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Verhältnismäßigkeitsanforderungen bei Durchsuchung beim Nichtverdächtigen

1. Die Entscheidung über die Bekanntgabe der Gründe einer Durchsuchungsanordnung betrifft nicht eine „Durchsuchung“ selbst i.S.d. § 304 Abs. 5 StPO, sondern die Art und Weise deren Vollzugs. Insoweit ist eine Beschwerde zum Bundesgerichtshof nicht statthaft.

2. Zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung gegen einen nichtverdächtigen Betroffenen – Vorrangiges Herausgabeverlangen nach § 95 StPO und Einräumung einer Abwendungsbefugnis.

(Leitsätze des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 18.11.2021StB 6 u. 7/21

I. Sachverhalt

Ermittlungsverfahren wegen Mordes

Gegen den Beschuldigten S ist ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Mordes (§ 211 StGB) anhängig. In dem hat u.a. der Ermittlungsrichter des BGH am 24.11.2020 die Durchsuchung der von dem Beschwerdeführer/Zeugen genutzten Wohn- und Nebenräume, eines auf ihn zugelassenen Kraftfahrzeugs, seiner Person und seiner Sachen nach näher umschriebenen potentiellen Beweismitteln, mit Beschluss vom 28.1.2021 die Durchsuchung eines weiteren auf den Betroffenen/Zeugen zugelassenen Kraftfahrzeugs angeordnet. Die Beschlüsse sind am 28.1.2021 vollzogen worden. Die Durchsicht der sichergestellten Beweismittel – vorwiegend Datenträger – dauert noch an.

Beschwerde

Entsprechend der Verfügung des Ermittlungsrichters des BGH vom 25.1.2021 sind dem Zeugen bei Vollzug der Durchsuchungen zunächst lediglich Beschlussausfertigungen ohne Gründe ausgehändigt worden, um eine andernfalls drohende Gefährdung des Untersuchungszweckes zu vermeiden. Die Zurückstellung der Benachrichtigung war zunächst auf einen Monat ab Vollzug der Maßnahme befristet, ist dann aber mehrfach jeweils um einen Monat verlängert worden, letztmals bis zum 28.9.2021. Die Zustellung der vollständigen Beschlussgründe an den Zeugen hat der GBA sodann am 28.9.2021 veranlasst. Im Anschluss daran ist dem Zeugen Gelegenheit eingeräumt worden, im Beschwerdeverfahren ergänzend vorzutragen. Die Rechtsmittel des Zeugen hatten keinen Erfolg. Der BGH nimmt insbesondere zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung gegen einen nichtverdächtigen Betroffenen Stellung:

II. Entscheidung

Nach Auffassung des BGH stehen die Durchsuchungsanordnungen zum Grad des Tatverdachts und zur Bedeutung und Schwere der aufzuklärenden Straftat in einem angemessenen Verhältnis; sie waren insbesondere erforderlich.

