1. Zum Vorliegen eines Verfassungsverstoßes wegen Verletzung des Grundrechts auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit, wenn in einem familiengerichtlichen Verfahren zum Kindesunterhalt einen barunterhaltspflichtigen Elternteil fiktive Einkünfte zugerechnet werden, welche er objektiv nicht erzielen kann.
2. Zwar verlangt die Vorschrift des § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB im Falle einer Unterhaltspflicht für minderjährige Kinder eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit. Gleichwohl dürfen die Gerichte nichts Unmögliches verlangen, sondern haben im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen, oder ob dieser dessen finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigt.
3. Die Prüfung der Leistungsfähigkeit verlangt zunächst die Feststellung, ob subjektive Erwerbsbemühungen des Unterhaltspflichtigen fehlen; ferner müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflicht erforderlichen Einkünfte objektiv erzielbar sein.
4. Bei Annahme fiktiver Einkünfte sind die Fachgerichte von Verfassung wegen gehalten, ihre Entscheidungsgrundlagen bei der Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt offenzulegen und somit eine Überprüfung zu ermöglichen. Ansonsten kann nicht geprüft werden, ob sie in vertretbarer Weise von einer objektiven Möglichkeit zur Erzielung hinreichender Einkünfte ausgegangen sind.
5. Entsprechende Anforderungen gelten wegen des erhöhten Eingriffsgewichts bei Annahme fiktiver Einkünfte für die fachgerichtliche Beurteilung, ob der Unterhaltspflichtige seiner Darlegungs- und Beweislast zur Einschränkung oder Aufhebung der Leistungsfähigkeit nachgekommen ist.
BVerfG, Beschl. v. 9.11.2020 – 1 BvR 697/20
I. Der Fall
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verpflichtung zur Zahlung von Kindesunterhalt unter Zurechnung fiktiver Einkünfte.
Die Beschwerdeführerin ist Mutter einer minderjährigen Tochter und eines minderjährigen Sohnes, die beide von dem von ihr getrennt lebenden Vater betreut werden. Sie hat eine Berufsausbildung als Floristin, übt diesen Beruf jedoch seit langem nicht mehr aus. Seit 07/2019 geht sie einer Teilzeitbeschäftigung mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden nach; zudem erhält sie Leistungen nach dem SGB II. Sie leidet an einer psychischen Erkrankung. Nach der in einer ärztlichen Bescheinigung geäußerten Einschätzung der sie behandelnden Fachärztin ist ihre Erwerbsfähigkeit deutlich eingeschränkt und besteht höchstens für vier Stunden täglicher Arbeitszeit bei vier Arbeitstagen pro Woche. Die Beschwerdeführerin neige dazu, ihre eigene Belastbarkeit zu überschätzen und gefährde sich dadurch selbst.
Aufgrund gerichtlicher Entscheidung wurde die Beschwerdeführerin in 04/2017 zur Zahlung von Kindesunterhalt an ihre Tochter in Höhe von 100 % des Mindestunterhalts verpflichtet. Einen 02/2019 gestellten Antrag, sie zur Zahlung des Mindestunterhalts auch an ihren Sohn zu verurteilen, lehnte das Familiengericht mit der Begründung mangelnder Leistungsfähigkeit ab. Dagegen legte der Beistand des Sohnes Beschwerde ein. Im Beschwerdeverfahren trugen die Beteiligten übereinstimmend vor, dass die Beschwerdeführerin Mutter eines weiteren minderjährigen Kindes (ihrer Tochter) sei.
Mit angegriffenem Beschl. v. 14.1.2020 änderte das Oberlandesgericht die familiengerichtliche Entscheidung ab und verpflichtete die Beschwerdeführerin, an ihren Sohn Kindesunterhalt in Höhe von 100 % des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich des hälftigen staatlichen Kindergeldes zu zahlen. Die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin sei wegen einer Verletzung ihrer gesteigerten Erwerbsobliegenheit unter Rückgriff auf fiktive Einkünfte zu ermitteln. Sie trage nicht mit hinreichender Substanz Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit beziehungsweise die Unfähigkeit zu solchen aufgrund einer Krankheit vor. Bereits gegenwärtig arbeite die Beschwerdeführerin 20 Wochenstunden und überschreite damit die ärztlich geratene Maximalgrenze von 16 Wochenarbeitsstunden. Es sei daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin ihrem Ausbildungsberuf als Floristin bis zu einer Arbeitszeit von 48 Wochenstunden nachgehen könne.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die für eine Unterhaltsverpflichtung erforderlichen Einkünfte seien für sie objektiv nicht erzielbar. Das Oberlandesgericht habe sich nicht an den persönlichen Voraussetzungen eines Rückgriffs auf fiktive Einkünfte orientiert. Auch sei die konkret erforderliche Einkommenshöhe nicht bestimmt und der Umstand, dass die Beschwerdeführerin neben dem Sohn als Antragsteller des Ausgangsverfahrens auch dessen Schwester zur Leistung von Kindesunterhalt verpflichtet sei, nicht gewürdigt worden.
