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Nichtvorlage der schriftlichen Vollmacht bei Gericht

Das Fehlen einer schriftlichen Vollmacht eines Anwalts darf das Gericht nur dann von Amts wegen berücksichtigen, wenn begründete Zweifel am Auftrag bestehen. Solche Bedenken dürfen laut BVerfG nicht allein damit begründet werden, dass bislang keine Vollmacht in den Akten ist. Unabhängig davon müsse dem Rechtsanwalt eine ausreichende Frist zur Vorlage gewährt werden.

(Leitsatz des Verfassers)

BVerfG, Beschl. v. 18.2.20221 BvR 305/21

I. Sachverhalt

OVG verwirft Berufung wegen Nichtvorlage der schriftlichen Vollmacht

Das VG hat eine Klage abgewiesen. Der Kläger hat danach gegen einen nicht beachteten Terminsverlegungsantrag in einer persönlich verfassten Erklärung Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt und darin angegeben, sein – namentlich benannter – Rechtsanwalt habe schon „Einspruch“ gegen das „Versäumnisurteil“ eingelegt. Tatsächlich beantragte dieser dann am 12.11.2020 beim OVG Magdeburg die Zulassung der Berufung. Am 20.11.2020 setzte das OVG eine Frist von einer Woche zur Vorlage einer schriftlichen Vollmacht. Am 1.12.2020 telefonierte die Geschäftsstelle mit dem Bevollmächtigten. Dabei gab dieser an, dass das Schriftstück noch auf dem Postweg zu ihm sei und er es unverzüglich weiterleiten werde. Gleiches teilte er mit Schriftsatz vom 2.12.2020 dem OVG mit. Die Vollmacht erreicht ihn schließlich am 8.12.2020 und wurde von ihm direkt weitergeleitet. Das OVG hatte aber bereits am 3.12.2020 die Berufung wegen der fehlenden Vollmacht als unzulässig verworfen (vgl. NVwZ-RR 2021, 383).

Verfassungsbeschwerde eingelegt

Der Kläger hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Diese war erfolgreich.

II. Entscheidung

Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verletzt

Das BVerfG stellt in Anwendung der geltenden Maßstäbe (vgl. BVerfGE 84, 366, 369 f.; 151, 173, 184) eine Verletzung des Grundrechts des Klägers aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG fest.

Berechtigtes Interesse an der Prüfung von Amts wegen

Das Gericht habe nach § 67 Abs. 4 S. 1, Abs. 6 S. 1 VwGO den Mangel einer erforderlichen schriftlichen Vollmacht gem. § 67 Abs. 6 S. 3 und 4 VwGO nur dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftrete. Aber auch dann, wenn ein Rechtsanwalt als Bevollmächtigter auftrete, komme nach der Rechtsprechung des BVerwG (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.6.2011 – 8 A 1/10; v. 5.8.2019 – 1 A 2/19; s. auch BVerwG, Beschl. v. 25.3.1996 – 4 A 38/95; BSG, Beschl. v. 20.1.2016 – B 14 AS 188/15 B), eine Prüfung von Amts wegen nur dann in Betracht, wenn die Art und Weise der Prozessführung beziehungsweise sonstige besondere Umstände dem Gericht dazu berechtigten Anlass geben. Allein durch die Nichtvorlage nach Aufforderung werde hingegen das dem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege ausweislich des § 67 Abs. 6 S. 4 VwGO beigemessene besondere Vertrauen nicht erschüttert. Angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Möglichkeit zur Nachreichung der Vollmacht nach § 67 Abs. 6 S. 1 VwGO stelle ein solches Verhalten – zumal zum Zeitpunkt der Erhebung des Rechtsmittels – keine besonders ungewöhnliche Prozesssituation dar. Auf die ausbleibende Nachreichung könne allenfalls nach ‒ Zweifel verfestigender ‒ mehrmaliger vergeblicher Erinnerung und Fristsetzung maßgeblich abgestellt werden.

