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Schmähkritik/Beleidigung – Causa Künast

Die Fachgerichte sind auch bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik nicht davon entbunden, die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen.

(Leitsatz des Verfassers)

BVerfG, Beschl. vom 19.12.20211 BvR 1073/20

I. Sachverhalt

Ausgangsgeschehen

Auf einem Internetblog stellte dessen Inhaber Ende Oktober 2016 unter dem Titel „Renate Künast findet Kinderficken ok, solange keine Gewalt im Spiel ist“ das Bild von Renate Künast ein mit folgendem, scheinbar ein Zitat von ihr darstellenden Text: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“ Hintergrund war die im Jahr 2015 noch einmal aufgekommene Debatte betreffend die Haltung der Partei Die Grünen zur Pädophilie in den 1980er Jahren. So berichtete etwa die Zeitung DIE WELT am 24.5.2015 über den Inhalt des Berichts der „Kommission zur Aufarbeitung der Haltung des Landesverbandes Berlin von Bündnis90/Die Grünen zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ sowie über einen Zwischenruf von Renate Künast im Berliner Abgeordnetenhaus am 29.5.1986. Während eine Abgeordnete der Grünen über häusliche Gewalt sprach, stellte ein Abgeordneter der Regierungskoalition die Zwischenfrage, wie die Rednerin denn zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. Anstelle der Rednerin rief laut Protokoll des Abgeordnetenhauses Renate Künast: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“

Veröffentlichung auf Facebook

Renate Künast nahm den Bloginhaber wegen seines ursprünglichen Eintrags auf Unterlassung in Anspruch und verlangte ein Schmerzensgeld. Daraufhin veröffentlichte der Bloginhaber Anfang 2019 auf seiner Facebookseite den folgenden Text: „Wegen genau dieses Postings zerrt mich Renate Künast und ihre Anwaltskanzlei vor Gericht. Deren Anwälte wollen erst mal 15.000 EUR angebliches Schmerzensgeld, obwohl der Prozess vor dem AG in Halle noch nicht mal begonnen hat. Selbst die WELT hat über ihre skandalösen Äußerungen berichtet! Auf Blog verlinkt.“

Kommentare von Facebook-Nutzern

Es folgt das Bild von Renate Künast mit dem aus dem ursprünglichen Blogbeitrag bekannten Text, der kein zutreffendes Zitat einer Äußerung von ihr ist. Im April und Mai 2019 reagierten zahlreiche Facebook-Nutzer auf diese Veröffentlichung und kommentierten sie ihrerseits wie folgt (es folgen die allein verfahrensrelevanten Auszüge): „Pädophilen-Trulla“; „Die alte hat doch einen Dachschaden, die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch“; „Mensch … was bist Du Krank im Kopf!!!“; „Die ist Geisteskrank“; „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“; „Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet“; „Die sind alle so krank im Kopf“; „Gehirn Amputiert“; „Kranke Frau“; „D… F…“; „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“.

KG lehnt Auskunft ab

In der Folge begehrte Renate Künast die Gestattung der Auskunftserteilung über die Bestandsdaten dieser Facebook-Nutzer nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a.F. Das LG Berlin und das KG lehnten die Gestattung der Auskunftserteilung ab. Das KG führte u.a. aus, es verkenne zwar keineswegs, dass es sich um erheblich ehrenrührige Herabsetzungen der Beschwerdeführerin handele. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben sei aber festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand des § 185 StGB nicht überschritten sei. Denn es liege kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung vor, und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts erreiche kein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des Kontexts lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Beschwerdeführerin erschienen. Die Annahme, es verbleibe nur ein herabsetzender Charakter der Äußerungen, trage dem Kontext nicht hinreichend Rechnung. Der Sachbezug werde nicht aufgehoben, weil er mit schlechtem Benehmen einhergehe. Ausführungen zu einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter finden sich in der Entscheidung des KG nicht.

II. Entscheidung

BVerfG hebt auf

Das BVerfG hat die Entscheidungen des LG Berlin und des KG aufgehoben. Die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts seien durch das BVerfG bereits entschieden. Dies gelte namentlich für den Einfluss des Grundrechts auf die Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Vorschriften der §§ 185 ff. StGB. Die angegriffenen Entscheidungen genügten aber nicht den durch das BVerfG aufgestellten Anforderungen.

Erheblich ehrenrührige Herabsetzungen

Zutreffend erkenne das KG, dass es sich bei den verfahrensgegenständlichen Bezeichnungen der Beschwerdeführerin um erheblich ehrenrührige Herabsetzungen handelt. Der durch das KG formulierte Obersatz, es liege kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung (Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung bzw. Schmähkritik) vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Renate Künast erreiche nicht ein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des konkret zu berücksichtigenden Kontextes lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Antragstellerin erscheinen, belege indes, dass das Kammergericht unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon ausgeht, eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB liege aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vor, wenn die streitgegenständliche Äußerung „lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung“ zu verstehen sei.