II. Die Entscheidung
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde führt der Senat aus, dass die angegriffene Entscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit verletze.
Das Oberlandesgericht habe die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin anhand eines fiktiven Einkommens verfassungsrechtlich nicht tragfähig begründet. Insbesondere habe es nicht nachvollziehbar dargelegt, worauf es seine Annahme stütze, die Beschwerdeführerin könne bei ausreichenden, ihr zumutbaren Bemühungen ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen.
a) Die Auferlegung von Unterhaltsleistungen schränke den Verpflichteten in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Handlungsfreiheit ein. Diese sei jedoch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet, zu der auch das Unterhaltsrecht gehöre, soweit dieses mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang stehe. Der ausgeurteilte Unterhalt dürfe allerdings nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Unterhaltspflichtigen führen.
Werde die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, sei die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und könne vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen.
aa) Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht sei § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig sei, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande sei, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befänden, sei nach § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden.
Aus dieser in Art. 6 Abs. 2 GG wurzelnden fachrechtlichen Vorschrift folge die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz ihrer Arbeitskraft. Verfassungsrechtlich sei dabei nicht zu beanstanden, dass bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht allein auf das tatsächliche Vermögen und Einkommen des Verpflichteten, sondern auch auf dessen Arbeits- und Erwerbsfähigkeit abgestellt werde und demzufolge dem Unterhaltsschuldner ein fiktives Einkommen zugerechnet werde, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlasse, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Die Leistungsfähigkeit eines Unterhaltspflichtigen werde damit nicht ausschließlich durch sein tatsächlich vorhandenes Einkommen bestimmt, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine Erwerbsmöglichkeiten.
bb) Gleichwohl bleibe Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten.
Das Unterhaltsrecht ermögliche es insofern den Gerichten, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit dürfe von Unterhaltspflichtigen nach § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Die Gerichte hätten im Einzelfall zu prüfen, ob Unterhaltspflichtige in der Lage seien, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen, oder ob dieser ihre finanzielle Leistungsfähigkeit übersteige.
cc) Fachrechtlich setze ‒ im Einklang mit dem Verfassungsrecht ‒ die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, zweierlei voraus. Zum einen müsse feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlten. Zum anderen müssten die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhänge (vgl. BGH, Urt. v. 30.7.2008 – XII ZR 126/06, Rn 22; Urt. v. 3.12.2008 – XII ZR 182/06, Rn 21). Fehle es daran und werde die Erwirtschaftung eines Einkommens abverlangt, welches objektiv nicht erzielt werden könne, liege regelmäßig ein unverhältnismäßiger Eingriff in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit vor.
dd) Bei der Anwendung von § 1603 BGB könnten die Fachgerichte allerdings verfassungsrechtlich bedenkenfrei davon ausgehen, dass die Darlegungs- und Beweislast für die Leistungsunfähigkeit zunächst den Verpflichteten treffe. Das gelte grundsätzlich für sämtliche Umstände, die zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen könnten. Dementsprechend müsse derjenige, der sich gegenüber seiner Erwerbsobliegenheit auf eine krankheitsbedingte Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit berufen wolle, grundsätzlich Art und Umfang der behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Leiden angeben, und er habe ferner darzulegen, inwieweit die behaupteten gesundheitlichen Störungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirkten (vgl. BGH, Beschl. v. 10.7.2013 – XII ZB 297/12, juris, Rn 13; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 4.5.2017 – 18 WF 33/16, FamRZ 2017, 1575). Habe der Unterhaltspflichtige allerdings ausreichend substantiiert konkrete Umstände vorgetragen, die eine Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit ergeben könnten, sei die Gerichte im Rahmen der gebotenen Zumutbarkeitsprüfung gehalten, ein fiktives Einkommen ausgehend von den vorgetragenen Umständen realitätsgerecht festzustellen und zu begründen.