Allgemein zur Verhältnismäßigkeit

Eine Zwangsmaßnahme müsse zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein. Das sei dann nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete, in jedem Verfahrensstadium das jeweils mildeste Mittel anzuwenden (BVerfG NJW 2012, 2096). Die Durchsuchung bei einem Nichtbeschuldigten, der durch sein Verhalten auch aus der Sicht der Ermittlungsbehörden keinen Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben habe, stellt über die allgemeinen Erwägungen hinaus erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (BVerfG NJW 2009, 2518 m.w.N.). Deshalb sei nichtverdächtigen Betroffenen zumindest vor der Vollstreckung der Zwangsmaßnahme in der Regel Gelegenheit zur freiwilligen Herausgabe des sicherzustellenden Gegenstandes zu geben (MüKo-StPO/Hauschild, § 103 Rn 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 103 Rn 1a; SSW-StPO/Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn 9; KMR/Hadamitzky, StPO, 94. Lfg., § 103 Rn 9; LG Kaiserslautern NStZ 1981, 438, 439; LG Mühlhausen wistra 2007, 195, 197; LG Saarbrücken NStZ 2010, 534, 535; LG Dresden NZI 2014, 236, 237; LG Hamburg, Beschl. v. 18.9.2018 – 608 Qs 26/18; enger: LR/Tsambikakis, StPO, 27. Aufl., § 103 Rn 8; SK-StPO/Wohlers/Jäger, 5. Aufl., § 103 Rn 16, die eine Durchsuchung ohne vorherige Aufforderung generell für rechtswidrig halten). Diese Abwendungsbefugnis sei regelmäßig in die Anordnungsentscheidung aufzunehmen (anders: SSW-StPO/Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn 9; KMR/Hadamitzky, StPO, 94. Lfg., § 103 Rn 9; differenzierend: LG Hamburg a.a.O.). Abhängig von den sich aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen ergebenden tatsächlichen Umständen, insbesondere der Kooperationsbereitschaft bzw. -pflicht des Adressaten der Maßnahme (vgl. MüKo-StPO/Hauschild, § 103 Rn 16; LG Potsdam JR 2008, 260, 261; LG Dresden NZI 2014, 236, 237 zur Mitwirkungspflicht des unverdächtigen Insolvenzverwalters), könne es im Einzelfall sogar geboten sein, anstelle einer Durchsuchungsanordnung ein Herausgabeverlangen nach § 95 StPO als sanktionsfähige strafprozessuale Maßnahme vordringlich in Betracht zu ziehen. Ein solches könne sich insbesondere dann als gleich geeignet, indes weniger beeinträchtigend erweisen, wenn Gewissheit herrsche, dass sich ein beschlagnahmefähiger Beweisgegenstand im Gewahrsamsbereich eines herausgabepflichtigen Adressaten befindet, es zur Erlangung des Gegenstandes nicht auf einen Überraschungseffekt ankommt, die Maßnahme erfolgversprechend ist, das Gebot der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegensteht und weder ein das Ermittlungsverfahren bedrohender Verlust der begehrten Sache zu befürchten ist noch etwaige Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen sind (vgl. BVerfG NJW 1994, 2079, 2080 f.; LG Bonn NStZ 1983, 327 f.; LG Saarbrücken NStZ 2010, 534, 535; LG Dresden NZI 2014, 236, 237; vgl. SSW-StPO/Hadamitzky, 4. Aufl., § 103 Rn 9). Denn in diesem Fall würde schon das Erscheinen von Ermittlungsbeamten beim Herausgabepflichtigen eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung seiner Rechte darstellen (vgl. Bittmann, NStZ 2001, 231, 232). Umgekehrt könne die Gewährung einer Abwendungsbefugnis im Ausnahmefall dann entbehrlich sein, wenn sich aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen Tatsachen ergeben, aus denen zu schließen sei, dass der Betroffene zur freiwilligen Mitwirkung nicht bereit sei und Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen seien. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Beweismittel nur der Gattung nach bestimmt werden können und begründeter Anlass zu der Vermutung besteht, der Pflichtige täusche die Ermittlungsbehörden durch die bewusste Herausgabe nur eines Teils der beweiserheblichen Gegenstände.

Konkreter Fall

Gemessen an diesen Maßstäben waren nach Auffassung des BGH die Durchsuchungsanordnungen erforderlich; die Ermittlungsbehörde sei nicht auf das mildere Mittel eines Herausgabeverlangens nach § 95 StPO zu verweisen. Mit Blick auf das bisherige Verhalten des Zeugen im Ermittlungsverfahren musste diesem durch den Ermittlungsrichter auch keine Abwendungsbefugnis eingeräumt werden. Der Betroffene habe schon frühzeitig signalisiert, nicht bereit zu sein, bei den Ermittlungen mitzuwirken, weil er „kein Spitzel der Polizei“ sein wolle. Seiner Vorladung zur Zeugenvernehmung sei er zunächst nicht nachgekommen. Unmittelbar nach seiner Vernehmung habe er den Beschuldigten aufgesucht und beteuert: „Wenn alle dichthalten, kommt eh nichts raus.“

III. Bedeutung für die Praxis

Angesichts des Verhaltens des Zeugen zutreffend

Seit Längerem mal wieder etwas vom BGH zur Durchsuchung beim Nichtverdächtigen. M.E. ist die Entscheidung angesichts des Verhaltens des Zeugen zutreffend (zur Verhältnismäßigkeit bei der Durchsuchung s.a. Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 1818 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Aus neuerer Zeit kann dann noch verwiesen werden auf LG Stuttgart, Beschl. v. 4.11.2021 – 6 Qs 9/21. Das LG hat in dem Beschluss ebenfalls zu den Anforderungen an die Anordnung der Durchsuchung bei Dritten i.S.v. § 103 StPO, und zwar bei Rechtsanwälten, Stellung genommen.

RA Detlef Burhoff, R iOLG a.D., Leer/Augsburg

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