 259 Abs. 1 StGB). Das AG hat den Haftbefehl auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO) gestützt und zugleich mit seinem Erlass gemäß § 116 Abs. 3 StPO die Außervollzugsetzung gegen die Weisungen, sich täglich bei der Polizeidienststelle zu melden und jeglichen Kontakt zu den Mittätern zu meiden, angeordnet.

Gesamtstrafenbeschluss

Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das AG den Haftbefehl in Vollzug. Der Beschuldigte wurde am selben Tag erneut vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem in (Untersuchungs-)Haft. Seit dem 23.2.2022 verbüßt er, voraussichtlich bis zum 21.6.2022, eine Rest-Ersatzfreiheitsstrafe aus einem Gesamtstrafenbeschluss des AG vom 14.7.2021. Den zusammengefassten Einzelgeldstrafen liegt u.a. ein Strafbefehl des AG Rostock zugrunde, mit dem gegen den Beschuldigten wegen eines am 7.2.2020 begangenen Ladendiebstahls auf eine Geldstrafe erkannt worden war, und ein Strafbefehl des AG Potsdam, mit dem wegen eines am 12.10.2020 begangenen versuchten Diebstahls eines Mountainbikes ebenfalls auf eine Geldstrafe erkannt worden war. Für das vorliegende Verfahren ist Überhaft notiert.

Weitere Ermittlungsverfahren

Die Staatsanwaltschaft führt zwei weitere Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten. Sie wirft ihm vor, am 2.10.2021 ein gegen Wegnahme gesicherte E-Bike und am 19.12.2021 ein weiteres ordnungsgemäß abgeschlossenes Fahrrad entwendet und sich deshalb gemäß §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 Ziff. 2 StGB strafbar gemacht zu haben.

Haftbeschwerde

Der Beschuldigte hat Haftbeschwerde eingelegt. Nach seiner Ansicht besteht keine Wiederholungsgefahr. Das LG hat die Beschwerde als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete weitere Beschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Taten aus anderen Ermittlungsverfahren reichen aus

Nach Auffassung des OLG ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.d. § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO nicht gegeben. Zwar sei der Beschuldigte der wiederholten Begehung des Diebstahls im besonders schweren Fall, §§ 242, 243 Abs. 1 Ziff. 2 StGB, und damit einer Katalogtat des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO dringend verdächtig. Insoweit müsse nicht entschieden werden, ob bereits die den Gegenstand des Haftbefehls vom 5.1.2022 bildenden Taten hierfür genügen, obwohl hinsichtlich einer Tat im Wege der Wahlfeststellung auch eine Hehlerei i.S.d. § 259 StGB in Betracht komme. Zur Begründung der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a StPO könnten nämlich auch Taten herangezogen werden, die den Gegenstand eines anderen Ermittlungsverfahrens bilden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112a Rn 8). Eine Wiederholung der Tat zu 1) dieses Haftbefehls bedeuten jedenfalls zwei weitere Diebstahlshandlungen, deren der Beschuldigte aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses ebenfalls dringend verdächtig sei.

Starke innere Neigung zu Fahrraddiebstählen zu bejahen

Auch zeigen – so das OLG – die Ermittlungsergebnisse bestimmte Tatsachen auf, aus denen sich eine starke innere Neigung des Beschuldigten ergebe, Fahrraddiebstähle zu begehen. Hieraus begründe sich die Besorgnis, er werde die Serie gleichartiger Taten noch vor der Verurteilung wegen der dem Haftbefehl zugrunde liegenden Diebstahlsvorwürfe fortsetzen (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 112a Rn 14). Der bereits wegen Diebstahls vorbestrafte Beschuldigte sei auf der Grundlage bisheriger Ermittlungen Mitglied einer Organisation, die sich zur fortgesetzten Begehung von Fahrraddiebstählen zusammengeschlossen habe. Die Taten lägen nach Art einer Serie zeitnah beieinander.

