Beitrag

Die Vergütung des Pflichtverteidigers als notwendiges Element eines fairen Verfahrens

I.

Einführung

Beantragt der Verteidiger für seinen Mandanten seine Bestellung zum Pflichtverteidiger, kommt bei etlichen Gerichten beinahe reflexartig der Verdacht auf, er wolle sich zu Lasten der Staatskasse bereichern. Während noch laufender Verfahren wird dies (womöglich im Hinblick auf § 24 StPO) eher selten offen ausgesprochen, wohingegen nach Abschluss des Verfahrens, wenn es um die Zulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung geht (hierzu ausführlich Burhoff/Hillenbrand, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3669 ff. [nachfolgend Burhoff/Hillenbrand, EV]), als wesentliches Gegenargument immer wieder angeführt wird, die Verteidigerbestellung erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (s. die Nachw. bei Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3680). Auch würde eine nachträgliche Beiordnung nicht mehr dem Zweck der Sicherung einer Verteidigung dienen (LG Bielefeld, Beschl. v. 6.10.2021 – 2 Qs 354/21). Damit wird aber die Finanzierung der Verteidigung auch bei Mittellosigkeit des Angeklagten zu dessen Privatsache bzw. zu einem persönlichen Problem des Verteidigers erklärt, um dessen Behebung er sich selbst kümmern müsse.

Die nachfolgenden Ausführungen zeigen auf, dass diese Sichtweise der Bedeutung und dem Zweck der Pflichtverteidigung nicht gerecht wird und überdies auch mit den der Reform des Beiordnungsrechts 2019 zugrunde liegenden europäischen Bestimmungen nicht in Einklang steht.

II.

Meinungsstand zur nachträglichen Beiordnung

Die Zulässigkeit der rückwirkenden Verteidigerbestellung ist seit Jahren stark umstritten. In der Rechtsprechung der AG und LG hat sich jedoch nach der Reform des Beiordnungsrechts 2019 eine inzwischen h.M. herauskristallisiert: Hiernach ist die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig, d.h. vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Antrag aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden und von ihm nicht beeinflussbaren, insbesondere justizinternen Gründen wesentlich verzögert wurde bzw. unterblieb. Die hierzu inzwischen ergangene Vielzahl von Entscheidungen kann hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden; es wird verwiesen auf die umfassenden Rechtsprechungsnachweise bei Burhoff, StraFo 2021, 486 und bei Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3676 f., jew. auch zur Gegenauffassung (weitere Rspr. zudem auf www.burhoff.de). Der bei den LG/AG h.M. sind mittlerweile mit dem OLG Bamberg (Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19) und dem OLG Nürnberg (Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20, StraFo 2021, 71 = StRR 1/2021, 21) auch zwei Obergerichte beigetreten.

Abschließend entschieden ist der Streit damit allerdings noch nicht, andere OLG und ihnen folgend einige Instanzgerichte sprechen sich auch nach der Reform 2019 weiterhin gegen die Zulässigkeit nachträglicher Beiordnungen aus (OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20 u. 20/20, NStZ 2020, 625 = StRR 12/2020, 25; OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21, StRR 6/2021, 19; OLG Bremen, Beschl. v. 23.9.2020 – 1 Ws 120/20, NStZ 2021, 253 = StRR 12/2020, 25; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20, StraFo 2020, 486) oder haben die Frage bislang offengelassen (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 22.11.2021 – 1 Ws 278/21).

III.

Die Bedeutung der Verteidigervergütung

1. Um die Frage nach der Bedeutung der Pflichtverteidigervergütung beantworten zu können, ist zunächst der Zweck der Pflichtverteidigung selbst in den Blick zu nehmen; bereits hieraus ergibt sich, dass die Vergütung durchaus eine Rolle spielen muss. § 140 StPO, der die Beiordnungsvoraussetzungen regelt, sichert nämlich auch das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 140 Rn 1 [nachfolgend Meyer-Goßner/Schmitt]) und auch haben muss. Die Mitwirkung des Verteidigers dient also eben nicht lediglich den Verteidigungsbelangen des Beschuldigten im Einzelfall oder gar nur dem persönlichen anwaltlichen Gebühreninteresse, sondern soll außerdem ein faires Verfahren sichern (LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21, StRR 11/2021, 17).

