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Fortbestand der Anschlussbefugnis des Nebenklägers auch bei Freispruchantrag

Die Befugnis, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, entfällt nicht dadurch, dass der Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) des Angeklagten in Zweifel ziehende Anträge stellt und letztlich dessen Freispruch erstrebt. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 1.9.2020 – 3 StR 214/20

I. Sachverhalt

Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, im Alter von 14 Jahren versucht zu haben, seine schlafenden Pflegeeltern zu erstechen, und sie dabei erheblich verletzt zu haben. Diese hatten bereits vor der Anklageerhebung erklärt, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen. Daraufhin hat das LG sie im Eröffnungsbeschluss als anschlussberechtigt angesehen.

Nachdem die Nebenkläger in der Hauptverhandlung eine Vielzahl von Anträgen gestellt hatten, die neben den Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB insbesondere die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten nach § 3 JGG zum Gegenstand hatten, hat die Strafkammer den Beschluss über die Zulassung der Nebenklage aufgehoben und die Nebenkläger am folgenden Verfahren nicht mehr beteiligt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Nebenkläger erkennbar das Ziel verfolgten, einen Freispruch des Angeklagten zu erreichen, und es in einem solchen Fall auch für den in § 395 Abs. 1 bis 3 StPO genannten Personenkreis an einer Anschlussbefugnis fehle. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Nebenkläger, der das LG nicht abgeholfen hat, hat das OLG als prozessual überholt und eine eigene Entscheidung als nicht veranlasst angesehen.

Inzwischen hat das LG den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen wenden sich der Angeklagte und die Nebenkläger mit ihren Revisionen.

II. Entscheidung

Der BGH hat das Verfahren an das LG zurückgegeben. Eine Entscheidung des Senats über die Rechtsmittel sei derzeit nicht möglich, da den Nebenklägern das Urteil und die Revisionsschrift des Angeklagten bislang nicht zugestellt worden sei. Nach Auffassung des BGH ist das aber erforderlich, da die Anschlussberechtigung der Nebenkläger weiter fortbestehe.

Der Senat habe die Anschlussberechtigung der Nebenkläger ohne Bindung an bisherige Entscheidungen als Verfahrensvoraussetzung für das Rechtsmittelverfahren zu prüfen (vgl. BGHSt 41, 288, 289 m.w.N.; BGH NStZ-RR 2020, 91; BT-Drucks 10/5305, S. 13). Hier sei die Berechtigung zur Nebenklage nach den gegebenen Umständen gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 JGG eröffnet. Die Befugnis, sich der erhobenen öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen, entfalle auch nicht dadurch, dass die Nebenkläger in der Hauptverhandlung die Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) und die strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) des Angeklagten in Zweifel ziehende Anträge gestellt und letztlich dessen Freispruch erstrebt haben.

Der Gesetzeswortlaut sehe in § 80 Abs. 3 S. 1 JGG ebenso wie in § 395 Abs. 1 StPO als Voraussetzung für die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger lediglich vor, durch eine dem jeweiligen Straftatenkatalog unterfallende rechtswidrige Tat – gegebenenfalls mit besonderer Opferbetroffenheit (§ 80 Abs. 3 S. 1 JGG a.E.) – verletzt zu sein. Dass der Nebenkläger darüber hinaus ein bestimmtes Ziel erstreben muss oder eine zunächst berechtige Nebenklage je nach Verfahrensziel unzulässig wird, sei dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.

Für den BGH ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang nichts anderes. Eine Begrenzung der Nebenklägern nach § 397 StPO zustehenden Verfahrensrechte zu mit Blick auf den verfolgten Zweck sei nicht normiert. Soweit die Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers nach § 400 StPO eingeschränkt sei (vgl. dazu BT-Drucks 10/5305, S. 15), handele es sich um konkret gefasste Sonderregelungen. Aus diesen einen Rückschluss auf die grundlegende Nebenklagebefugnis zu ziehen, sei nicht möglich. Vielmehr seien die Berechtigungen zum Anschluss und zur Einlegung von Rechtsmitteln getrennt zu betrachten. Im Übrigen ist selbst in einem Fall, in dem ein Nebenkläger einen Freispruch des Angeklagten hinnehme, eine zulässige Rechtsmitteleinlegung möglich, wenn diese auf eine auch dem Schutz des Nebenklägers dienende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB abziele (s. BGH NStZ 1995, 609, 610). Ferner komme den Formulierungen, dass sich der „Nebenkläger“ der öffentlichen Klage „anschließen“ könne, angesichts der diesem eigenständig gewährten Verfahrensrechte im hier zu beurteilenden Zusammenhang ebenfalls keine entscheidende Bedeutung zu. Eine Verpflichtung des Nebenklägers, die Anklage zu vertreten und daran etwa noch ungeachtet der Erkenntnisse der Hauptverhandlung festzuhalten, ergebe sich daraus nicht (vgl. etwa zu einem zulässigen Antrag auf Freispruch OLG Schleswig NStZ-RR 2000, 270, 272).

