Beitrag

Pflichtverteidiger auch beim Jugendschöffengericht nach neuem Recht

Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG n.F. i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. liegen auf jeden Fall vor, wenn zum Jugendschöffengericht angeklagt ist. Maßgebend ist allein, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. genannten Gerichte stattfinden wird. (Leitsatz des Verfassers)

LG Saarbrücken,Beschl.v.11.2.2020–3 Qs 11/20

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Angeklagte und den Mitangeklagten Anklage zum AG – Jugendschöffengericht – wegen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung erhoben. Die mittlerweile 17 Jahre alte Angeklagte war zum Tatzeitpunkt 16 Jahre alt. Der Auszug aus dem BZR weist für die Angeklagte zwei Einträge aus. Bei einem der Verfahren wurde nach § 45 Abs. 1 JGG von der Verfolgung abgesehen. Mit rechtskräftigem Urteil des AG wurden in dem anderen Verfahren der Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl Arbeitsleistungen auferlegt. Der Mitangeklagte ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und ist zuletzt rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Das AG hat dem Mitangeklagten einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Das AG hat zudem die Anklage der StA gegen beide Angeklagte zugelassen und das Hauptverfahren vor dem AG – Jugendschöffengericht – eröffnet. Der (Wahl-)Verteidiger der Angeklagten hat beantragt, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit Verfügung vom 9.1.2020 hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts darauf hingewiesen, dass kein Fall der notwendigen Verteidigung bei der Angeklagten vorliege, da die Anklage lediglich im Hinblick auf die Vorstrafensituation des Mitangeklagten zum Jugendschöffengericht erhoben worden sei. Nachdem der Verteidiger der Angeklagten erklärt hat, dass an dem Beiordnungsantrag festgehalten werde, hat das AG den Antrag der Angeklagten abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 68 Nr. 5 JGG sei nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren eine im Verhältnis zu § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO speziellere Regelung im Jugendstrafrecht. Die Verweisungsnorm des § 68 Nr. 1 JGG sei wegen der spezielleren Regelung in § 68 Nr. 5 JGG einschränkend dahingehend auszulegen, dass § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gerade nicht in Bezug genommen werde. Auch gelte die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nur für denjenigen Angeklagten, dessentwegen Anklage zum Jugendschöffengericht erhoben worden sei. Mitangeklagte, denen eine solche Rechtsfolge nicht drohe, da sie nur aufgrund der Umstände des Falles mitangeklagt seien, seien nicht erfasst. Dies sei der Vorschrift des § 68 Nr. 5 JGG eindeutig zu entnehmen, jedenfalls sei § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO über den Gesetzeswortlaut hinausgehend so auszulegen. Die Angeklagte hat gegen den ablehnenden Beschluss (sofortige) „Beschwerde“ eingelegt. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Das LG hat das Vorliegen der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG n.F. i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. bejaht.

Nach der Bestimmung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO i.d.F. des am 13.12.2019 in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, welches die sog. Prozesskostenhilferichtlinie (Richtlinie (EU) 2016/1919) in deutsches Recht umgesetzt hat, liege ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Schöffengericht stattfindet. Weiterer Voraussetzungen bedarf es nicht. Bereits nach der bisherigen Rechtslage sei gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. für den Fall notwendiger Verteidigung allein maßgebend gewesen, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem OLG oder dem LG stattfindet. § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. erfasste alle Verfahren, die im ersten Rechtszug vor den genannten Gerichten verhandelt wurden, und zwar auch dann, wenn diese Gerichte sachlich unzuständig waren (vgl. BeckOK-StPO/Krawczyk, 35. Ed. 1.10.2019, StPO § 140 Rn 3; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019, StPO § 140 Rn 8; KMR-StPO/Hainzmann, 62. EL, § 140 Rn 7;Lüderssen, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2007, § 140 Rn 21;Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 140 Rn 11; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, 1. Aufl. 2014, StPO § 140 Rn 12; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl. 2020, § 140 Rn 12). Entscheidend sei ausschließlich die tatsächliche Verhandlung bzw. der Anklageadressat und nicht die formelle Zuständigkeit für die erste Instanz (gewesen) (vgl. MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, a.a.O.).