Keine berechtigten Zweifel

Für berechtigte Zweifel an der Bevollmächtigung böten die vom OVG angeführten Gründe danach, auch in ihrer Zusammenschau, keinerlei Anlass. Der Verweis darauf, dass eine Vollmacht schon in der Vorinstanz nicht vorgelegt worden sei, genüge hier schon deshalb nicht, weil in der dem OVG vorliegenden Akte des erstinstanzlichen Verfahrens mit der durch den Kläger persönlich eingelegten Dienstaufsichtsbeschwerde Anhaltspunkte dafür zu finden sind, dass der auftretende Rechtsanwalt jedenfalls damals bevollmächtigt war. Darüber hinaus ergebe sich hieraus unmissverständlich, dass der Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil vorgehen wollte und dass er dies gerade durch seinen Prozessbevollmächtigten tun wollte. Überhaupt nicht nachvollziehbar sei vor diesem Hintergrund auch, warum die Beantragung der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hier auf einen Abbruch des Kontakts des Bevollmächtigten zum Beschwerdeführer hinweisen sollte. Daran ändere nichts, dass der Bevollmächtigte auf die gerichtliche Erinnerung an die Erfüllung der Eingangsverfügung hin bei seiner noch am selben Tag telefonisch und am Folgetag schriftsätzlich erfolgten Ankündigung, die schriftliche Vollmacht bald zu übersenden, die Umstände für die Verspätung ‒ was der Kläger bestreite ‒ nicht benannt haben sollte.

Angemessene Vorlagefrist

Selbst wenn die Verwerfung nicht bereits mangels nachvollziehbarer Zweifel an der Bevollmächtigung gegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verstoßen würde, wäre nach Auffassung des BVerfG eine Verwerfung aufgrund des Fehlens einer Vollmacht hier nicht mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG vereinbar gewesen. Hätten berechtigte Zweifel an der Bevollmächtigung bestanden, wäre dem (angeblich) Bevollmächtigten zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine angemessene Zeitspanne einzuräumen gewesen, innerhalb derer er die Vollmacht nachzureichen hat. Dem wurde die vom OVG gesetzte Wochenfrist hier nicht gerecht. Unabhängig davon, ob eine Wochenfrist für die Nachreichung der Vollmacht nach § 67 Abs. 6 S. 2 Hs. 2 VwGO grundsätzlich ausreichen könnte, widerspreche eine solche Begrenzung jedenfalls vorliegend einer an der Effektivität des Rechtsschutzes orientierten Rechtsanwendung, weil keinerlei Umstände ersichtlich sind, die im konkreten Fall eine derart kurze Frist für die – gesetzlich ausdrücklich in § 67 Abs. 6 S. 2 VwGO vorgesehene – Nachreichung erfordert haben könnten. So sei etwa ein generell für kurze Fristen streitender besonderer Eil- beziehungsweise Beschleunigungsbedarf weder durch das OVG benannt noch in der Sache ersichtlich, zumal noch nicht einmal die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung abgelaufen war. Der angegriffene Beschluss sei im Übrigen auch nicht deswegen mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG vereinbar, weil das OVG nach Ablauf der von ihm gesetzten Wochenfrist noch eine weitere Woche bis zu seiner Entscheidung zuwartete, denn das OVG habe allein auf den Fristablauf abgestellt, nicht aber darauf, dass ein weiterer Zeitraum verstrichen ist.

III. Bedeutung für die Praxis

Argumentationshilfe

Das BVerfG muss sich nicht häufig mit Vollmachtsfragen befassen. Wenn es das tun musste, hatte die Verfassungsbeschwerde aber häufig Erfolg (s. z.B. BVerfG NJW 2012, 141 mit Anm. Burhoff, StRR 2011, 426). So dann auch hier in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. In dem ist die Frage der Vollmachtsvorlage zwar gesetzlich anders geregelt als im Straf-/Bußgeldverfahren nach der StPO/dem OWiG. Die vom BVerfG aufgestellten Grundsätze lassen sich m.E. jedoch auf diese Verfahrensarten übertragen. Denn auch in diesen Verfahren ist die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht durch den Rechtsanwalt grundsätzlich nicht erforderlich (vgl. die Nachweise bei Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 235 und 5026, 5031 ff.; Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 3826 ff., jeweils m.w.N.). Nur dann, wenn im Einzelfall Zweifel bestehen, kann die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht verlangt werden (BVerfG a.a.O.). Und an der Stelle legt das BVerfG in seiner Entscheidung die Messlatte hoch: Es müssen berechtigte Zweifel sein. Von daher hat die Entscheidung über den verwaltungsgerichtlichen Bereich hinaus Bedeutung in der Praxis. Mit ihr wird im in der Praxis immer wieder auftretenden „Vollmachtsstreit“ mit Gerichten, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden argumentiert werden können.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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