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Erstausbildung und gesteigerte Erwerbsobliegenheit

1. Der Erstausbildung eines 45-jährigen Unterhaltspflichtigen, der seit vielen Jahren als ungelernte Kraft arbeitet, ist gegenüber der gesteigerten Unterhaltspflicht gemäß § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB zur Erfüllung des Unterhalts minderjähriger Kinder kein Vorrang einzuräumen.

2. Soweit es um die Sicherung des gesetzlichen Mindestunterhalts geht, können von bestehenden Kosten des Umgangs mit den minderjährigen Kindern lediglich tatsächlich anfallende Benzinkosten berücksichtigt werden.

OLG Bamberg, Beschl. v. 9.2.20227 UF 196/21

I. Der Fall

Die Antragsteller sind die Söhne des Antragsgegners. Beide Kinder verfügen über kein eigenes Einkommen und kein Vermögen. Sie leben im Haushalt ihrer Mutter. Diese erhält das staatliche Kindergeld. Im vorliegenden Verfahren verlangen sie Kindesunterhalt in Höhe des jeweiligen gesetzlichen Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich des jeweils hälftigen staatlichen Kindergelds.

Der Antragsgegner, der über keine Berufsausbildung verfügt, arbeitete für eine Leiharbeitsfirma. In 03/2021 verdiente er bei 161 Stunden netto 1.291,61 EUR. Der Antragsgegner beantragte Antragsabweisung mit der Begründung, er sei in Höhe des Mindestunterhalts nicht leistungsfähig. Mit seiner derzeitigen Tätigkeit erfülle er seine Erwerbsobliegenheit. Eine weitergehende Tätigkeit sei ihm aus medizinischen Gründen nicht zuzumuten. Zudem seien Aufwendungen für Fahrten zur Arbeitsstätte (Entfernung: 26 Kilometer) und erhöhte Aufwendungen für die Wahrnehmung seines Umgangsrechtes (Fahrstrecke einfach: 68 Kilometer) in voller Höhe vom Einkommen abzuziehen.

II. Die Entscheidung

Das OLG Bamberg hält die zulässige Beschwerde mit folgenden Ausführungen für teilweise begründet:

Der Antragsgegner schuldet den Antragstellern nach §§ 1601, 1603 Abs. 2 BGB pro Monat Kindesunterhalt für die Zeit ab 01/in Höhe von 165 EUR (Antragsteller zu 1) und 135 EUR (Antragsteller zu 2) sowie rückständigen Unterhalt für die Zeit vom 1.3.2021 bis 31.12.2021 in Höhe von 1.575 EUR (Antragsteller zu 1) und 1.425 EUR (Antragsteller zu 2).

Einkommen aus einer fiktiven Tätigkeit in Vollzeit

1. Entgegen den Ausführungen der Beschwerde ist es dem Grunde nach nicht zu beanstanden, dass das Familiengericht dem Antragsgegner für die Zeit ab 1.3.2021 ein Einkommen aus einer fiktiven Tätigkeit in Vollzeit zugerechnet hat.

Die für den Unterhaltsanspruch in § 1603 Abs. 1 BGB vorausgesetzte Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen wird nämlich nicht allein durch sein tatsächlich vorhandenes Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit. Reichen seine tatsächlichen Einkünfte nicht aus, so trifft ihn die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen, insbesondere seine Arbeitsfähigkeit so gut wie möglich einzusetzen und eine ihm mögliche Erwerbsfähigkeit auszuüben. Ein gemäß § 1603 Abs. 2 BGB verschärft haftender Unterhaltspflichtiger hat sich intensiv, also unter Anspannung aller Kräfte und Ausnutzung aller vorhandenen Möglichkeiten um die Erlangung eines hinreichend entlohnten Arbeitsplatzes zu bemühen. Er muss alle verfügbaren Mittel für den Unterhalt seiner Kinder verwenden, alle Erwerbsmöglichkeiten ausschöpfen und auch einschneidende Veränderungen in seiner eigenen Lebensgestaltung in Kauf nehmen, um ein die Zahlung des Mindestunterhalts sicherstellendes Einkommen zu erzielen. Bei eigener Arbeitslosigkeit hat sich der Pflichtige durch intensive Suche um eine Stelle zu bemühen. Bei Arbeitsstellen mit geringem Einkommen ist entweder eine neue Arbeitsstelle oder eine weitere Beschäftigung zu suchen, um zusätzliche Mittel zu erlangen, etwa ergänzende Gelegenheits- und Aushilfstätigkeiten.

[Ausführungen zur Darlegungs- und Beweislast des Antragsgegners]

Reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen

2. Allerdings setzt die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen stets eine reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen voraus. Schließlich darf dem Unterhaltspflichtigen auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit immer nur das Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm realistischerweise erzielt werden kann.

Mindestlohn

a) Hiervon ausgehend muss berücksichtigt werden, dass der Antragsgegner als ungelernte Kraft tatsächlich allenfalls wenig mehr als den gesetzlichen Mindestlohn hätte verdienen können. Weil er nach eigenen Angaben zuletzt aber immerhin 10,45 EUR pro Stunde verdiente, kann angenommen werden, dass er – die entsprechenden Bemühungen unterstellt – auch eine Vollzeitstelle gefunden hätte, bei der er diesen Lohn verdient hätte.