„Pädophilen-Trulla“

Dieses Fehlverständnis hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Beleidigungstatbestands setze sich bei den Ausführungen des Fachgerichts zur Äußerung „Pädophilen-Trulla“ fort. Zwar deute das KG die Notwendigkeit einer Abwägung an, wenn es feststellt, dass wegen der widerstreitenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen die persönlichkeitsrechtlichen Belange der Nutzer gegeneinander abzuwägen seien. Verfassungsrechtlich fehlerhaft knüpfe es die Voraussetzungen der Beleidigung sodann aber an die Sonderform der Schmähkritik an. Es stelle entscheidend darauf ab, eine Schmähkritik und ein Wertungsexzess lägen nicht vor, weil die auf die Einstellung und geistige Verfassung der Beschwerdeführerin bezogenen Kommentare noch einen hinreichenden Bezug zur Sachdebatte aufwiesen, im Rahmen derer die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer damaligen Äußerung in den Fokus geraten sei. Die sodann angekündigte Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin nehme das Kammergericht jedoch nicht vor. Das KG wiederhole lediglich einen fehlerhaften, mit dem Persönlichkeitsrecht der von ehrenrührigen Äußerungen Betroffenen unvereinbaren Maßstab an, wenn es annimmt, eine strafrechtliche Relevanz erreiche eine Äußerung erst dann, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine. Über die wiederholte Betonung des Sachbezuges, der in der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis vorrangig seine Berechtigung als Merkmal zur Abgrenzung einer – abwägungsfreien – Schmähung von einer abwägungspflichtigen Beleidigung hat, hinaus nehme das KG auch nachfolgend keine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen vor. Die rechtliche Würdigung der Bezeichnung ende in der ebenfalls nur die Schmähkritik in den Blick nehmenden Feststellung, wonach in Anbetracht des zwingend zu berücksichtigenden Kontextes, in dem die Äußerung stehe, der Betitelung als „Pädophilen-Trulla“ auch unter Berücksichtigung der ehrverletzenden Komponente nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Sachbezug nicht abgesprochen werden könne.

Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls

Ungeachtet der im Ausgangsverfahren vertretenen Auffassung von Renate Künast, dass es sich bei der Äußerung „Pädophilen-Trulla“ um Schmähkritik handele, sei das Fachgericht bei Nichtvorliegen einer besonderen Anforderungen unterworfenen Schmähkritik nicht davon entbunden, die einfache Beleidigung, die eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen erfordert, in Betracht zu ziehen und zu prüfen. Vorliegend habe sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetze, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liege eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin. Bereits dieser – praktisch vollständige – Abwägungsausfall müsse zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führen.

Fehlerhafte Maßstabsbildung

Infolge fehlerhafter Maßstabsbildung mangele es ebenfalls an der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen im Rahmen der rechtlichen Würdigung der Äußerung „Sie wollte auch Mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“. Die vom Fachgericht begründungslos verwendete Behauptung, die Beschwerdeführerin müsse den Angriff als Politikerin im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, ersetze die erforderliche Abwägung nicht, bei der auch zu berücksichtigen wäre, dass ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern auch im öffentlichen Interesse liegt.

Weitere Abwägung fehlt

Für alle weiteren verfahrensgegenständlichen Äußerungen habe das KG ebenfalls eine Abwägung unterlassen. Es vertritt die Ansicht, die zuvor gemachten Ausführungen gälten gleichfalls für diese Äußerungen. Die etwaige Kritik trete nicht derart in den Hintergrund, dass nur noch ein herabsetzender Charakter verbleibe. Die Äußerungen seien ungehörig, überzogen, respekt- und distanzlos; der Bezug zu einer Sachauseinandersetzung werde aber nicht deshalb komplett aufgehoben, weil er mit schlechtem Benehmen einhergehe. Diese Ausführungen des Kammergerichts belegen nach Auffassung des BVerfG erneut, dass es die Frage, ob bei den verfahrensgegenständlichen Äußerungen der für die datenschutzrechtliche Beauskunftung notwendige Straftatbestand des § 185 StGB einschlägig ist, rechtsfehlerhaft am Sonderfall der Schmähkritik beantwortet. Es misst das Vorliegen des § 185 StGB in verfassungsrechtlich relevanter Weise am falschen Maßstab und unterlässt die notwendige Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung der Facebook-Nutzer. Dieser wird dadurch von vornherein die Möglichkeit genommen, zivilrechtliche Ansprüche wegen einer Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts durchsetzen zu können.

III. Bedeutung für die Praxis

Gerichte machen es sich ggf. zu einfach

Die Entscheidung des BVerfG zeigt: Gerichte machen es sich manchmal nicht nur bei der Bejahung strafbarer Beleidigung zulasten von Amtsträgern zu einfach. Das BVerfG verdeutlicht unmissverständlich: Schmähkritik ist ein eng umgrenzter Ausnahmefall, bei dessen Vorliegen es keiner Abwägung der gegenläufigen Interessen im öffentlichen Meinungskampf mehr bedarf. Wird Schmähkritik jedoch verneint, findet die eigentliche Abwägung erst statt – und sie ist unverzichtbar. Für die praktische Strafverteidigung bedeutet dies, dass der Beschuldigte nicht in der Sicherheit gewogen werden darf, er sei am Ende des Tages zwingend freizusprechen, bloß weil es an Schmähkritik fehle.

FA StR/VerkR Heiko Urbanzyk, Coesfeld

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