ee) Stütze sich die Verurteilung des Unterhaltspflichtigen nach den vorgenannten materiellen und prozessualen Maßgaben auf fiktives Einkommen, steigere dies typischerweise die Intensität des Eingriffs in das betroffene Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Während das Unterhaltsrecht in der Regel die Berufsentscheidung derjenigen akzeptiere, die Unterhalt schulden, mitsamt der sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Höhe des zumutbar zu leistenden Unterhalts, gehe mit der Heranziehung fiktiver Einkünfte die Gefahr einher, die tatsächliche Leistungsfähigkeit zu überspannen und Unmögliches von ihm zu verlangen. Angesichts dessen und der an der Intensität des Grundrechtseingriffs ausgerichteten verfassungsgerichtlichen Prüfung seien die Fachgerichte insoweit von Verfassungs wegen gehalten, ihre Entscheidungsgrundlagen bei der Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt auf fiktiver Basis offenzulegen und somit deren Überprüfung zu ermöglichen. Andernfalls wäre nicht kontrollierbar, ob sie in vertretbarer Weise von einer objektiven Möglichkeit hinreichender Einkommenserzielung ausgegangen und ihnen keine Auslegungsfehler unterlaufen seien, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beruhten. Entsprechende Anforderungen würde wegen des erhöhten Eingriffsgewichts einer Verpflichtung zur Unterhaltszahlung auf der Grundlage fiktiven Einkommens auch für die fachgerichtliche Beurteilung gelten, ob die unterhaltspflichtige Person ihrer Darlegungs- und gegebenenfalls Beweislast zur Einschränkung oder Aufhebung der Leistungsfähigkeit nachgekommen sei.
b) Diesen Anforderungen genüge nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das die Beschwerdeführerin unter Rückgriff auf fiktive Einkünfte zur Leistung von Unterhalt verpflichtet, ohne die objektive Möglichkeit zur Erzielung eines hierfür erforderlichen Einkommens zu erörtern, nicht.
aa) Zwar habe das Oberlandesgericht noch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise begründet, dass die Beschwerdeführerin nicht hinreichend dargelegt habe, sich um eine Erwerbstätigkeit in ihrem erlernten Beruf oder in einer anderen Position zu bemühen. Dabei sei es vertretbar davon ausgegangen, dass sie nicht hinreichend dargetan habe, krankheitsbedingt an entsprechenden Bemühungen gehindert zu sein.
bb) Das Oberlandesgericht begründe nicht in einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Weise, dass die Beschwerdeführerin ihrer Darlegungslast insoweit nicht nachgekommen sei, als sie eine krankheitsbedingte Einschränkung ihrer Erwerbsfähigkeit geltend gemacht habe, die das Erzielen eines Einkommens in der zur Begleichung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe objektiv ausschließe. Wegen der ungenügenden Begründung zur Nichterfüllung der Darlegungslast hielte die Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Unterhaltszahlung verfassungsrechtlicher Prüfung lediglich dann stand, wenn das Oberlandesgericht tragfähig die objektive Möglichkeit der Beschwerdeführerin dargelegt hätte, das für den titulierten Unterhaltsanspruch erforderliche Einkommen erzielen zu können. Daran fehle es jedoch.
(1) Die Beschwerdeführerin habe im fachgerichtlichen Verfahren gestützt auf eine Bescheinigung der sie behandelnden Fachärztin vorgetragen, krankheitsbedingt lediglich vier Stunden an vier Werktagen, also 16 Wochenstunden, erwerbstätig sein zu können.
Die Erwägung des Oberlandesgerichts, die darin liegende Behauptung zeitlich begrenzter Erwerbsfähigkeit könne sich nicht auf die fachärztliche Einschätzung stützen, weil die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben aktuell im Umfang von 20 Wochenstunden arbeite, genüge nicht als Begründung dafür, dass die Beschwerdeführerin nicht ausreichend substantiiert zu Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit vorgetragen habe. Denn sie hätte ebenfalls unter Berufung auf die fachärztliche Einschätzung geltend gemacht, ihre Erkrankung würde mit einer Neigung zur Überschätzung der eigenen Belastbarkeit einhergehen, und weiter vorgebracht, im Fall der Überforderung drohe eine akute Verschlechterung des vorhandenen Krankheitsbildes. Der Begründung der angegriffenen Entscheidung lasse sich nicht entnehmen, dass sich das Oberlandesgericht mit diesem konkreten, für den Umfang der Erwerbsfähigkeit und damit für die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bedeutsamen Vortrag auseinandergesetzt habe. Damit fehle eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung dafür, unzureichende Darlegungen der Beschwerdeführerin zu ihrer eingeschränkten Leistungsfähigkeit anzunehmen.
(2) Die objektive Möglichkeit für die Beschwerdeführerin, bei Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Umfang von 48 Wochenstunden tatsächlich Einkommen in einer zur Bedienung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen zu können, sei nicht in einer verfassungsrechtlicher Prüfung standhaltenden Weise festgestellt.
