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Der neue Wiederaufnahmegrund in § 362 Nr. 5 StPO

Die Neuregelung des Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungsgemäß.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Celle, Beschl. v. 20.4.20222 Ws 62/22, 2 Ws 86/22

I. Sachverhalt

Nach Freispruch Zuordnung der DNA-Spuren

Der Beschwerdeführer (Bf) wurde 1983 vom Vorwurf des Mordes und der Vergewaltigung an einer 17 Jahre alten Frau im Jahr 1981 rechtskräftig freigesprochen. Erst im Jahr 2012 konnten in aufgefundenem Spurenmaterial DNA-Spuren dem Bf zugeordnet werden. Die StA hat beim LG die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich des Mordvorwurfs und den Erlass eines Haftbefehls beantragt. Das LG hat die Wiederaufnahme gestützt auf § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt und Haftbefehl erlassen. Die (sofortige) Beschwerden blieben erfolglos.

II. Entscheidung

Verfassungsmäßigkeit des neuen § 362 Nr. 5 StPO

Die Wiederaufnahme des Verfahrens sei zutreffend erfolgt. Insbesondere sei die mit dem „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021 (BGBl I 2021, S. 5252) eingeführte und am 30.12.2021 in Kraft getretene Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO mit dem im Grundgesetz in Art. 103 Abs. 3 geregelten Verbot der Doppelbestrafung vereinbar. Das aus Art. 103 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach vorbehaltlos folgende Verbot der Mehrfachverfolgung gelte nicht absolut oder unbegrenzt. Das BVerfG (BVerfGE 56, 22 = NJW 1981, 1433) habe insoweit klarstellend ausgeführt, dass die Bezugnahme von Art. 103 Abs. 3 GG auf den bei Inkrafttreten des GG geltenden Stand des Prozessrechts nicht bedeute, dass das überlieferte Verständnis des Ne-bis-in-indem-Grundsatzes für jede auftauchende Zweifelsfrage bereits eine verbindliche Auslegung durch die Rechtsprechung bereithalte. Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO schränke den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 3 GG nicht in unzulässiger Weise ein. Das Rechtsstaatsprinzip stehe nicht entgegen. Vielmehr sei die schuldangemessene Bestrafung schweren Unrechts auf der Grundlage einer zutreffenden Tatsachenermittlung das Kernanliegen des Strafrechts und ein Gebot der Rechtstaatlichkeit. Der neue Wiederaufnahmegrund erfasse besonders gefährliche und verwerfliche Angriffe gegen das Leben als das vom GG als höchstes anerkanntes Rechtsgut sowie schwerste, die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührende Verbrechen. Auch bestehe kein Widerspruch zum Völkerrecht oder der EMRK. Der neue Wiederaufnahmetatbestand füge sich auch in die Regelung der weiteren Wiederaufnahmegründe in § 362 Nrn. 1–4 StPO ein. Die Neuregelung genüge auch dem allgemeinen, verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Bestimmtheitsgrundsatz. Das verfassungsrechtlich garantierte Rückwirkungsverbot werde durch die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO ebenfalls nicht verletzt. Das BVerfG hat insofern keine Einschränkung vorgenommen, soweit von der Rückwirkung auch bereits verjährte Taten betroffen sein könnten. Vielmehr habe es ausdrücklich für zulässig erachtet, rückenwirkend an bereits verjährte Taten aus überragenden Gemeinwohlbelangen nachteilige Rechtsfolgen zu knüpfen, weil der Unrechtscharakter der Tat durch die fehlende Verfolgbarkeit nicht verlorengehe (BVerfGE 156, 354, Rd. 159 = NJW 2021, 1222 = StRR 4/2021, 25 [Deutscher]). Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO verstoße schließlich auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.

Wiederaufnahme und Untersuchungshaft in diesem Fall

Das DNA-Vergleichsgutachten sei ein neues Beweismittel. Hieraus ergäben sich dringende Gründe für die Täterschaft des Bf. Dem stehe nicht entgegen, dass der Geschlechtsverkehr mit dem Opfer, bei dem das Spurenmaterial entstanden ist, möglicherweise mangels Gewalt oder Drohung keine Vergewaltigung gewesen sei und daher kein Mord zur Verdeckung einer Straftat vorgelegen habe. Die Gründe für die Aufrechterhaltung der Anordnung der Untersuchungshaft lägen weiterhin vor. Es bestehe bei dem Bf der Haftgrund der Schwerkriminalität gem. § 112 Abs. 3 StPO. Der erhebliche Zeitablauf seit der Tat stehe dem nicht entgegen. Es sei nicht auszuschließen, dass sich der Bf dem Strafverfahren durch Flucht entziehen werde.

III. Bedeutung für die Praxis

Das BVerfG wartet

Formelle Rechtskraft contra materielle Gerechtigkeit. Die Vorschriften zur Wiederaufnahme des Verfahrens (allg. hierzu Burhoff, ZAP F. 22. S. 1065) sollen hier einen Ausgleich schaffen. Der zum 30.12.2021 neu eingeführte § 362 Nr. 5 StPO verschiebt dabei die Waagschale in Richtung materieller Gerechtigkeit (näher zur Begründung BT-Drucks 19/30399). Der vorliegende Fall war insbesondere auf intensives Betreiben des Vaters des Opfers konkreter Auslöser der neuen Regelung (https://www.welt.de/vermischtes/article158281312/1981-wurde-Frederike-ermordet-Ihr-Vater-kaempft-bis-heute.html). Das OLG Celle hält in seinem umfangreichen, detailliert begründeten und daher hier aus Platzgründen nur stark gekürzt wiedergegebenen Beschluss diese Vorschrift für verfassungsgemäß (zu dieser kontroversen Frage statt vieler u.a. Arnemann, StraFo 2021, 442; Leitmeier, StV 2021, 341; Lenk, StV 2022, 118; Gerson, StV 2022, 124) und die Anwendung hier für zutreffend. Ob in diesem Fall oder in einem anderen: Früher oder später wird das BVerfG abschließend die Verfassungsmäßigkeit der neuen Norm zu bewerten haben. Der Beschluss des OLG Celle könnte insofern allerdings eine Blaupause sein.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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