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Doppelverurteilung wegen derselben prozessualen Tat

Erfolgt in zwei getrennten Verfahren wegen derselben prozessualen Tat jeweils eine Verurteilung wegen verschiedener Delikte (hier: Besitz von Betäubungsmitteln und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) zu einer Geldstrafe, ist die Vollstreckung der Geldstrafe aus der zweiten Verurteilung von Amts wegen für unzulässig zu erklären.

(Leitsatz des Verfassers)

AG Reutlingen, Beschl. v. 25.1.20225 Cs 24 Js 7842/21

I. Sachverhalt

Zwei Verurteilungen, eine prozessuale Tat

Der Verurteilte wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 7.5.2021 wegen Besitzes von Betäubungsmitteln (am 2.4.2021 gegen 11:10 Uhr in seiner Wohnung) zu einer Geldstrafe verurteilt. Der rechtskräftigen Verurteilung zu einer weiteren Geldstrafe am 29.7.2021 in einem anderen Verfahren lag eine Widerstandshandlung gegen Polizeibeamte, ebenfalls am 2.4.2021 gegen 11:10 Uhr in seiner Wohnung, zugrunde. Die polizeilichen Maßnahmen in der Wohnung des Verurteilten erfolgten, weil durch die Polizeibeamten im Haus ein starker Cannabisgeruch festgestellt wurde, was nach richterlicher Anordnung zur Kontrolle der Wohnung und zu dem abgeurteilten Widerstand führte. Auf Antrag der StA hat das AG festgestellt, dass die Vollstreckung der Geldstrafe aus dem Urteil vom 26.6.2021 unzulässig ist.

II. Entscheidung

Grundlagen

Der Strafausspruch im Urteil vom 29.7.2021 verstoße gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung, Art. 103 Abs. 3 GG. Ob dieselbe „Tat“ nach Art. 103 Abs. 3 GG vorliegt, sei dabei unabhängig vom Begriff der Tateinheit nach § 52 StGB zu beurteilen, weil die Rechtsfiguren der Tateinheit (§ 52 StGB) und der Tatidentität (Art. 103 Abs. 3 GG) verschiedene Zwecke verfolgen. Tat nach Art. 103 Abs. 3 GG sei der geschichtliche und damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen oder mehrere Straftatbestände verwirklicht hat. Die prozessuale Tat nach § 264 StPO entspreche dem verfassungsrechtlichen Begriff der sogenannten Tatidentität gem. Art. 103 Abs. 3 GG. Über die prozessuale Tat sei hier bereits rechtskräftig im ersten Verfahren abschließend entschieden worden. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens sei nicht geboten oder vom Verurteilten beantragt. Es sei ausreichend, aber auch geboten, die Unzulässigkeit der Vollstreckung festzustellen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 359 Rn 39 m.w.N.).

Hier: eine prozessuale Tat

Hier stünden die Taten des Besitzes von Betäubungsmitteln und des Widerstands nicht nur in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang, sondern darüber hinaus in einem starken inneren Beziehungs- und Bedingungszusammenhang. Der Sachverhalt sei weder rechtlich noch bei verständiger Betrachtung des wirklichen Geschehens in verschiedene Lebenssachverhalte irgendwie „aufspaltbar“. Zur Tat in diesem Sinne gehöre das gesamte Verhalten eines Angeklagten, soweit es mit dem im ersten Verfahren durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH, Beschl. v. 23.9.2020 – 2 StR 606/19, juris). Dies gelte auch, wenn einzelne damit zusammenhängende oder darauf bezogene Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt, in einem anderen Verfahren angeklagt oder vergessen worden sind (OLG Stuttgart NJW 2021, 2596 = NZV 2021, 541 [Sandherr]).

Folgen

Dass die gesamte Tat bereits rechtskräftig abgeurteilt ist, sei wohl übersehen worden, da im Bundeszentralregisterauszug die frühere Aburteilung durch den Strafbefehl noch nicht enthalten war und vom zum damaligen Zeitpunkt unverteidigten Angeklagten in der Hauptverhandlung am 29.7.2021 nicht mitgeteilt wurde. Die doppelte Verurteilung sei erst mit einer vorzunehmenden Gesamtstrafenbildung bei der StA augenfällig geworden. Von Amts und Verfassungs wegen sei die zweite Geldstrafe nicht zu vollstrecken, wenn auch der „doppelt“ Verurteilte den Fehler weder bis zur Rücknahme einer Berufung noch zu einem späteren Zeitpunkt gerügt hat.

III. Bedeutung für die Praxis

Interessant, aber nicht überzeugend

Eine interessante Fallgestaltung, aber keine überzeugende Lösung. Ausgangspunkt ist eine leidige, aber in der Praxis nicht eben seltene Konstellation: Durch Polizei oder StA werden für ein BtM-Delikt und bei Antreffen des Beschuldigten entdeckte andere Straftaten (oftmals Trunkenheits- oder Drogenfahrten nach § 316 StGB, dazu OLG Stuttgart a.a.O., hier die Widerstandshandlung) trotz desselben Sachverhaltes unterschiedliche Verfahren angelegt und getrennt betrieben. Nicht immer wird dies aktenkundig gemacht. Liegt in dem zweiten Verfahren noch keine rechtskräftige Verurteilung vor, ist das Verfahren wegen des Verfahrenshindernisses „ne bis in idem“ einzustellen (§§ 206a, 260 Abs. 3 StPO). Schwierig wird es, wenn wie hier eine zweite rechtskräftige Verurteilung erfolgt ist. Deren Aufhebung ist zum einen über die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten möglich, da eine Verfahrenseinstellung der Freisprechung gem. § 359 Nr. 5 StPO gleichsteht (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Der hier vom AG gewählte, wenn auch nicht als solcher bezeichnete Weg, stattdessen gem. § 458 Abs. 1 StPO die Unzulässigkeit der Strafvollstreckung festzustellen, wird teilweise anerkannt (OLG Koblenz NStZ 1981, 195; a.A. OLG Saarbrücken NStZ-RR 2003, 180 zu der vergleichbaren Problematik der doppelten Gesamtstrafenbildung). Aber auch das hilft hier nicht weiter und darin liegt der Fehler des AG. Diese Korrektur nach § 458 Abs. 1 StPO ist nur auf entsprechende Einwendung des Verurteilten oder seines Verteidigers zulässig. Einwendungen der StA als Vollstreckungsbehörde zugunsten des Verurteilten und damit auch der Antrag hier sind mangels Einwendungsberechtigung nicht statthaft (Meyer-Goßner/Schmitt, § 458 Rn 5, 7). Hier hätte die StA oder das Gericht nach Erhebung des „Antrags“ den Verurteilten auf das Verfahrenshindernis hinweisen sollen, um diesen zur Erhebung der Einwendung zu veranlassen. Tut er dies nicht, bleibt nur der deutlich aufwändigere Weg der Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag der StA, als welcher der hier erfolgte Antrag dann wohl auszulegen wäre (wenn auch wohl beim unzuständigen Gericht eingelegt, § 140a GVG). Allenfalls der vereinfachte Weg der sofortigen Freisprechung nach § 371 StPO wäre dann angezeigt. Der Fall zeigt wieder einmal die Notwendigkeit für den Tatrichter, durch Beiziehung aktueller BZR-Auszüge und Prüfung in der gerichtsinternen Datenbank festzustellen, ob parallele Verfahren abgeurteilt wurden oder anhängig sind.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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