Diesem Zweck wird zunächst gedient, wenn der Verteidiger möglichst frühzeitig bestellt wird und dem Beschuldigten so zeitnah ein Beistand zur Verfügung steht. Dies hat auch der Gesetzgeber gesehen und das in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO verankerte Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. Dieses schreibt vor, dass der Verteidiger unverzüglich nach Stellung des Beiordnungsantrags zu bestellen ist. Ein Zuwarten mit der Verbescheidung des Antrags ist unzulässig (Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3652 m.w.N.) und erst recht besteht kein Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung fiskalischer Interessen (LG Bonn, Beschl. v. 6.12.2021 – 67 Qs 63/21). Die Nichtverbescheidung rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge ist mithin gesetzeswidrig. Zurecht haben daher etliche Gerichte die Zulässigkeit der nachträglichen Beiordnung u.a. mit Verstößen gegen das Unverzüglichkeitsgebot begründet (im Einzelnen hierzu Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3676 m.w.N.).

2. Die frühzeitige Beiordnung allein genügt indes noch nicht, um ein faires Verfahren zu sichern. Vielmehr lässt sich dies nur erreichen, wenn der Pflichtverteidiger nicht nur formal bestellt, sondern darüber hinaus auch praktisch in die Lage versetzt wird, seinen Aufgaben ordnungsgemäß nachzukommen. Zwar wird dies durch seine Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege und die durch die StPO garantierten Verfahrensrechte abgesichert, jedoch kann, wenn Verfahrensrechte nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern effektiv ausgeübt werden sollen, die Finanzierung der Verteidigung nicht außen vor bleiben. Eine effektive Verteidigung ist nur dann möglich, wenn der Pflichtverteidiger für seine Mitwirkung am Verfahren (einigermaßen) ausreichend vergütet wird. Nach zutreffender Ansicht sind deshalb auch die Bedürfnisse mittelloser Beschuldigter, denen trotz fehlender Mittel für die Beauftragung eines Wahlverteidigers ein Rechtsbeistand zur Verfügung stehen muss, in den Blick zu nehmen (vgl. LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20, StRR 1/2021, 30; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 Rn 20).

Ist der Verteidiger nämlich wirtschaftlich nicht in der Lage, die Verteidigung sachgerecht und mit dem gebotenen Aufwand zu führen, droht eine Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes des Beschuldigten (so zutr. AG Kempten, Beschl. v. 27.8.2019 – 12 Gs 1887/19, StRR 10/2019, 2). Müsste er trotz Vorliegens der Beiordnungsvoraussetzungen sowie einer rechtzeitigen Antragstellung befürchten, letzten Endes für seine u.U. durchaus zeitintensive Tätigkeit (man denke z.B. nur an die Erforderlichkeit von Besuchen des in anderer Sache inhaftierten Mandanten in der JVA) keine Vergütung zu erhalten – zumal aufgrund von Umständen, die ausschließlich (!) die Justiz zu verantworten hat –, bestünde die Gefahr, dass der Pflichtverteidiger nicht in gleichem Maße für seinen Mandanten tätig werden wird, wie dies ein Wahlverteidiger für einen solventen Mandanten tun würde (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19; AG Heidelberg, Beschl. v. 6.12.2021 – 6 Gs 21/21; AG Stuttgart, Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20, StRR 1/2021, 30). Dass dies vermieden werden muss, liegt auf der Hand.

Der Gefahr eines verkürzten Rechtsschutzes kann wirksam nur durch die Zulassung einer rückwirkenden Bestellung begegnet werden (OLG Bamberg a.a.O.; LG Halle, Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/21, StRR 6/2021, 2 [Ls.]). Nur auf diese Weise ist sichergestellt, dass der Beschuldigte nicht durch verfahrensfehlerhaftes Vorgehen der Justiz Nachteile erleidet und der Verteidiger in die Lage versetzt wird, sein Pflichtmandat so auszuüben, wie es der Beschuldigte erwarten darf und wie es zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens auch erforderlich ist, ohne am Ende einen wirtschaftlichen Schaden davonzutragen. Es ist daher mitnichten verfahrensfremd, die Verteidigervergütung in die Erwägungen zur Frage einer nachträglichen Beiordnung einzubeziehen (so aber LG Düsseldorf, Beschl. v. 21.4.2021 – 12 Qs 9/21).