Aber: keine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung durch die Anlasstat

Es fehlte dem OLG indessen die von § 112a StPO vorausgesetzte schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung durch die Anlasstat. Da die in den Katalog des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO aufgenommenen Straftaten schon generell schwerwiegender Natur seien, der Kreis der Delikte indessen durch das Merkmal der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung noch weiter eingeschränkt werden solle, könnten nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrads als Anlasstaten eingestuft werden (OLG Frankfurt am Main StV 2016, 816 f.; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 115, 116; Graf, in: KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 112a Rn 14a), also solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität liegen (OLG Braunschweig StV 2012, 352 f.; OLG Frankfurt a.a.O.). Ob dies der Fall sei, richte sich insbesondere nach dem Unrechtsgehalt der Tat sowie nach Art und Umfang des angerichteten Schadens (OLG Hamm a.a.O.; OLG Frankfurt am Main a.a.O.; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 16.10.2018 – 1 Ws 206/18; OLG Karlsruhe StV 2017, 456 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 112a Rn 9). Dabei müsse jede einzelne Tat nach ihrem konkreten Erscheinungsbild den erforderlichen Schweregrad aufweisen, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung erst aus dem Gesamtunrecht aller Taten herzuleiten, sei nicht zulässig (OLG Frankfurt am Main a.a.O.; OLG Karlsruhe StV 2017, 456 f.; KK/Graf, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).

Abwägung der Gesamtumstände/Wertgrenze 2.000 EUR

Hieran gemessen habe es sich bei der Anlasstat vom 4.1.2022 nicht um eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat gehandelt. Der Diebstahl mit Waffen, dessen der Beschuldigte dringend verdächtig sei, weise keinen überdurchschnittlichen Schweregrad auf, er sei lediglich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Die Art der Tatausführung, die Auswirkungen der Tat, die aus ihr sprechende Gesinnung, der bei ihr aufgewendete Wille und die Beweggründe und Ziele des Beschuldigten hätten keine über das durchschnittliche Erscheinungsbild hinausgehenden Besonderheiten aufgewiesen. Insoweit sei insbesondere zu beachten, dass der Beschuldigte zwar ein Messer bei sich geführt habe, es sich hierbei indessen nur um ein gewöhnliches Taschenmesser gehandelt habe, dessen Eignung zur Herbeiführung erheblicher Verletzungen nach Art seiner Verwendung im konkreten Fall noch aufzuklären sein werde (vgl. hierzu BGH StV 2002, 191; NStZ-RR 2003, 12; 2005, 340; OLG Braunschweig NJW 2002, 1735). Auch aus den Tatfolgen lasse sich eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung nicht herleiten. In Übereinstimmung mit der Auffassung des LG nimmt das OLG für Taten nach § 243 StGB eine Wertgrenze von 2.000 EUR an. Diese Wertgrenze sei hinsichtlich der Taten, die Gegenstand des Haftbefehls vom 5.1.2022 sind, nicht erreicht. Bezogen auf das E-Bike gehe das LG in der angefochtenen Entscheidung zu Unrecht vom Neupreis des Diebesguts aus, den sie mit 2.500 EUR beziffert habe. Das E-Bike sei indessen zur Tatzeit nach Angaben des Geschädigten bereits zwei Jahre alt gewesen, sodass sein Wert sich erheblich reduziert haben und die genannte Grenze nicht mehr erreichen dürfte. Bei zusammenfassender Würdigung der Umstände handele es sich daher bei den Taten jeweils nicht um solche, die mindestens der oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität zuzuordnen sind, und damit nicht um solche, durch welche die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt werde.

III. Bedeutung für die Praxis

Subsidiärer Haftgrund

Liegen die Haftgründe der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 StPO nicht vor, kann ggf. subsidiär auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurückgegriffen werden (dazu eingehend Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 4504 ff. mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur).

Wertgrenze im Auge behalten

Bei diesem Haftgrund ist insbesondere darauf zu achten, ob durch die Anlasstat, die die Wiederholungsgefahr begründen soll, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung zu erwarten ist. Dabei geht die Rechtsprechung der OLG von einer Schadenswertgrenze von rund 2.000 EUR aus (vgl. dazu die Zusammenstellung der Rechtsprechung bei Burhoff/Burhoff, EV, Rn 4509). Insoweit muss der Verteidiger ggf. vortragen, um zu einem Schaden unterhalb der Grenze zu kommen, was sich hier anschaulich an dem entwendeten E-Bike zeigt.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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