Der Zweck der Nebenklage spreche gleichfalls nicht für deren Beschränkung. Der Nebenkläger solle eine umfassende, in erster Linie dem Verletztenschutz dienende Beteiligungsbefugnis im gesamten Verfahren mit der Möglichkeit erhalten, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen, durch Erklärungen, Fragen, Anträge und gegebenenfalls Rechtsmittel auf das Verfahrensergebnis einzuwirken (BT-Drucks 10/5305, S. 11), seine Sicht der Tat und der erlittenen Verletzungen einzubringen und seine Interessen aktiv zu vertreten (BT-Drucks 16/3640, S. 54). In welcher Weise der (etwaig) Verletzte seine Belange am besten geschützt sehe, unterliege infolge seiner Stellung als ein mit selbstständigen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter (BT-Drucks 10/5305, S. 14) regelmäßig seiner eigenen Einschätzung.

Insgesamt besteht die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger demnach unabhängig davon fort, ob die Nebenkläger einen Freispruch des Angeklagten wegen fehlender Reife oder Schuldfähigkeit zum Ziel haben (anders dagegen im Allgemeinen – zumeist ohne tiefergehende Erörterung – Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 395 Rn 1; KK/Walther, StPO, 8. Aufl., § 396 Rn 5; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., Vorbemerkungen Vor § 395 Rn 2; MüKo-StPO/Valerius, § 395 Rn 39; SSW-StPO/Schöch, 4. Aufl., § 396 Rn 6; KMR/Kulhanek, StPO, 88. EL, § 395 Rn 16; demgegenüber SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 395 Rn 17 f.; Altenhain, JZ 2001, 791 ff.; Daimagüler, Der Verletzte im Strafverfahren, 2016, Rn 232; ohne Festlegung Eisenberg/Kölbel, JGG, 21. Aufl., § 80 Rn 16c). Dieses Ergebnis stehe – so der BGH – mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH in Einklang, der beispielsweise in einem Fall, in dem die Nebenklägerin die Aufhebung eines Urteils zugunsten des aus ihrer Sicht zu Unrecht verurteilten Angeklagten beantragte, die Revision zwar als unzulässig ansah, ihr aber nicht zugleich die Anschlussbefugnis absprach (s. BGHSt 37, 136 f.).

III. Bedeutung für die Praxis

1. Der BGH entscheidet mit dem zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen Beschluss eine Streitfrage in Rechtsprechung und Literatur (vgl. die o.a. Nachweise) pro Nebenklage. M.E. ist das Ergebnis im Hinblick darauf, dass die gegenteilige Auffassung dazu führen würde, dass immer geprüft werden müsste, ob die Nebenklagezulassung noch berechtigt ist, zutreffend. Hinzu kommt, dass der Nebenkläger es ja auch als ausreichend ansehen kann, nur am Verfahren beteiligt zu sein, und es ihm nicht unbedingt auf eine Bestrafung des Angeklagten ankommt, was hier offensichtlich der Fall gewesen zu sein scheint.

2. Ergebnis dieser Auffassung ist, dass die Anschlussbefugnis nicht weggefallen ist, sondern ununterbrochen fortbesteht und somit die Nebenkläger am Revisionsverfahren zu beteiligen waren. Weil die Strafkammer den Nebenklägern aber weder die Revisionsschrift des Angeklagten (§ 347 Abs. 1 S. 1 StPO) noch – trotz der eigenen Revisionseinlegung – das Urteil (§ 345 Abs. 1 S. 2 StPO) zugestellt hatte, ist die Sache zur entsprechenden Nachholung zurückgegeben worden.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg

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