(a) Dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts lasse sich bereits nicht entnehmen, in welcher Höhe die Beschwerdeführerin Einkommen erzielen müsse, um für den titulierten Unterhalt leistungsfähig zu sein. Eine Kalkulation stelle das Gericht weder zu der für Kindesunterhalt für zwei Kinder erforderlichen Höhe des Einkommens noch zur Höhe des für die Beschwerdeführerin objektiv möglichen Einkommens an.
Obwohl die Beteiligten des Ausgangsverfahrens übereinstimmend vorgetragen hätte, dass die Beschwerdeführerin Mutter eines zweiten minderjährigen Kindes ist, gehe das Oberlandesgericht nicht darauf ein, ob und wie sich die nach § 1609 Nr. 1 BGB gleichrangige Unterhaltsberechtigung beider minderjähriger Kinder auf die Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Zahlung vollen Unterhalts angesichts ihres zu wahrenden Selbstbehalts auswirke. Möglicherweise habe das Oberlandesgericht trotz des insoweit unstreitigen Beteiligtenvorbringens die Existenz des zweiten Kindes der Beschwerdeführerin bei der Beschlussfassung übersehen.
(b) Die angegriffene Entscheidung enthalte zudem keine tragfähige Feststellung dazu, worauf das Oberlandesgericht seine Auffassung stütze, dass die Beschwerdeführerin bei Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer ihrer persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wäre, ein Einkommen in der erforderlichen Höhe zur Leistung des titulierten Unterhalts zu erzielen. Auf die persönlichen Voraussetzungen, wie beispielsweise Alter, berufliche Qualifikation, Erwerbsbiographie und das Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen, gehe es trotz entsprechenden Vortrags nicht ernsthaft ein. Es beschränkt sich auf den Hinweis, die Beschwerdeführerin könne 48 Wochenstunden als Floristin arbeiten, ohne sich mit deren zahlreich vorgebrachten Bedenken hinsichtlich des durchschnittlich und maximal zu erwartenden Lohnes sowie ihrer lückenhaften Erwerbsbiographie auseinanderzusetzen. Die Ausführungen ließen nicht erkennen, ob sich das Oberlandesgericht der Anspruchsvoraussetzung einer objektiven Erzielbarkeit der erforderlichen Einkünfte bewusst war.
2. Daher ist das Verfassungsgericht der Auffassung, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts auf dem Verfassungsverstoß beruhe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es bei der gebotenen umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls von einer Verpflichtung zur Leistung von Kindesunterhalt in der beschlossenen Höhe abgesehen hätte.
III. Der Praxistipp
Nach meiner Erfahrung lässt sich in der Praxis feststellen, dass die Zurechnung fiktiver Einkünfte erstinstanzlich im Wesentlichen von der persönlichen Bewertung des (Fach) Gerichts abhängt. Allerdings scheint die Tendenz dahin zu gehen, dass die Annahme fiktiver Einkünfte auch im Rahmen der Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem minderjährigen Kind eher zurückhaltend erfolgt. Nichtsdestotrotz begegnet es dem Praktiker immer wieder, dass – jedenfalls einzelne – Familienrichter mit nur pauschalem Hinweis auf § 1603 Abs. 1 BGB im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners fiktive Einkünfte ausgehend von einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden annehmen.
Der an dieser Stelle dargestellte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11.2020 bietet nicht nur wertvolle Argumentationshilfen für den Praktiker, um dem – oftmals pauschalen – Hinweis auf § 1603 Abs. 1 BGB und der damit einhergehende Anrechnung fiktiver Einkünfte im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners entgegenzutreten, sondern stellt darüber hinaus im Einzelnen dar, welchen Inhalt der konkrete Vortrag des Unterhaltsschuldners haben muss. Die diesbezügliche Darlegungs- und Beweislast trifft selbstverständlich den leistungsunfähigen Unterhaltsschuldner. Dieser muss sämtliche Umstände, die zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen können, vortragen, insbesondere also krankheitsbedingte Einschränkungen seiner Erwerbsfähigkeit, aber auch persönliche Voraussetzungen, wie beispielsweise Alter, berufliche Qualifikation, Erwerbsbiografie, das Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen, zu erzielende Vergütung usw.
Darüber hinaus enthält der dargestellte Beschluss detaillierte Angaben zu den Anforderungen, welche an die gerichtliche Begründung der Berücksichtigung fiktiver Einkünfte im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners zu stellen sind. Anhand dieser Ausführungen kann gegebenenfalls eine mögliche Beschwerde gegen eine erstinstanzliche Entscheidung gut begründet werden.
Auf die Anmerkungen von Walther Siede in FamRZ 2021, 277 wird hingewiesen und Bezug genommen.