In Auslieferungsverfahren löst die Teilnahme des Rechtsbeistands an Terminen zur Vernehmung des Verfolgten vor dem AG nach den §§ 21, 22 oder 28 IRG auch nach Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) keine Terminsgebühr nach Nr. 6102 VV RVG aus. (Leitsatz des Gerichts)
OLG Hamburg, Beschl. v. 16.2.2021 – Ausl 35/20
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war gem. § 40 Abs. 1 und Abs. 2 IRG bestellter Beistand des Verfolgten im Auslieferungsverfahren. In dieser Eigenschaft hat er an zwei Terminen beim AG teilgenommen. Im Termin am 16.5.2020 hat der Ermittlungsrichter am AG den Rechtsanwalt als Rechtsbeistand bestellt und den Verfolgten nach §§ 22 Abs. 2, 28 Abs. 2 IRG vernommen und belehrt. In dem Termin hat der Verfolgte weder zu seinen persönlichen Verhältnissen noch zum Tatvorwurf Angaben gemacht sowie keine Erklärung abgegeben, ob Einwendungen gegen seine Auslieferung erhoben werden. Es wurde eine Festhalteanordnung gegen den Verfolgten verkündet. Am 19.5.2020 hat das OLG einen Auslieferungshaftbefehl gegen den Verfolgten erlassen, der dem Verfolgten am 20.5.2020 im Beisein seines Rechtsbeistands vor dem AG verkündet wurde. In diesem Termin machte der Verfolgte kurze Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen und erklärte, die Tatvorwürfe seien falsch, er wolle nicht nach Polen ausgeliefert werden.
Der Rechtsanwalt hat für seine Teilnahme an den Terminen die Festsetzung einer Terminsgebühr nach Nr. 6102 VV RVG beantragt. Diese ist vom UdG nicht festgesetzt worden. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Rechtsanwalts hatte keinen Erfolg.
II. Entscheidung
Das OLG meint, dass auch nach Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) die Teilnahme des Rechtsbeistands an Terminen zur Vernehmung des Verfolgten vor dem AG nach den §§ 21, 22 oder 28 IRG keine Terminsgebühr nach Nr. 6102 VV RVG auslöse. Das OLG verweist dazu zunächst auf die einhellige Auffassung der Oberlandesgerichte zur bisherigen Rechtslage, wonach anerkannt sei, dass im Auslieferungsverfahren ein Termin vor dem Richter beim AG – sei es zur Entscheidung über eine Festhalteanordnung, sei es zur Verkündung eines Haftbefehls – eine Terminsgebühr nicht auslöse (vgl. dazu die Nachweise bei Volpert, in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 6102 VV Rn 6, wie die OLG auch Hartmann/Toussaint, Kostenrecht, 49. Aufl., VV RVG 6102 Rn 7; Kroiß, in: Mayer/Kroiß, RVG, 7. Aufl., Nrn. 6100–6102 VV Rn 4; a.A. OLG Jena, Beschl. v. 14.5.2007 – 1 Ws 122/07). Dafür spreche bereits der Wortlaut der einschlägigen Norm. Die Terminsgebühr Nr. 6102 VV RVG entstehe für die Teilnahme an gerichtlichen Terminen „je Verhandlungstag“. Das Ergebnis der Wortlautauslegung werde durch eine systematische Betrachtung durch einen Vergleich mit der Regelung der Vergütung eines Verteidigers für dessen Teilnahme an einem Termin zur Verkündung eines die Untersuchungshaft anordnenden Haftbefehls gestützt. Das Fehlen einer Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG entsprechenden Regelung für die Teilnahme an „richterlichen Vernehmungen und Augenscheinseinnahmen“ in den Regelungen für das Verfahren nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen zeige, dass der Gesetzgeber hier gerade kein generelles Anfallen einer Terminsgebühr für die Teilnahme an gerichtlichen Terminen außerhalb von Verhandlungsterminen anordnen wollte.
