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Zusätzliche Verfahrensgebühr nach „abgesprochenem Strafbefehl“

Nr. 4141 VV RVG

Nr. 4141 VV ist analog auf den Fall anzuwenden, dass der Verteidiger mit der Staatsanwaltschaft noch vor Anklageerhebung vereinbart, dass ein Strafbefehl ergehen soll, der vom Beschuldigten akzeptiert wird, und das dann umgesetzt wird.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 16.1.202312 Qs 76/22
I.

Sachverhalt

Die Rechtsanwältin des Beschuldigten war Pflichtverteidigerin. Der Beschuldigte befand sich in Untersuchungshaft. Die Rechtsanwältin hat bei der Staatsanwaltschaft zum Verfahrensabschluss den Erlass eines Strafbefehls unter gleichzeitiger Aufhebung des Haftbefehls angeregt. Als Rechtsfolge hat sie eine sechsmonatige Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung vorgeschlagen. Die Staatsanwaltschaft hat den Vorschlag „angenommen“. Das Verfahren ist ohne Hauptverhandlung durch rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts mit einer siebenmonatigen Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung unter Aufhebung des Haftbefehls beendet worden.

Das AG hat auf den Vergütungsfestsetzungsantrag der Pflichtverteidigerin auch eine zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV festgesetzt. Dagegen hat die Bezirksrevisorin Erinnerung eingelegt, die das AG zurückgewiesen hat. Das AG hat zur Begründung ausgeführt, Nr. 4141 VV sei analog anzuwenden.

Hiergegen richtet sich die Bezirksrevisorin mit ihrer Beschwerde. Sie meint, es fehle an einer planwidrigen Regelungslücke. DAV und BRAK hätten im Gesetzgebungsverfahren in einem gemeinsamen Forderungskatalog vorgeschlagen, Nr. 4141 VV um folgenden Fall zu ergänzen: „4. wenn ein Strafbefehl ergeht und gegen diesen kein Einspruch eingelegt wird.“ Zur Begründung sei u.a. ausgeführt worden, dass der Wortlaut der Nr. 4141 VV diesen Fall nicht treffe, es aber dem Sinn der Vorschrift entspreche, die Vermeidung der Hauptverhandlung gesondert zu vergüten und daher eine Klarstellung im Gesetz erforderlich sei. Der Gesetzgeber habe diesen Vorschlag im 2. KostRMoG jedoch nicht übernommen. Darin liege eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers, da andere Vorschläge aus dem Forderungskatalog übernommen worden seien. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

II.

Analoge Anwendung der Nr. 4141 VV

Das LG teilt die Ansicht des AG, dass eine analoge Anwendung des Nr. 4141 VV zu erfolgen habe. Der Fall, dass sich Verteidiger und Staatsanwaltschaft noch vor Anklageerhebung darauf einigen, dass ein Strafbefehl ergehen soll, der vom Beschuldigten akzeptiert wird, sodass eine Hauptverhandlung von vornherein ausgeschlossen werde, sei in Nr. 4141 VV nicht geregelt. Allerdings liegen, so meint das LG, die Voraussetzungen einer analogen Anwendung der Vergütungsnummer vor (so auch Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl., 2021, VV 4141 Rn 33).

1.Regelungslücke

Das LG bejaht das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Der Gesetzgeber des KostRMoG habe mit der damals eingeführten Nr. 4141 VV den Grundgedanken der Regelung in § 84 Abs. 2 BRAGO übernehmen wollen, die geschaffen worden war, um intensive und zeitaufwändige Tätigkeiten des Verteidigers, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führten, gebührenrechtlich zu honorieren. Deshalb solle der Rechtsanwalt, wenn durch seine Mitwirkung eine Hauptverhandlung entbehrlich wird, nicht nur die halbe Gebühr des § 84 Abs. 1 BRAGO, sondern die volle Gebühr des § 83 Abs. 1 BRAGO erhalten. Dies habe die Neuregelung aufgegriffen, indem dem Rechtsanwalt in den genannten Fällen nun eine zusätzliche Gebühr i.H.d. jeweiligen Verfahrensgebühr zugebilligt werde. Diese Zusatzgebühr soll nach Erwartung des Gesetzgebers den Anreiz, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen, erhöhen und somit zu weniger Hauptverhandlungen führen (BT-Drucks 15/1971, 227 f.). An der Zielvorstellung, den Anreiz zu erhöhen, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen und die Zahl der Hauptverhandlungen zu senken, habe auch der Gesetzgeber des 2. KostRMoG festgehalten (BT-Drucks 17/11471, 282). Vor diesem Hintergrund erweise sich die Nichtregelung der Konstellation, dass das Verfahren auf Betreiben des Verteidigers von vornherein ins – unstreitige – Strafbefehlsverfahren gelenkt und eine Hauptverhandlung so von vornherein vermieden wird, als planwidrig.

2.Sach- und Interessenlage

Die Vergleichbarkeit der Sach- und Interessenlagen zwischen den geregelten Fällen und dem hiesigen ungeregelten Fall sei gegeben. Insbesondere weise der Fall von Anm. 1 Nr. 3 zur Nr. 4141 VV eine starke Ähnlichkeit zum hiesigen Fall auf, wobei die Mitwirkung des Rechtsanwalts unter dem Aspekt der Ressourcenschonung aufseiten der Justiz sogar noch etwas mehr wiege als im gesetzlich geregelten Fall. Während im geregelten Fall auf den Strafbefehl zunächst noch ein Einspruch erfolgt, der dann zurückgenommen wird, habe es hier mit dem Erlass des konsentierten Strafbefehls sein Bewenden. Die Ablehnung der Analogie führe demgegenüber zu Fehlanreizen: Es wäre dann für den Verteidiger gebührenrechtlich nachteilig, einen Strafbefehl auszuhandeln, der akzeptiert würde. Vielmehr erhielte er höhere Gebühren dann, wenn er nicht im Vorfeld aushandele, sondern das Gericht einen Strafbefehl erlassen lasse, gegen den er zunächst Einspruch einlegen und diesen dann ggf. zurücknehmen könne. Letzterer Fall wäre von Anm. 1 Nr. 3 zur Nr. 4141 VV direkt erfasst. Dem Gesetzeszweck, die Gerichte zu entlasten, komme das hier praktizierte Verteidigerhandeln indes näher.

3.Wille des Gesetzgebers

Der Analogie steht nach den weiteren Ausführungen des LG Nürnberg-Fürth der bewusste Wille des Gesetzgebers nicht entgegen. Die Materialien zur Gesetzgebungshistorie belegen nach Auffassung des LG nicht, dass die Konstellation bewusst nicht geregelt werden sollte. Der Gesetzesentwurf (BT-Drucks 17/11471, vgl. v.a. S. 282) gehe auf eine Erweiterung der Regelung auf Fälle, in denen eine Hauptverhandlung unterbleibt, weil sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft schon im Vorfeld auf einen Strafbefehl zur Verfahrensbeendigung einigen, nicht ein. Es handele sich dabei auch um einen anderen Fall als den, den DAV und BRAK in die Diskussion gebracht haben, nämlich dass ein Strafbefehl ergeht und gegen diesen kein Einspruch eingelegt wird. Der Vorschlag (abgedr. in AnwBl. 2011, 120, 121) habe die Konstellationen vor Augen, in denen der Verteidiger den Inhalt der Anklage mit dem zuständigen Richter bespreche und anrege, bei der Staatsanwaltschaft nachzufragen, ob mit einer Bestrafung durch Erlass eines Strafbefehls Einverständnis bestehe. Wenn dieser ergehe und rechtskräftig werde, sei durch die anwaltliche Mitwirkung die Hauptverhandlung als solche entbehrlich geworden. Hier gehe es dagegen darum, dass eine Anklageerhebung von vornherein unterbleibe. Es spreche somit nichts dafür, dass der Gesetzgeber die hiesige Fallgruppe überhaupt gesehen und bedacht habe. Nachdem die Gesetzesmaterialien hierzu nichts ausführen und nicht erkennbar sei, dass der Gesetzgeber die fragliche Konstellation bedacht habe, sehe sich die Kammer daher nicht in der Lage, sein Schweigen als beredt – i.S.d. Beschwerde – zu verstehen.

III.

Bedeutung für die Praxis

1. M.E. hat das LG die analoge Anwendung der Nr. 4141 VV auf den Fall des „abgesprochenen Strafbefehls“ überzeugend begründet (dazu a. Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O.; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Nr. 4141 VV Rn 61). A.A. sind bislang gewesen N. Schneider (DAR 2015, 771, 772 und NZV 2014, 149, 151 sowie DAR 2017, 431), der den entsprechenden Mehraufwand des Verteidigers über § 14 Abs. 1 RVG honorieren will sowie die Rspr. (vgl. LG Bad Kreuznach RVGreport 2018, 60; LG Kempen RVGreport 2018, 422; LG Mannheim RVGreport 2017, 262 = AGS 2017, 276 = DAR 2017, 430 m. zust. Anm. N. Schneider). In der Argumentation des LG fehlt nur der Hinweis auf die vergleichbare Interessenlage mit der Anm. 1 Nr. 3 zu Nr. 5115 VV im Bußgeldverfahren. Ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden vergleichbaren Fälle ist nicht ersichtlich.

2. Man darf sich allerdings nicht zu früh freuen. Denn die Sache ist noch nicht ausgestanden. Das LG hat nämlich wegen der grundsätzlichen Bedeutung die weitere Beschwerde zum OLG Nürnberg zugelassen (§ 56 Abs. 2 S. 1 mit § 33 Abs. 6, 8 S. 2 RVG). Mich würde es wundern, wenn die Staatskasse nicht die weitere Beschwerde einlegen wollte. Egal, wie das OLG entscheidet: Auf jeden Fall sollte der Gesetzgeber diesen Fall auf seine „To-do-Liste“ setzen und in einem 3. KostRMoG ausdrücklich im Sinne des LG regeln.

https://www.juris.de/perma?d=jzs-AGS-2023-2-010-74

Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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