In gleicher Weise finde die Bestimmung in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. Anwendung, wonach die Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht eingeschränkt, sondern in zeitlicher und sachlicher Hinsicht erweitert werden sollten. Ausgangspunkt für die Beurteilung sei danach nicht mehr das Hauptverfahren, sondern bereits das Ermittlungs- und das Zwischenverfahren (vgl. BT-Drucks 19/13829, S. 32). In sachlicher Hinsicht bleibe aber die rein tatsächliche Beurteilung maßgebend, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem der in § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. genannten Gerichte stattfinden wird (vgl. BT-Drucks 19/13829, a.a.O.). Dabei gehe der Gesetzgeber davon aus, dass immer dann, wenn Anklage zu einem der genannten Gerichte erhoben worden ist, die Erwartung im Sinne der Nr. 1 grundsätzlich gegeben ist (BT-Drucks 19/13829, a.a.O.). Die Beurteilung erfolgt im Zwischenverfahren aus Sicht des Gerichts, bei dem Anklage erhoben ist, wobei die Erwartung dann entfalle, wenn das Gericht zur Auffassung gelange, dass das Verfahren vor einem nicht unter § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. genannten Gericht zu eröffnen sei (BT-Drucks 19/13829, a.a.O.).

Diese an den tatsächlichen Verfahrensumständen ausgerichtete Beurteilung gilt nach Auffassung des LG auch im Fall von § 68 Nr. 1 JGG n.F. Nach dieser Vorschrift liege ein Fall der notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde. Bereits nach § 68 Nr. 1 JGG a.F. habe die Vorschrift u.a. auf § 140 Abs. 1 StPO a.F. verwiesen (vgl. BeckOK-JGG/Noak, 15. Ed. 1.11.2019, JGG § 68 Rn 19;Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl. 2015, § 68 Rn 9;Eisenberg, JGG, 20. Aufl. 2018, JGG § 68 Rn 21;Ostendorf, JGG, 10. Aufl. 2016, § 68 Rn 7). Auch in diesem Zusammenhang sei es nach alter Rechtslage ausschließlich darauf angekommen, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor einem höheren Gericht als dem AG stattfindet, mithin war nicht entscheidend, ob die Zuständigkeit in zutreffender Weise angenommen worden sei (vgl.Eisenberg, a.a.O.).

Hieran habe sich auch durch das am 17.12.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, das der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 vom 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, diene, nichts geändert (vgl. BT-Drucks 19/13837, S. 27). Die Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 68 JGG und § 140 Abs. 1 StPO vom Gesetzgeber selbst abstrakt festgelegt (BT-Drucks 19/13837, a.a.O.). In diesen Fällen der vom Gesetz bestimmten notwendigen Verteidigung könne nicht von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand abgewichen werden (BT-Drucks 19/13837, a.a.O.).

Auch vermittelt die Bestimmung des § 68 Nr. 5 JGG n.F. keinen ausschließenden Vorrang vor der Regelung in § 68 Nr. 1 JGG. Gegen eine solche Annahme spreche bereits die Systematik der Bestimmung. Sowohl in der bisherigen Fassung als auch in der aktuellen Fassung sei die Aufzählung in den Nummern 1 bis 5 alternativ („oder“). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung. Auch Sinn und Zweck sprächen dafür, § 68 Nr. 5 JGG n.F. keine Vorrangstellung gegenüber § 68 Nr. 1 JGG n.F. einzuräumen. Denn durch den Verweis des § 68 Nr. 1 JGG n.F. auf § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. soll der Beschuldigte im Jugendstrafverfahren den gleichen Schutz wie ein Erwachsener genießen. Komme es aber bei einem Erwachsenen – wie dargelegt – bei einem Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. nicht auf die Straferwartung, sondern auf den Umstand an, dass zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht stattfinde, so könne im Jugendstrafverfahren über § 68 Nr. 1 JGG n.F. nichts anderes gelten.

III. Bedeutung für die Praxis

1. Eine der ersten veröffentlichten Entscheidungen eines LG zum neuen § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO (vgl. zum neuen Recht der PflichtverteidigungHillenbrand, StRR 2/2020, 4 und 3/2020, 4), die sich dahin zusammenfassen lässt: Schöffengericht i.S.d. Vorschrift ist auch das Jugendschöffengericht. Und: Aus § 68 Nr. 5 JGG folgt nichts anderes. Das hat das LG überzeugend begründet.

2. Als Verteidiger muss man darauf achten, dass sich die Art des einzulegenden Rechtsmittels gegen ablehnende Entscheidungen geändert hat. Während früher die Beschwerde nach § 304 StPO zulässig war, ist es jetzt nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO n.F. die sofortige Beschwerde. Auf die einwöchige Beschwerdefrist ist zu achten. Dies vor allem auch deshalb, weil es sonst im Hinblick auf § 336 Satz 2 StPO mit einer Überprüfung der Ablehnungsentscheidung schwierig werden könnte. Man wird abwarten müssen, wie sich die OLG und der BGH in der Frage positionieren.

RADetlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…