Die Gegenansicht (OLG Jena, a.a.O.; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl., VV 6100–6102 Rn 7; Schneider, in: Riedel-Sußbauer, RVG, 10. Aufl., VV 6100–6102 Rn 8; Burhoff/Volpert/Volpert, a.a.O., Nr. 6102 VV RVG Rn 7; v. Seltmann, BeckOK-RVG, 50. Ed., VV 6101–6102 Rn 13 ff.), nach der auch Termine vor dem Amtsgericht nach §§ 21, 22, 28 IRG die Terminsgebühr nach Nr. 6102 VV RVG auslösen, könne nicht überzeugen. Insbesondere könne sie nicht auf den Wortlaut der Vorbemerkung 6 Abs. 3 VV RVG gestützt werden. Hiernach entstehe „die Terminsgebühr … für die Teilnahme an gerichtlichen Terminen, soweit nichts anderes bestimmt ist“. Hinsichtlich des Verfahrens nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Abschnitt 1) werde durch die Regelung in Nr. 6102 VV RVG dadurch etwas anderes bestimmt, dass Terminsgebühren nur für Verhandlungstage anfallen. Der Rechtsbeistand im Auslieferungsverfahren wäre zudem gegenüber dem Verteidiger in allgemeinen Strafsachen ohne sachlichen Grund bessergestellt
Soweit diese Ansicht auf die Bedeutung abstelle, die der Entscheidung des Verfolgten in diesen Terminen über eine Erklärung des Einverständnisses mit einer vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) gemäß §§ 21 Abs. 6, 22 Abs. 3 S. 3, 28 Abs. 3 IRG mit weitreichenden Folgen zukommt (OLG Jena, a.a.O. Rn 18; Oehmichen, FD-StrafR 2018, 400418), sei diese seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24.11.2020 (C-510/19) entscheidend gemindert. Nachdem nämlich der Europäische Gerichtshof entschieden habe, dass der Begriff der „vollstreckenden Justizbehörde“ i.S.v. Art. 6 Abs. 2 RB-EuHB eine Staatsanwaltschaft, die unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden kann, nicht umfasse, unterliege die von der Generalstaatsanwaltschaft vorzunehmende Bewilligungsentschließung nach §§ 79, 83a IRG einer gerichtlichen Überprüfung. Vor diesem Hintergrund sei die Tragweite der Einverständniserklärung mit der vereinfachten Auslieferung überschaubar, da – auch ohne Durchführung des förmlichen Auslieferungsverfahrens (vgl. § 41 Abs. 1 IRG) – nunmehr in jedem Fall eine oberlandesgerichtliche Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung und der Bewilligungsentscheidung erfolge.
Das OLG sieht im Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Dieses Gesetz habe der Umsetzung der sog. PKH-Richtlinie (EU) 2016/1919 gedient. Zentraler Aspekt sei die Stärkung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, indem zur Gewährleistung von dessen Effektivität beschuldigten und gesuchten Personen die Unterstützung eines – jedenfalls vorläufig – durch die Mitgliedsstaaten finanzierten Rechtsbeistands zur Verfügung gestellt wird (BT-Drucks 19/13829, S. 1). Kostenrechtliche Aspekte der Rechtsbeistandschaft seien hingegen nicht Regelungsgegenstand. Der Gesetzgeber habe demgemäß mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung zahlreiche Änderungen u.a. in der StPO, der BRAO, dem IRG, dem OWiG und auch dem RVG vorgenommen. Die Gesetzesänderung des RVG habe die anwaltliche Vergütung selbst indes nicht berührt. Der Reformgesetzgeber habe die Formulierung des Gebührentatbestandes für die Terminsgebühr in Auslieferungssachen unverändert gelassen. Die in der Literatur (Volpert, in: Burhoff, a.a.O.; Oehmichen, a.a.O.) nach der bisherigen Rechtslage thematisierte und für geboten gehaltene gesetzliche Klarstellung, dass Nr. 6012 VV RVG auch Termine nach §§ 21, 22, 