3. a) Dies gilt verstärkt seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (BGBl I, S. 2128) am 13.12.2019. Nach Art. 4 der den Neuregelungen zugrunde liegende sog. Prozesskostenhilferichtlinie (Richtlinie [EU] 2016/1919 v. 26.10.2016) haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die Richtlinie hatte also nicht nur die formale Bestellung eines Verteidigers im Blick, sondern auch die finanziellen Grundlagen der Verteidigung (so u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19; OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20, StraFo 2021, 71 = StRR 1/2021, 21; LG Frankenthal, Beschl. v. 2.2.2021 – 1 Qs 16/21; LG Gera, Beschl. v. 31.3.2021 – 11 Qs 96/21, StRR 5/2021, 2 [Ls.] u. Beschl. v. 10.11.2021 – 11 Qs 309/21). Darüber hinaus verlangt Art. 6 der PKH-Richtlinie, dass Entscheidungen über die Bewilligung oder Ablehnung von Prozesskostenhilfe und über die Bestellung von Rechtsbeiständen unverzüglich zu treffen sind.

b) Wenngleich der deutsche Gesetzgeber von der durch die Richtlinie eröffneten Möglichkeit, eine Bedürftigkeitsprüfung einzuführen, keinen Gebrauch gemacht hat, hat das System der Pflichtverteidigung insoweit doch Prozesskostenhilfefunktion (Schoeller, StV-S 2021, 159, 163): Der Beschuldigte soll nicht durch monetäre Gründe davon abgehalten werden, von seinem Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers ggf. schon in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens Gebrauch zu machen (LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020 – 3 Qs 35/20). Dieser Zweck würde jedoch unterlaufen, wenn die Verteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber in gesetzwidriger Weise (Unverzüglichkeitsgebot!) verzögert oder überhaupt nicht getroffen wurde (OLG Bamberg a.a.O.; LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21, StRR 11/2021, 17; Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 Rn 20). Zudem würde dem Beschuldigten so die ihm vom Gesetzgeber durch die Einräumung eines Rechtsmittels gegen eine negative Beiordnungsentscheidung gewährte Überprüfungsmöglichkeit entzogen (Burhoff, StraFo 2021, 486, 492).

c) Neu ist dies freilich nicht: In Art. 6 Abs. 3c EMRK war bereits vor der Reform der Pflichtverteidigung das Recht eines Beschuldigten aufgeführt, bei Mittellosigkeit den – unentgeltlichen – Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Sein Kosteninteresse war also bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts der Pflichtverteidigung nicht belanglos (vgl. LG Bremen, Beschl. v. 17.8.2020 – 3 Qs 221/20; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20, StRR 1/2021, 30). Darüber hinaus hat auf nationaler Ebene das BVerfG ebenfalls anerkannt, dass die Pflichtverteidigung eine staatliche Fürsorge für den vermögenslosen Beschuldigten darstellt (BVerfGE 110, 226, 261; weitere Nachw. zur Rspr. des BVerfG bei Schoeller, a.a.O.).

IV.

Interesse der Rechtspflege

1. Soweit die in Art. 4 der PKH-Richtlinie vorgesehene Einschränkung, dass die Finanzierung der Verteidigung nur dann sichergestellt werden muss, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, dahingehend interpretiert wird, ein solches Interesse bestehe bereits deshalb nicht, weil das Verfahren beendet sei (OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21, StRR 6/2021, 19; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20, StraFo 2020, 486; LG Braunschweig, Beschl. v. 21.10.2021 – 4 Qs 299/21) oder scheide aus, weil die Verteidigung für das abgeschlossene Verfahren nicht mehr von Bedeutung sei (vgl. LG Bielefeld, Beschl. v. 6.10.2021 – 2 Qs 354/21), kann dem nicht gefolgt werden.

Dies zeigt ein Blick in die EMRK: Dort wird das Merkmal „Interesse der Rechtspflege“ bei der Auslegung des insoweit wortgleichen Art. 6 Abs. 3c EMRK als Interesse der Verfahrensgerechtigkeit verstanden, nicht aber als Interesse der die Tat ahndenden Rechtspflege (vgl. MüKo-StPO/Gaede, 1. Aufl. 2018, Art. 6 EMRK Rn 208 f.). Dieser Maßstab muss auch im Recht der Pflichtverteidigung gelten: Die Verfahrensgerechtigkeit ist zu gewährleisten, was nur dann der Fall ist, wenn dem Beschuldigten unverzüglich nach Antragstellung ein Verteidiger bestellt wird und dieser in die Lage versetzt wird, das Mandat ohne wirtschaftliches Risiko zu führen. Den Beschuldigten stattdessen trotz rechtzeitiger Antragstellung und ungeachtet des Vorliegens der Beiordnungsvoraussetzungen des § 140 StPO unverteidigt zu lassen und dann das Verfahren später abzuschließen, ist ersichtlich nicht gerecht. Erst recht stellt es kein anerkennenswertes Interesse der Rechtspflege dar, Pflichtverteidigerkosten so gering wie möglich zu halten.

Darüber hinaus ist es nicht im Interesse der Rechtspflege, europarechtliche Vorgaben unbeachtet zu lassen. Bei der Auslegung des Begriffs einzubeziehen ist deshalb, dass die PKH-Richtlinie in Art. 4 die finanziellen Belange des mittellosen Beschuldigten ausdrücklich im Blick hatte und überdies in Art. 6 eine unverzügliche Verbescheidung von Beiordnungsanträgen verlangt. Beides wird rundheraus ignoriert, wenn Anträge nicht bearbeitet werden. Die praktische Wirksamkeit („effet utile“) der Richtlinie kann daher nur durch die nachträgliche Beiordnung gesichert werden (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2021 – 12 Qs 22/21).

Richtig verstanden besteht das Interesse der Rechtspflege daher in der Durchführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens und der Einhaltung der Verfahrensrechte und -grundsätze, nicht in einer möglichst schnellen und kostengünstigen Beendigung des einzelnen Verfahrens. Dieses Interesse ist von den Gerichten zu schützen und steht nicht zu deren Disposition oder gar im Belieben einzelner Spruchkörper.

2. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nebenklägerin hat dies das BVerfG bereits 1997 (NStZ-RR 1997, 69, 70) in nicht zu überbietender Deutlichkeit klargestellt: Dort war ein rechtzeitig gestellter und entscheidungsreifer Antrag der Nebenklägerin erst nach einem bereits abgehaltenen Termin zur Hauptverhandlung verbeschieden und eine rückwirkende Beiordnung abgelehnt worden, was das BVerfG als Verstoß gegen das Willkürverbot angesehen hat. Die Versagung einer rückwirkenden Gewährung von Prozesskostenhilfe sei unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar, da der Nebenklägerin ein Risiko übertragen würde, das dem Sinn der gesetzlichen Regelung strikt zuwiderläuft.

Ebenso hat auch der BGH argumentiert und eine nachträgliche Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausnahmsweise für zulässig erachtet für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.2021 – 5 StR 222/20, StRR 6/2021, 2 [Ls.] m.w.N.). Für den Anspruch des mittellosen Beschuldigten auf den Beistand eines Pflichtverteidigers kann nichts anderes gelten (Schoeller, StV-S 2021, 159, 164). Auch hier würde beim Ausschluss rückwirkender Bestellungen dem Beschuldigten in einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Weise ein von ihm nicht zu verantwortendes Kostenrisiko auferlegt. Es sind daher keine Gründe dafür ersichtlich, weshalb für die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe andere Voraussetzungen gelten sollten als für die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers (OLG Bamberg, Besch. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19; LG Kiel, Beschl. v. 16.9.2021 – 1 Qs 72/21).

Von einer an sich gebotenen Verteidigerbestellung kann vielmehr nur in den dort abschließend aufgezählten Fällen des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO abgesehen werden, also dann, wenn an sich eine Beiordnung von Amts wegen angezeigt wäre. Im Falle einer Antragstellung durch den Beschuldigten ist § 141 Abs. 2 S. 3 StPO dagegen nicht einschlägig (so zuletzt LG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2021 – 17 Qs-40 Js 4738/21). Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift über die dort genannten Anwendungsfälle hinaus kommt in Ermangelung einer planwidrigen Regelungslücke nicht in Betracht (Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3677 m.w.N.). Nach alledem hat das Gericht keine Befugnis, das Interesse der Rechtspflege an einem rechtsstaatskonformen Verfahren durch reine Untätigkeit ins Leere laufen zu lassen.

4. Ein Interesse der Rechtspflege kann deshalb im Falle einer rechtzeitigen Antragstellung und des Vorliegens der Beiordnungsvoraussetzungen des § 140 StPO nicht verneint werden. Vielmehr fehlt es hieran nur dann, wenn § 140 StPO nicht greift, der Antrag also auch bei rechtzeitiger Verbescheidung keinen Erfolg gehabt hätte. Nur wenn wegen der geringen Bedeutung des Falles und der vollständig erhaltenen Fähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, keine Notwendigkeit für die Mitwirkung eines Verteidigers besteht, muss der Beschuldigte das sich aus der Beauftragung eines Wahlverteidigers ergebende Kostenrisiko selbst tragen.

RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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