Fahrtkosten

b) Anfallende Fahrtkosten können im Hinblick auf die gesteigerte Erwerbsobliegenheit nach § 1603 Abs. 2 BGB nur mit der Pauschale in Höhe von 5 % des Einkommens, hier also einem Betrag von 70,33 EUR pro Monat, berücksichtigt werden. Grundsätzlich dürfen hohe Fahrtkosten nämlich nicht dazu führen, dass für minderjährige Kinder nicht einmal mehr der Mindestunterhalt gezahlt werden kann.

Benzinkosten

c) Zu bereinigen ist das (fiktive) Einkommen zudem um die Kosten, die dadurch anfallen, dass der Antragsgegner zweimal im Monat die Antragsteller zum Umgang abholt und zurückbringt. Unbestritten legt der Antragsgegner hierfür mit dem Pkw pro Monat 544 Kilometer zurück. Im Hinblick darauf, dass es vorliegend um den gesetzlichen Mindestunterhalt geht und zudem bei dem Fahrzeug des Antragsgegners (Baujahr 2004; Kilometerstand: 283.000) ein weiterer Wertverlust durch die Fahrten nicht zu befürchten ist, berücksichtigt der Senat insoweit allerdings allein die tatsächlich anfallenden Benzinkosten.

Nebenbeschäftigung in der Freizeit

d) Zusätzlich ist dem Antragsgegner eine Nebenbeschäftigung in der Freizeit zuzumuten, um für seine Kinder Unterhalt zahlen zu können. Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines – wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit – lediglich fiktiven Einkommens festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit im selben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner. Selbst wenn der Antragsgegner regelmäßig Umgang mit den Antragstellern pflegt, könnte er pro Woche jedenfalls einige weitere Stunden arbeiten.

3. [Berechnung der Unterhaltshöhe]

Ausübung ungelernter Tätigkeiten

4. Dass sich der Antragsgegner seit 1.9.2021 in Ausbildung befindet, ändert an den Ausführungen unter 1 und 2 nichts. Zwar ist es unterhaltsrechtlich anerkannt, dass einer Erstausbildung regelmäßig auch gegenüber der gesteigerten Unterhaltspflicht aus § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB der Vorrang einzuräumen ist, da diese zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen gehört. Allerdings gilt ausnahmsweise etwas anderes dann, wenn der Unterhaltspflichtige sich in der Vergangenheit stets auf die Ausübung ungelernter Tätigkeiten beschränkt hat. Ein solcher Ausnahmefall setzt die Ausübung ungelernter Tätigkeiten über einen längeren – mehrjährigen – Zeitraum voraus.

Erlangung einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf

Die Erlangung einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf gehört zum eigenen Lebensbedarf des Unterhaltspflichtigen, den dieser grundsätzlich vorrangig befriedigen darf. Das mag anders sein, wenn der Unterhaltspflichtige sich in der Vergangenheit stets auf die Ausübung von ungelernten Tätigkeiten beschränkt hat und sich erst später zur Aufnahme einer Berufsausbildung entschließt, obwohl sich der Anlass, seine Arbeits- und Verdienstchancen durch eine Ausbildung zu verbessern, für ihn nicht verändert hat. In derartigen Fällen wird zu prüfen sein, ob es dem Unterhaltspflichtigen nicht zuzumuten ist, die nunmehr angestrebte Ausbildung zu verschieben und ihre Aufnahme so lange zurückzustellen, bis die Kinder nicht mehr unterhaltsbedürftig sind oder mit einem etwaigen reduzierten Unterhalt, den der Unterhaltspflichtige auch während der Ausbildung zu leisten vermag, ihr Auskommen finden. Nach seinen Angaben arbeitet der Antragsgegner „seit vielen Jahren“ bzw. „schon während des Zusammenlebens der Kindeseltern“ als ungelernte Kraft. Im August 2021 wurde er 45 Jahre alt. Ein besonderer Anlass dafür, die Arbeits- und Verdienstchancen gerade nunmehr – wenige Monate nach Verfahrensbeginn – durch eine Ausbildung zu verbessern, wird vom Antragsgegner nicht behauptet und ist auch nicht ersichtlich.

III. Der Praxistipp

Die vorliegende Entscheidung bietet dem Praktiker unter Hinweis auf die diesbezügliche Rechtsprechung des BGH (FamRZ 1994, 372 und 2014, 637) Argumente sowohl gegen die Aufnahme einer Erstausbildung des Unterhaltsschuldners im Unterhaltsrechtsverhältnis gegenüber den minderjährigen Kindern, aber auch hinsichtlich der Verpflichtung des Unterhaltsschuldners zur Aufnahme einer Nebentätigkeit.

Das OLG Bamberg setzt sich insbesondere mit der Möglichkeit der Aufnahme einer Nebentätigkeit zur vollschichtigen Erwerbstätigkeit aber auch zur Umgangsausübung auseinander. Erstinstanzlich wird die Forderung der minderjährigen Unterhaltsgläubiger nach Aufnahme einer Nebentätigkeit zur vollschichtigen Erwerbstätigkeit des Unterhaltsschuldners oftmals pauschal mit dem Hinweis auf die Verpflichtung zur Umgangsausübung weggewischt. Dem stellt sich das OLG Bamberg entgegen und rechnete dem Unterhaltsschuldner fiktive Einkünfte aus einer nicht ausgeübten Nebentätigkeit zu.

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