28 IRG erfasse, sei weder im Rahmen des 2. KostRMoG vom 23.7.2013 (BGBl I, S. 2586) noch nunmehr im Rahmen der Umsetzung der „PKH-Richtlinie“ (Richtlinie 2016/1919) erfolgt. Insbesondere sei keine Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG entsprechende Regelung für die Teilnahme an „richterlichen Vernehmungen“ in Nr. 6102 VV RVG aufgenommen. Der Gesetzgeber habe trotz der nunmehr statuierten notwendigen Rechtsbeistandschaft bei einer Festnahme der verfolgten Person (§ 40 Abs. 2 IRG) offensichtlich keine entsprechende kostenrechtliche Regelung in Nr. 6102 VV RVG – ein generelles Anfallen einer Terminsgebühr für die Teilnahme an gerichtlichen Terminen außerhalb von Verhandlungsterminen – schaffen wollen. Die Nrn. 6101 und 6102 VV RVG seien in Kenntnis der Rechtsprechung der OLG zum Anwendungsbereich der Nr. 6102 VV RVG vielmehr unverändert belassen worden. Soweit die Gesetzesänderung auch inhaltliche Änderungen der §§ 40, 53 IRG und die Neueinführung des § 83j IRG bewirkt habe, hätten – so das OLG – diese keine Auswirkungen auf das Kostenrecht. Maßgeblich sei auch hier der Grundgedanke der PKH-Richtlinie, dem Verfolgten frühzeitig einen Rechtsbeistand zu gewähren, was das OLG im Einzelnen darlegt.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Es war zu erwarten, dass sich der Streit um den Anfall der Nr. 6102 VV RVG zum alten Recht nach dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) fortsetzen würde. M.E. ändern die umfangreichen Ausführungen des OLG, die hier nur verkürzt wiedergegeben sind, aber nichts daran, dass die Ansicht, die in den dargestellten Fällen keine Terminsgebühr Nr. 6102 VV RVG gewährt, nach wie vor falsch ist. M.E. hat die Literatur (zum alten Recht) überzeugend dargelegt, warum und weshalb auch in den Fällen dem Beistand eine Terminsgebühr zusteht. Daran hat sich nichts geändert. Und das gilt erst recht, wenn man die Ziele der gesetzlichen Neuregelung mit einbezieht, nämlich dem Verfolgten – ebenso wie dem Beschuldigten im Strafverfahren – möglichst früh und immer einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen. Diese Ziele konterkariert das OLG, wenn es darauf abstellt, dass die gebührenrechtlichen Vorschriften nicht geändert worden sind.
2. M.E. ist diese Konstellation ein weiterer Fall von gesetzgeberischem Versäumnis. Denn: Ich kann nicht einerseits in Umsetzung der PKH-Richtlinie immer mehr und immer früher anwaltlichen Beistand propagieren und festschreiben, andererseits dann aber nicht dafür sorgen, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts in Form der Teilnahme an solchen Terminen auch ausreichend honoriert wird. Das wird gerade bei der vom OLG zur Stützung seiner Auffassung angeführten Rechtsprechung zur Nr. 4102 Anm. 1 Nr. 3 VV RVG deutlich und eben auch hier. Es wäre längst an der Zeit, dass sich an den Stellen endlich etwas tut und klargestellt wird, dass diese Tätigkeiten mit einer Terminsgebühr honoriert werden. Das würde solche „Eiertänze“ wie hier vermeiden und endlich damit Schluss machen, dass die OLG sowohl bei der Nr. 6102 VV RVG als auch bei der Nr. 4102 VV RVG vom Verteidiger/Rechtsanwalt Rechtsschutz zum Nulltarif fordern. Im Übrigen: Auch die OLG könnten sich bewegen und endlich über ihre Schatten springen und den Begriff der „Verhandlung“ weiter sehen, als sie es bisher tun. Aber das ist bei anwaltlichen Gebühren wohl zu viel verlangt.
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg