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Grenzüberschreitende Wärmedämmung nach Nachbarrecht

BGH, Urt. v. 1.7.2022 V ZR 23/21

I. Der Fall

Die Parteien, Nachbarn benachbarter Grundstücke, streiten um die Duldung eines Überbaus. Die Klägerin möchte die seit 1906 nicht mehr sanierte Giebelwand, die auf der Grenze zum Grundstück der Beklagten steht, mit einer Wärmedämmung versehen. Deshalb nimmt sie die Beklagte auf Duldung eines hängenden Gerüstes für drei Monate und das Betreten ihres Daches zwecks Durchführung der Sanierungs- und Wärmedämmungsarbeiten in Anspruch. Ihre Klage hatte in den Tatsacheninstanzen Erfolg. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision.

II. Die Entscheidung

Das Rechtsmittel blieb ohne Erfolg.

Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln

Zwar bestehen erhebliche Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln, wonach die nachträgliche grenzüberschreitende Anbringung einer Dämmung gestattet ist. Denn die grundrechtlich geschützten Interessen des Nachbarn, der den Überbau zu dulden hat, werden in weit geringerem Maße geschützt als in anderen Nachbarrechtsgesetzen. So fehlt eine Regelung, wonach dessen Grundstück nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt werden darf, ebenso ein Maximalmaß der Überbauungstiefe. Auch sieht § 16a NachbarG Bln eine Duldungspflicht nicht nur für den Fall vor, dass eine vergleichbare Wärmedämmung nicht auf anderer Weise mit vergleichbarem Aufwand erfolgen kann. Schließlich wird die Möglichkeit des Überbaus nicht von der Zulässigkeit der verwendeten Baustoffe abhängig gemacht. Derartige Einschränkungen können auch nicht unter Rückgriff auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“ oder im Wege verfassungskonformer Auslegung ergänzt werden. Denn der Landesgesetzgeber hat die Duldungspflicht unter Ablehnung eines abweichenden Entwurfs bewusst nicht von derartigen Einschränkungen abhängig gemacht. Eine Vorlage an das BVerfG kommt aber nicht schon bei Bedenken an der Verfassungskonformität eines Gesetzes in Betracht, sondern nur dann, wenn das Gericht von seiner Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Das ist hier nicht der Fall. Denn die Interessen des betroffenen Nachbarn werden nicht gänzlich ausgeblendet. So kann er nach § 16a Abs. 2 NachbarG Bln die Beseitigung des Überbaus verlangen, soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen will. Ferner wird dem Begünstigten in § 16a NachbarG Bln auferlegt, die Wärmedämmung in einem ordnungsgemäßen und funktionsgerechten Zustand zu erhalten. Schließlich ist das Überbaurecht so zügig und schonend wie möglich auszuüben. Überdies verfolgt § 16a NachbarG Bln ein dem Wohl der Allgemeinheit dienendes Ziel, dem ebenfalls über das aus Art. 20a GG abgeleitete Klimaschutzgebot Verfassungsrang zukommt. In der Gesamtschau erscheint es daher möglich, dass § 16a NachbarG noch als verhältnismäßig anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund ist die Duldungspflicht der Beklagten, deren Voraussetzungen nach § 16a NachbarG das Berufungsgericht zu Recht als erfüllt angesehen hat, nicht zu verneinen.

III. Der Praxistipp

Die Entscheidung ist naturgemäß auch für die Nachbarrechtsregelungen der anderen Bundesländer bedeutsam. Nach diesen Maßstäben sind sie erst recht verfassungskonform, wenn sie die Interessen des betroffenen Nachbarn (weit) stärker schützen als § 16a NachbarG Bln. Zudem erteilt der V. Zivilsenat BGH der Ergänzung vermeintlich unvollständiger Normen zu Recht eine Absage. Dies wäre wohl auch anderweitig geboten gewesen (vgl. BGH, Urt. v. 7.5.2021 – V ZR 299/19; ZMR 2021, 680 = ZWE 2021, 325 zu § 48 WEG).

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